Geraubte SeelenKinderehe, Missbrauch und Gewalt sind in Papua-Neuguinea für viele Mädchen bittere Realität. Auch Elenors Kindheit endet abrupt. Ein Freund der Familie missbraucht sie. Doch mit Hilfe von Schwester Thecla fasst sie neuen Lebensmut. |
Text: Bettina Tiburzy; Fotos: Hartmut Schwarzbach
Sanft branden die Wellen ans Ufer. Glasklares Wasser glitzert verführerisch im Sonnenlicht. Am Ufer sitzt Elenor und blickt auf das Meer. Palmen werfen Schatten auf ihr Gesicht. Sie sieht die Wellen nicht. Die 19-Jährige schaut in die Vergangenheit. Zurück zu dem Tag, an dem sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. An das Meer kommt Elenor, wenn dunkle Gedanken sie zu überwältigen drohen. Doch sie hat gelernt, damit umzugehen. Das war nicht einfach. Sie brauchte Hilfe.
Nur wenige Meter vom Meer stehen Holzhäuser und ein traditioneller Pfahlbau mit Blätterdach am Ufer, umgeben von Blumen in Rot und Orange. Vögel zwitschern, sanft wiegen sich Bäume im Wind. Hier in Alexishafen haben die einheimischen St.-Therese-Schwestern eine Niederlassung. Die Ordensfrauen kümmern sich besonders um Frauen und Familien. Mit ihrer grauen Ordenstracht und weißen Haube wirkt Schwester Thecla Gamog auf den ersten Blick ernst. Doch mit ihrem ansteckenden Lachen gewinnt sie schnell die Herzen der Menschen. Eigentlich ist sie die Schatzmeisterin ihrer lokalen Gemeinschaft. Als aber immer öfter Frauen Hilfe und Schutz bei den Ordensfrauen suchten, packte Schwester Thecla mit an. Besonders die schwierigen Fälle lagen ihr. So wie der von Elenor.
Schwerer Schicksalsschlag
Eigentlich hatte Elenor eine glückliche Kindheit. Sie lebte mit ihrer Familie in der Küstenstadt Madang, nicht weit von Alexishafen entfernt. Elenors Vater, ein Filipino, hatte dort Arbeit gefunden. Er sorgte gut für die Familie. Seine Töchter gingen zur Schule, was in dem Inselstaat längst nicht selbstverständlich ist. Als Elenor elf Jahre alt ist, stirbt ihr Vater – ihre Welt bricht zusammen. Elenors Mutter muss mit ihren acht Kindern raus aus ihrem Haus, findet nur unter dem Pfahlbau eines Verwandten Unterschlupf. Es sind harte Jahre. Oft reicht das Geld nicht für das Essen. Mit vierzehn trifft sich Elenor häufig mit einem Mann aus der Nachbarschaft. „Ich kannte ihn gut. Er war ein Freund der Familie und Familienvater“, sagt Elenor. Er macht ihr Geschenke, gibt ihr Geld. Womit sie die Familie unterstützt. Doch bald ist ihr klar, der Mann will nicht nur nett sein. „Er sagte, ich müsse jetzt auch mal was für ihn tun“, berichtet sie. Drei Monate später ist sie schwanger. Elenor ist verzweifelt: „Ich dachte, ich bin doch selbst noch ein Kind. Und jetzt trage ich ein Kind in mir.“ Ihre Mutter ist außer sich, macht ihr schwere Vorwürfe und stellt den Nachbarn zur Rede. Der verlangt, das Kind abzutreiben. Doch Elenors Mutter sagt, ein unschuldiges Leben zu zerstören, komme nicht in Frage. Nach nur acht Monaten Schwangerschaft bringt Elenor eine Tochter zur Welt. Sie nennt sie Marie-Therese. Doch Elenor kann sich nicht freuen. „Ich schämte mich so sehr.“ Die Schande für die Familie ist groß. Verwandte wenden sich ab. Die Familie des Kindsvaters beschimpft Elenor. Er bestreitet, der Vater zu sein. Als sich dann auch ihre Mutter abwendet, weiß Elenor nicht weiter. Sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Nachbarn finden Elenor und bringen sie ins Krankenhaus.
Ältere Männer, die jungen Frauen und minderjährigen Mädchen nachsteigen, ihnen Geschenke machen und dafür Sex verlangen, nennt man in Papua-Neuguinea „Sugar Daddys“, Zucker Pappis. Oft nutzen sie die Notlage von Mädchen aus, deren Familien zerbrochen sind. „Elenor war die Zweitälteste. Sie fühlte sich verantwortlich für die jüngeren Geschwister“, erklärt Schwester Thecla. „Sie brauchten Kleider, Essen und Schulgeld. Woher das Geld kam, mit dem Elenor die Familie unterstützte, hat ihre Mutter nie hinterfragt.“
Heirat mit 14 Jahren
Als „Besty Babe“ vierzehn Jahre alt war, gab es in ihrem Leben keine Schwester Thecla. Arme, Hals und Gesicht der heute 41-Jährigen sind gezeichnet von Narben. Bestys Stimme klingt tief und rauchig, als sie Schwester Thecla begrüßt. Die beiden kennen sich. Die St.-Therese-Schwestern machen regelmäßig HIV-Aufklärung mit den Prostituierten in Madang. Besty ist deren Sprecherin. Eigentlich heißt Besty „Annie Thomas“ und stammt aus dem Hochland Neuguineas. Mit vierzehn verheiratete ihr Vater sie mit einem „Big Man“. So nennt man hier Männer, die in ihrer Gemeinschaft angesehene Führer sind. Der sehr viel ältere Mann hatte sich gerade von seiner Frau getrennt. Annies Vater erhielt von ihm einen Brautpreis. Bald bekam Annie einen Sohn. Doch ihr Mann unterhielt immer noch eine Beziehung zu seiner früheren Frau. „Ich sah die beiden zusammen“, berichtet sie. „Ich war wütend, es kam zum Streit.“ Als der Mann ihr in den Arm biss, stach sie zu. Vor Gericht wurde Annie freigesprochen, weil sie noch ein Teenager war. Zu ihrem Mann wollte Annie nicht zurück. Ihr Sohn kam zur Familie des Big Man. Sie sah ihn nie wieder.
Papua-Neuguinea hat die höchste Gewaltrate im pazifischen und ostasiatischen Raum. Dreiviertel der Kinder und Zweidrittel der Frauen geben an, Opfer von Gewalt in der Familie geworden zu sein. In vielen Regionen des traditionell geprägten Landes werden Frauen eher als Eigentum denn als Partner angesehen. Kinderehen, häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch sind weit verbreitet. Auch Annies zweite Ehe hielt nicht. Nach der Geburt einer Tochter war Annie unfruchtbar. Ihre Schwiegermutter verstieß Annie und ihr Kind. Heute lebt das Mädchen bei Annies Eltern. Aus Annie wurde die in Madang stadtbekannte Prostituierte Besty Babe.
„Beautiful Madang“, wunderschönes Madang, so wird die 27.000-Einwohner-Stadt gerne genannt. Sie liegt auf einer Halbinsel, umgeben von kleinen Inseln. Üppiges Grün, Palmen gesäumte Ufer, hoch aufragende Kasuarinen, Schatten spendende Regenbäume, Wasserlilien in Teichen – eine Postkartenidylle. Kein Wunder, dass die Stadt als die schönste Papua-Neuguineas gilt. Doch das Paradies hat Schattenseiten. „Die Prostitution in Madang nimmt zu“, erklärt Schwester Thecla. „Viele Arbeiter, besonders Asiaten, kommen wegen der Ramu-Nickel-Mine und der Fischfabrik in die Küstenregion.“ Auch Einheimische suchen hier Arbeit. Darunter auch Frauen, die aus ihrer Familie oder Dorfgemeinschaft ausgestoßen worden sind. „Sie hoffen auf ein besseres Leben in Madang“, sagt Schwester Thecla. „Doch oft enden sie wie Besty in der Prostitution.“
Sex für Fisch
Längst hat auch der beschauliche Küstenort Alexishafen seine Unschuld verloren. Im Hafen ankern riesige Stahlkolosse, an den Masten Flaggen der Philippinen und Papua-Neuguineas. Den Schiffen nähern sich winzige Einbäume, beladen mit Bananen, Kokosnüssen und Süßkartoffeln. In den Booten Frauen und Kinder, die geschickt an den meterhohen Schiffsflanken entlang paddeln. Sie tauschen Obst und Gemüse mit der Besatzung gegen Hochseethunfisch. Den verkaufen die Frauen dann auf dem Markt. Nachts findet an den Schiffen hingegen ein anderer Tauschhandel statt. „Sex für Fisch“, nennen das die Einheimischen. „Junge Frauen paddeln zu den Schiffen und erhalten für ihre sexuellen Dienste von der Besatzung Fisch“, sagt Schwester Thecla. Empörte Mütter aus Alexishafen berichten, dass selbst Mädchen im Alter zwischen acht und zehn Jahren zu den Fangschiffen geschickt werden. Eigentlich liefern die Schiffe den Nachschub für die philippinische Thunfischfabrik RD Tuna nahe Alexishafen. Die Regierung Papua-Neuguineas plant gerade, gemeinsam mit der Weltbank, in China und Japan zehn neue Thunfischfabriken. Die Menschen auf den umliegenden Inseln klagen heute schon über immer weniger Fische in ihren Netzen. Motorenlärm, durch Anker zerstörter Meeresboden und Öl verschmutztes Wasser vertrieben die Fische, berichten sie. „Unsere große Sorge ist, dass die Probleme weiter verstärkt werden. Schon jetzt sehen wir, dass HIV und Aids zunehmen“, sagt Schwester Thecla. Damit Frauen ein zusätzliches Einkommen erwirtschaften können, haben die Schwestern in 16 Dörfern Backöfen errichtet. Und den Frauen gezeigt, wie man Brot bäckt. „Die Frauen verkaufen das Brot und haben ein kleines, regelmäßiges Einkommen“, erklärt Schwester Thecla. „Mit dem Geld können sie ihre Kinder zur Schule schicken. Die Arbeit stärkt ihr Selbstbewusstsein.“
Auch Elenor half Schwester Thecla zu neuem Selbstbewusstsein. Aus dem Krankenhaus entlassen, stand die Fünfzehnjährige mit ihrer sechs Monate alten Tochter ganz alleine da. Mit Hilfe einer Nachbarin kam sie zu den Ordensfrauen. „Eigentlich hatten wir gar keinen Platz“, berichtet Schwester Thecla. Doch die Schwestern nehmen die beiden trotzdem auf. Die folgenden zehn Monate steht Schwester Thecla Elenor zur Seite. Elenor macht eine Therapie, um die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Ihren ersten Geburtstag feiert die kleine Marie-Therese im Kreis der Schwestern. Schließlich kann Schwester Thecla Elenor wieder mit ihrer Familie versöhnen. Marie-Therese lebt heute in der Familie eines Onkels und Elenor besucht sie regelmäßig. Mit Hilfe von missio möchte Schwester Thecla jetzt in Alexishafen ein Zentrum für Frauen bauen. Schutz suchende Frauen und Kinder sollen dort Unterschlupf finden. Traumatisierte Mädchen und Frauen können psychologische Hilfe erhalten. „Jede Frau, die in unser Haus kommt, ist einzigartig in Gottes Augen“, sagt Schwester Thecla. „Wir wollen ihnen helfen, ihren persönlichen Wert als Gottes Kinder schätzen zu lernen.“
Elenor sitzt noch immer am Ufer und blickt auf das Meer. Doch die Schatten ihrer Vergangenheit haben sich zurückgezogen. Sie beobachtet Kinder, die vom Stamm einer umgeknickten Palme unter lautem Gejohle ins türkisfarbene Wasser springen. Da breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie hat gelernt, das Leben wieder anzunehmen und schmiedet Pläne für die Zukunft. „Ich möchte meinen Schulabschluss machen und danach als Freiwillige eine Organisation unterstützen, die mit jungen Mädchen arbeitet“, sagt sie. „Ich möchte ihnen meine Lebensgeschichte erzählen. Damit ihnen mein Schicksal erspart bleibt.
Download der Reportage "Geraubte Seelen" als pdf-Datei
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Zurück zur Übersichtsseite Nachrichten aus 2012
Großer Fang: Nicht alle profitieren von den Fischbeständen im Meer. Gegen die Fangflotten haben Einheimische keine Chance.
Alltag: Die Analphabetenrate liegt in Papua bei etwa 40 Prozent. Viele müssen mit kleinem Handel und Subsistenzwirtschaft ihr Überleben sichern.
Abwechslungsreich: Farbenfroh und vielseitig ist das Angebot an Speisen, das frisch zubereitet am Straßenrand auf hungrige Passanten wartet.
Gut aufgehoben: Schwester Thecla hat Elenor unter ihre Fittiche genommen.
Besty Babe: Niemand schützte sie als junges Mädchen.
Nachtclub: Die Prostitution in der Stadt nimmt zu.
Kleines Einkommen: Selbst gebackenes Brot bringt Geld und Selbstbewusstsein.
Geschafft: Schwester Thecla hat Elenor wieder Lebensmut und Perspektive gegeben.
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