Grünes GeleitIm Friedwald auf dem Schwanberg begleiten evangelische Ordensschwestern Menschen auf ihrem letzten Weg.
Ihre Seelsorge geht über das Begräbnis hinaus. |
Text: Christina Brunner
Fotos: Michael Englert
An diesem sonnigen letzten Oktobertag wartet der Wald auf eine alte Frau. Sie kommt zu- sammen mit ihrem Ehemann und ihrer großen Familie. Schwester Hildegard fährt sie im Elek- tromobil zu dem Baum, den sie in guten Zeiten für sich entdeckt hat. Zu Füßen einer dicken Buche hat ihre Urne Platz.
Die Bäume auf dem Schwanberg unweit von Würzburg gehören seit 2007 zu einem sogenannten Friedwald. Hier werden die Toten in biologisch ab- baubaren Urnen im Waldboden bestat- tet. 79 Bestattungswälder der Firma FriedWald gibt es in ganz Deutschland, nur zwei sind im Besitz der Kirche. Das Einzigartige: Der Evangelisch-Lutherische FriedWald am Schwanberg wird von der Communität Casteller Ring betreut, einer evangelischen Schwestern-Gemeinschaft in benediktinischer Tradition.
Fünf der 29 Schwestern sind Friedwald-Seelsorgerinnen, zwischen vier und 16 Bestattungen stehen pro Woche im Kalender. Dazu kommen Termine für die Baumauswahl, für die viele Menschen bereits zu Lebzeiten auf den Schwanberg kommen. Manche kommen von weit her, weil ihnen die Nähe zu den Schwestern wichtig ist.
Der Weg zur ewigen Ruhe im Wald beginnt mit einer Entscheidung für den richtigen Baum. Das ist auch eine Preisfrage: Eine alte Eiche kostet mehr als eine junge Buche; ein Gemeinschaftsbaum, an dem bis zu zehn Urnen beige- setzt werden, ist billiger als ein Familienbaum oder ein Platz ganz allein zwischen den Wurzeln. Die Seelsorge der Schwestern beginnt schon hier: Geduldig streifen sie mit durch das Gehölz; sie wissen, wo noch freie Plätze sind und markieren den gefundenen Ort. Und der Wald ist nicht kleinlich: Seine Vielfalt hilft jedem, den richtigen Platz zu finden.
Eine kleine Hainbuche mit noch dünnem Stämmchen ist das Richtige für die junge Mutter, die an Krebs starb, da sind sich die beiden Kinder ganz sicher: Unter den Zweigen, die sich in einem weichen Bogen über den Waldboden krümmen, ist die Mama gut beschützt. Schwester Franziska Fichtmül- ler hat das schon oft beobachtet: „Der Baum und der Mensch ziehen sich quasi an, das passt dann einfach.“
Auch Georg Richter hat lange nach dem richtigen Platz für sich und seine Frau gesucht. „Für mich war klar: Ich will in den Wald. Ich hasse Friedhöfe, alles so geschleckt, jedes Blatt muss weg ...“ An dem glatten Stamm „seiner“ Buche wachsen weitere Zweige heraus, „wie ein Symbol des Lebens, das wei- tergeht!“ Seine Frau fand so viel Vor- sorge unnötig, sie hätten doch noch Zeit, protestierte sie. Aber Georg Richter findet, für seine Nachkommen sei es wichtig, zu wissen, dass alles geregelt ist. „Und es gibt ja auch noch die Zeit von jetzt an bis zu meinem Tod! Solange genieße ich es, hier im Wald und auf dem Weg zu meinem Baum zu sein. Ich höre die Vögel, freu mich an der Sonne – ewiger Frieden! Was kann es Schöneres geben?“
Alternative zum Friedhof
Immer mehr Menschen möchten nicht mehr auf einem Friedhof beerdigt werden. Alternative Bestattungsformen boomen, und auch dem Friedwald auf dem Schwanberg gehen langsam die Bäume aus. Denn nicht jeder Schössling kann ein Begräbnisbaum werden. 99 Jahre ist die vorgesehene Ruhezeit, so lange sollte der Baum überleben. Das schaffen nicht alle. Daher sucht der Förster aus, welche Bäume den Urnen Gastrecht geben können. Das FriedWald-Konzept sieht auch vor, dass die Förster die Bestattungen vornehmen. Das namenlose Verschwinden im Boden, das Aufgehen in der Natur – was für viele attraktiv ist, machte die beiden großen Kirchen zunächst eher misstrauisch. „Die Friedwald-Idee kann pantheistischen Vorstellungen Vorschub leisten, die dem christlichen Verständnis von Auferstehung und der Individualität und Geschöpflichkeit des Menschen entgegen stehen“, kritisierte der damalige Bischof von Würzburg, Friedhelm Hoffmann. Auch die EKD warnte vor naturreligiösen Vorstellungen bei Bestattungen ohne Kreuz und Namen.
Schwester Ursula Buske, die Priorin, sah sofort die Chancen, die das Projekt Friedwald vor der Klostertür bot. „Es war ein Geschenk und ist es noch!“, sagt sie. Als die FriedWald GmbH 2007 bei der evangelischen Landeskirche, der Waldbesitzerin, anfragte, ob sie einen Begräbnisplatz auf dem Schwan- berg einrichten könnte, war für die 63-Jährige klar: Nicht ohne uns! Mit Menschen in Grenzsituationen ins Gespräch zu kommen, Zeugnis zu geben angesichts von Leid und Tod, als Kommunität Seelsorgerinnen zu sein – das schien ihr eine Riesen-Chance zu sein.
Es dauerte viele Monate, die Kirchenleitung zu überzeugen und auch die FriedWald GmbH zu gewinnen. Die Kommunität zu überzeugen war nicht nötig. Schwester Edith Krug und Schwester Hildegard Schwegler, beide über 80 Jahre alt, sind von Anfang an dabei. „Ich finde es großartig, dass ich dabei mit Menschen aller Art verbun- den bin“, freut sich Schwester Edith. „Mit unseren kirchlichen Angeboten erreichen wir doch immer nur ein kleines Segment. Aber in den Friedwald kommen viele! Durch ihn kommt das Leben hier vorbei auf diesem abgeschiedenen Berg!“
Wer in der Urne auf dem Schwan- berg ankommt, wird nicht einfach form- los in den Wald gebracht. Die Schwesern haben einen Ablauf entwickelt, eine Liturgie, die auch denen hilft, die mit Glauben und Kirche nichts am Hut haben. Und immer wieder spielt der Name eine wichtige Rolle. Niemand soll sang- und klanglos unterm Blätterteppich verschwinden.
Am Begräbnistag stellt Schwester Franziska behutsam die Urne auf den Tisch des alten Forsthauses, das für das Friedwald-Engagement der Kommunität reserviert ist. Eine Kerze brennt, ein kleines gelbes Kärtchen nennt schön geschrieben den Namen der Verstorbenen. Die Ikone dahinter erzählt von Karfreitag und Ostern. Hier sitzen die Angehörigen für ein letztes liebes Wort. Schwester Franziska bleibt im Hinter- grund dabei. Manche Ehepartner nehmen die Urne noch einmal zärtlich in den Arm, „kuscheln“, sagt sie mit einem Lächeln. Dann beginnt der lange Weg in den gewaltigen Wald des Schwanbergs. Schon vor vielen Tausend Jahren suchten hier Menschen Schutz vor Bedrohungen und bleibende Heimat, keltische Befestigungsanlagen zeugen davon. 30 Hektar Laubmischwald sind als Friedwald ausgewiesen – mit gewaltigen Buchen, hartnäckigen Eichensprösslingen, zarten Waldblüten, eindrucksvollen Pilzen.
Der Schutzmantelchristus ist die zentrale Figur am Andachtsplatz. hier liegen oft Blumen und Kerzen. an den Bäumen selbst darf nichts abgelegt werden. Viele Trauernde hinterlassen dennoch kleine Zeichen der Zuneigung, die die Schwestern regelmäßig entfernen.
Und ein Christus, der die Arme ausbreitet. In seinen Schutzmantel hüllt er die Alten, die Trauernden, die Abstand- halter. Und die Urne der Toten auf ihrem letzten Weg. Die Angehörigen bilden auf dem Andachtsplatz einen großen Kreis, scheinen so die ausgestreckten Arme der Christusfigur zu verlängern. Schwester Franziska liest die passende Bibelstelle „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich werde euch erquicken.“
In eine kleine Ansprache flicht sie ein, was sie über den verstorbenen Menschen weiß. Für nichtgläubige Trauernde passen keine frommen Worte, aber die Sehnsucht nach Trost spürt die gelernte Krankenschwester, die auch ehrenamtliche Predigerin der evangelischen Kirche ist, bei allen ihren Zuhörern: „Ich suche Worte, die ins Ohr und ins Herz gehen, damit sie Wege des Abschieds gehen können.“
Manchmal gibt sie auch einen Stein herum oder lädt ein, sich mithilfe eines Bandes zusammenzuschließen, ein Zeichen der Gemeinschaft, das mit ins Grab gegeben werden darf, genauso wie die Bilder, die Kinder gemalt haben. Die Schwestern ermutigen dieamilien immer, auch kleine Trauergäste mitzubringen. Der Wald macht es leicht, einfach mal davonzuspringen ...
Schweigend tragen die Angehörigen dann die Urne zum reservierten Baum. Hier wartet das Grab, ein tiefes Loch, geschmückt mit grünen Zweigen, abgedeckt mit einer Baumscheibe. Im Friedwald ist kein Schmuck erlaubt. Keine Kerze, kein Kranz, kein Grabkreuz. Für eine christliche Beerdigung lehnt Schwester Franziska ein einfaches Holzkreuz an den Fuß des Baumes, spricht ein Gebet,
und noch einmal die starken Worte der Bibel: „Gott wird alle Tränen abwischen aus ihren Augen, der Tod wird nicht mehr sein. Siehe ich mache alles neu!“ Die Angehörigen dürfen die Urne versenken und das Grab zuschaufeln. „Alles, was sie selbst tun können, ermöglichen wir ihnen. Aber wenn es nicht geht, stehen wir bereit.“
Ein letzter Gruß
Und dann gehen die Trauernden den langen Weg zurück durch den leuchtenden Wald, den leeren Korb im Arm. Das Licht fällt durch die kahl werdenden Zweige. Braun gewordene Blätter segeln zu Boden. In die atmende Stille des Waldes dürfen viele Fragen gestellt werden. Und die Schwestern hüten sich, auf jede eine Antwort zu geben. „Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist die, dass wir alle sterben werden“, sagt Schwester Hildegard. „Ich spreche nur von meinem Glauben: dass bei Gott alles gut werden wird. In den Armen Gottes sind wir geborgen. Viele horchen dann auf.“
Und die meisten kommen wieder. Suchen ihren Baum, der das kleine graue Schild mit den Namen der Gelieb- ten trägt. Manche legen einen bemalten Stein ab, eine Blume, einen kleinen Strauß gebundener Zweige. Andere gestalten Mini-Gräber. „Das soll nicht sein“, erklärt Schwester Franziska, „und wenn wir es sehen, nehmen wir es weg.“ Nicht für alle ist eine solche Friedwald-Beerdigung das Richtige. Viele brauchen es, für ein Grab zu sorgen.
Die Schwestern reagierten: „Ziemlich schnell haben wir gemerkt, dass wir einen Ort anbieten müssen, wo die Angehörigen Blumen hinbringen oder eine Kerze aufstellen können“, erzählt Schwester Hildegard. So entstand in einer Seitenkapelle der Klosterkirche die Friedwald-Kapelle, in der Gedenkblätter auf dem Altar liegen. Die Angehörigen haben sie mit Fotos, Sprüchen, letzten Grüßen an die Geliebten selbst gestaltet. Jeden Morgen sucht die 82-Jährige die Blätter der an diesem TagVerstorbenen aus sechs dicken Ordnern heraus und breitet sie auf dem Altartisch aus. Und jeden Abend stehen dort Blumen und Kerzen. Zehn Jahre lang – auf Wunsch auch länger – wird so an die Verstorbenen erinnert. Die Kommunität betet an jedem Donnerstag für die Trauer-Familien. Und dreimal im Jahr gibt es einen besonders gestalteten Gedenkgottesdienst, in dem die Namen verlesen werden, für jeden brennt dann eine Kerze in der Klosterkirche.
Gastfreundschaft
Das Team der Friedwald-Schwestern liebt den Wald. Rechtlich ist es ein Friedhof, aber „es ist ein ganz normaler Wald“, sagt Schwester Hildegard energisch. Und doch: Dass an den Bäumen Namenstafel hängen, oft gar nicht auf den ersten Blick sichtbar, ist ihr wichtig. „Das sind Menschen, die ich erlebt habe – manche jedenfalls, und ich bin sicher, sie sind bei Gott geborgen. Da trennt nichts mehr. Und diese Verbindung spüre ich. Auch ich bin verbunden mit ihnen und mit Gott, wenn ich im Wald bin.“ Schwester Franziska streift oft einfach so zwischen den Bäumen herum, liest die Namen, erinnert sich an die Wege, die sie beim Baumaussuchen oder der Bestattung mitgegangen ist. Manchmal setzt sie sich mit einem Buch unter eine Eiche. „Hier kann ich dasein, stillsein, spüren, dass ich Teil der Schöpfung bin.“
Oft begegnet die 54-Jährige dann auch den Trauernden auf den Waldwegen und weiß bei so manchen: Der oder die trägt schwer an dem Verlust. Ein freundlicher Gruß, ein Gespräch – die Schwestern wissen, dass sie Seelsorgerinnen sind über den Tag der Bestattung hinaus. Und manche suchen die Nähe der Klostergemeinschaft, kommen an Weihnachten oder Silvester ins Kloster, um nicht allein zu sein. „Benedikt schreibt in seiner Regel, dass alle, die kommen, wie Christus empfangen werden sollen. Der Friedwald ist unsere Form der Gastfreundschaft – für die Toten und die Lebenden.“
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