Die Geigenkinder im HimalayaSie leben in Lehmhütten und werden seit Generationen von Großgrundbesitzern ausgebeutet.Die Familien am Rande des Himalaya-Gebirges gehören zu den Ärmsten. Seit es die Gandhi-Ashram-Schule gibt, haben ihre Kinder eine Chance auf ein besseres Leben. |
Text: Verena Vierhaus; Fotos: David Sünderhauf
Mit einem Handgriff klemmt sie die Geige unter das Kinn und setzt den Bogen an. Zaghaft lässt sie ihn über die Saiten gleiten. Am Rande des Himalaya-Gebirges ertönt die Melodie des Kinderliedes „Morgen kommt der Weihnachtsmann“. Aufrecht sitzt Suprya auf den Stufen vor ihrer Hütte, mit den löchrigen Gummilatschen klopft sie den Takt auf den Lehmboden. Suprya ist zehn Jahre alt. Dort, wo man den schneebedeckten Gipfel des 8586 Meter hohen Kangchenjunga zwischen denWolken herausragen sieht, lebt sie mit ihrer Familie. „Schon wieder den falschen Ton getroffen“, seufzt sie und setzt den Bogen erneut an. „Für das Schulkonzert musst du wohl noch etwas üben“,meint die Mutter schmunzelnd.
Mit ihren Eltern, den zwei kleinen Schwestern und der Großmutter wohnt Suprya am Rande einer Dorfsiedlung in der Nähe von Kalimpong. Mit seinen 40.000 Einwohnern gehört Kalimpong zu den größeren Städten im indischen Bundesstaat Westbengalen. Vor der Hütte der Familie jagen Hunde den Hühnern hinterher. Aus einem Bretterverschlag quieken zwei Schweine. Mit Stücken aus Wellblech hat der Vater das Dach der Hütte abgedeckt und die Löcher mit Zweigen geflickt. Bei Regen sickert das Wasser durch die Ritzen und saugt sich in die bröckeligen Lehmwände. Wenn im Himalaya-Gebirge der Winter einkehrt, wird es in der Behausung so kalt, dass der Atem kleine Wolken bildet. „Dann kuschele ich mich nachts ganz dicht an die Großmutter“, erzählt Suprya. Mit der Großmutter teilt sie sich eine Holzpritsche als Bett.
Das Grundstück gehört einem Großgrundbesitzer. Ihm muss die Familie jeden Monat Pacht bezahlen, für ihn arbeiten und das Grundstück pflegen. Schon seit Generationen steht die Familie in diesem Abhängigkeitsverhältnis und das Geld, das der Vater als Tagelöhner verdient, reicht kaum aus. Doch seit vier Jahren hat Suprya eine Chance auf ein besseres Leben. Denn seitdem geht sie auf die katholische Gandhi Ashram-Schule.
Eine besondere Schule
Im Jahr 1993 von Pater Edward McGuire, einem irisch-kanadischen Missionar gegründet, soll die Schule den Ärmsten der Armen eine bessere Zukunft ermöglichen. Dort bekommen die Kinder, was ihre Eltern ihnen nur unzureichend geben können: Bildung und Essen. Doch nicht nur das. Sie lernen auch, was sonst Kindern aus reicheren Familien vorbehalten ist: Geige spielen. Als der Schulgründer beobachtete, mit welcher Hingabe und Faszination die Kinder einem Violinkonzert lauschten, erwarb er Geigen für die Schule und machte die Musik zum wesentlichen Bestandteil des Unterrichts. „In einem Alltag, der von Armut und Verzweiflung geprägt ist, gibt die Musik den Kindern das Gefühl, etwas wert zu sein“, erklärt Pater Paul D’Souza. Seit fünf Jahren leitet der Jesuit mit dem Vollbart und den dunklen gutmütigen Augen die Schule. Von der ersten Klasse an lernen die 300 Kinder in der Gandhi Ashram Schule ein Streichinstrument. Anfangs noch fast zu klein, um die Geige zu halten, beherrschen sie schnell die ersten Griffe. Sie spielen sowohl klassische europäische als auch traditionelle indische und nepalesische Musik. „Der Einfluss der Musik auf die Entwicklung der Kinder ist enorm. Sie fördert die Konzentration und stärkt das Selbstbewusstsein“, erklärt Pater Paul. Sein Ziel ist es, die Kinder zu toleranten, mitfühlenden und verantwortungsvollen Persönlichkeiten zu machen. „Die Kinder sollen merken, dass sie etwas Besonderes sind, egal welcher Schicht sie angehören“, sagt der 47-Jährige. Denn das hierarchische Kastensystem, das Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Kaste als minderwertig oder gar „unberührbar“ brandmarkt, ist in Indien weit verbreitet. Insbesondere Frauen und Männer aus niederen Kasten werden diskriminiert, misshandelt und ausgebeutet. „Bei uns lernen die Kinder, dass vor Gott alle Menschen gleich sind“, sagt Pater Paul. Während er spricht, dringt aus dem unteren Stockwerk des Schulgebäudes Gequietsche. „Die erste Klasse übt für das Schulkonzert“, erklärt Pater Paul und zwinkert. Doch aus den schiefen Tönen werden im Laufe der Jahre harmonische Melodien. So spielt das Jugendorchester Vivaldi und Telemann und wird zu Konzerten nach Kalkutta, Delhi oder sogar nach Japan, Deutschland oder in die Schweiz eingeladen.
Die Schule ist in Gefahr
Jeden Morgen wuseln die Schüler auf dem Sportplatz herum. Schon vor sechs Uhr morgens, wenn es dämmert, erreichen die ersten die Schule. Dort erhalten sie täglich zwei warme Mahlzeiten, ein Frühstück und ein Mittagessen. „Die Gandhi Ashram Schule ist mehr als eine Schule, sie ist ein Zuhause“, sagt Pater Paul. Mit ihren Tellern hocken die Kinder in Gruppen zusammen und schlürfen Haferbrei. „Gute Milch zu bekommen ist hier gar nicht so einfach“, erzählt Pater Paul. Ein Teil der Milch, aus der der Haferbrei gemacht wird, stammt von der Schulkuh Milly. Die melkt der Priester jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe. „Sie lässt sich nur von mir und einem Mitbruder melken“, sagt er und die Lachfalten kräuseln sich um seine Mundwinkel. Für seine Schützlinge nimmt er einiges in Kauf, auch den frühen Melkeinsatz. „Die neun Liter, die Milly jeden Tag gibt, sind sehr kostbar“, erzählt er. Selbst mit neun Geschwistern unter einfachen Bedingungen aufgewachsen weiß er, was es heißt, in Armut zu leben und die kleinen Dinge zu schätzen.
„Leena, beeil dich mit dem Essen“, ruft er einem kleinen Mädchen zu, das verträumt in seinem Haferbrei rührt, während die anderen schon herumtollen und Fangen spielen. „Bei ihr muss man darauf achten, dass sie genug isst“, erklärt der aufmerksame Mann, der sich immer Zeit für die Kinder nimmt. Die, die fertig gegessen haben, bringen ihren Teller zur Wasserstelle und spülen ihn ab. Nach und nach stapeln sich 300 Teller neben dem Becken. Die Kleinen schnappen sich Reisigbesen und beginnen den Schulhof zu säubern. Vergnügt stürzen sie sich auf die herunterfallenden Blätter, um sie beiseite zu kehren. Wenig später versammeln sich alle Schüler in der Aula zum Morgengebet. Die Hände gefaltet, die Augen geschlossen, beten sie das Vaterunser. Danach beginnt der Unterricht. „Der höchste Berg der Welt“ ist heute das Thema in Supryas Klasse. Aufmerksam schauen sich die Viertklässler Bilder des Mount Everest in ihren Schulbüchern an. Aus einer verbeulten Blechdose holt Suprya einen Stift und kritzelt Notizen in ihr Heft. Der Lehrerunterrichtet auf Englisch, aber auch die Muttersprache Nepali sowie Mathematik, Religion, Natur- und Sozialwissenschaft stehen auf dem Stundenplan. Doch die Schule ist in Gefahr. Risse durchtrennen den Sportplatz und die Wände der Klassenzimmer.Durch den Monsunregen gibt es jedes Jahr Erdrutsche, und auch die in den Hang gebaute Schule ist für den Regen kein Hindernis. In Bächen läuft er ins Tal hinunter und lässt die Gebäude weiter absacken. „Wir brauchen eine Schule, in der die Kinder sicher sind“, sagt Pater Paul. Mit Hilfe von missio konnte er bereits ein neues Grundstück kaufen, das in einer Ebene ohne steile Abhänge liegt. Doch der Bau der neuen Schule muss noch finanziert werden.
Den Kreislauf der Armut durchbrechen
Wenn die Kinder die letzte Schulstunde hinter sich haben, machen sie sich nachmittags auf den Heimweg. Trotz der kaputten Sandalen huscht Suprya geschickt über Stock und Stein. Behutsam bugsiert sie den Geigenkasten zwischen herunterhängenden Ästen hindurch. Ein Trampelpfad führt vorbei an Reisfeldern, die treppenartig in den Berghang gebaut sind. Stromkabel hängen kreuz und quer und sind von einem Ast zum nächsten gespannt. Nach der Schule unterstützt Suprya ihre Mutter bei derHausarbeit.Mit den tauben Händen kann die Mutter nur wenig Arbeit verrichten. Tagsüber schneidet die 32-Jährige Gras für die Tiere, abends spürt sie ihre Hände kaum noch. Suprya hilft, wo sie kann. Während die kleine Schwester mit einer Barbiepuppe spielt, der ständig die Arme abfallen, schnappt sich das pflichtbewusste Mädchen die dreckige Wäsche und beginnt, sie einzuseifen.
Für Pater Paul spielt die Betreuung der gesamten Familie eine wichtige Rolle. „Meine Aufgabe endet nicht, wenn die Kinder nach Hause gehen“, erklärt er. Regelmäßig besucht er seine Schüler und ihre Familien zu Hause. So auch an diesem Nachmittag. Er setzt sich zu Supryas Eltern und erklärt, wie wichtig es ist, die Kinder bei den Hausaufgaben zu unterstützen. „Auch wenn sie selbst nicht lesen und schreiben können, reicht es schon, wenn sie sich Zeit nehmen und zu den Kindern setzen“, sagt Pater Paul. Dass die Kinder eine gute Schulbildung erhalten, ist für ihn das Wichtigste. „Nur so können wir die Ausbeuterei stoppen und den Kreislauf der Armut durchbrechen.“ Es macht ihn stolz zu sehen, dass Kinder wie Suprya hoch motiviert sind und Fortschritte machen. „Mein Traum ist es, Musikerin oder Ärztin zu werden“, erzählt Suprya. „Ich wäre schon zufrieden, wenn sie es schafft, Krankenschwester zu werden“, sagt Pater Paul leise und lächelt Suprya an.
Erfolgsgeschichten machen Mut
Doch es gibt durchaus Erfolgsgeschichten, die den Familien Mut machen. Zum Beispiel die von Kushmita. Als Kind ging die heute 20-Jährige auf die Gandhi Ashram Schule. Durch ihr besonderes Talent gelang ihr die Aufnahme amKonservatorium in München. Letztes Jahr hat sie das Vordiplom mit der Note 1,5 bestanden. Andere ehemalige Schüler bekamen Stipendien für weiterführende Schulen, weitere arbeiten als Kellner in großen Hotelketten. Erfolgsgeschichten wie diese motivieren die Kinder zum Lernen und Geigeüben. So auch Suprya, die fleißig für das Schulkonzert probt. Das Konzert ist ein besonderes Ereignis. In der Aula haben sich die Eltern versammelt und warten darauf, dass der rote Samtvorhang zur Seite gezogen wird. Dann ist es soweit. Das Konzert beginnt mit einem traditionellen Tanz. Die Mädchen tragen nepalesische Tracht. Vor den Himalaya-Bergen, die auf die Wände der Aula gemalt sind, tanzen sie zu dem Nepali-Lied „Ich bin in den Bergen geboren worden, ich bin eine Tochter der Berge“. Danach kommt das Orchester auf die Bühne. Suprya sitzt in der ersten Reihe. Auf ihrer Stirn sind tiefe Falten. Konzentriert schaut sie auf die Bewegungen ihrer Finger und setzt den Bogen an. Im Klang von „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ versinkt die Welt um sie herum. Ängste und Sorgen sind für einen Moment ganz klein.
Download der Reportage "Die Geigenkinder im Himalaya" als pdf-Datei
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Schulweg: Die meisten Schüler haben einen weiten Weg durch Hügel, Wald und Wiesen.
Gefährlich: Risse durchziehen Schulhof und Schule.
Bestärkend: Den Morgen beginnen die Schüler mit dem gemeinsamen Gebet des Vaterunser.
Marode: Die alte Schule am rutschigen Berghang ist nicht mehr sicher.
Hausbesuch: Pater Paul besucht die Familien seiner Schüler regelmäßig zu Hause. Er gibt ihnen Rat und Hilfe.
Haushalt: Nach der Schule hilft Suprya zu Hause.
Eifrige Schüler: Suprya (li.) und ihr Mitschüler.
Fürsorglich: Pater Paul mit Suprya.
Großer Auftritt:Beim Schulkonzert werden auch Tänze aufgeführt.
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