Heimat für die SeeleKaum die Hälfte aller Frankfurter sind Christen – eine Herausforderung für Kirche und missionarischeOrden. Sie wollen etwas gegen den Hunger von Leib und Seele tun. So wie im Franziskustreff der Kapuziner an der Zeil und beim meditativen Bogenschießen mit Schwester Kristina. |
Text: Christina Brunner | Fotos: Kiên Hoàng Lê
In abgetragenen Pullovern, die Plastiktüten in der Hand, reihen sie sich vor dem Franziskustreff des Klosters Liebfrauen ein. Hier gibt es Frühstück für die Frankfurter, die sich nichts leisten können. Nicht einmal eine Tasse Kaffee. Die anderen sind vielleicht satt, aber zufrieden offenbar nicht. Sie wollen zur Muttergottes an der Kirchenmauer. Viele waren schon da: Ein Blumen- und Kerzenmeer breitet sich zu Marias Füßen aus. Ein Mann mit Aktenmappe steht lange still davor, eine Tamilin mit müdem Gesicht sucht einen freien Platz für die mitgebrachte Rose. Dann humpelt ein Mann mit Plastiktüten heran; er betet laut und auf Englisch, bevor er sich in die Schlange der Obdachlosen einreiht.
Wenn die Tür aufgeht, duftet der ganze Hof des Klosters nach Kaffee. Jeden Morgen, von montags bis samstags, frühstücken im Franziskustreff 60 bis 120 Gäste. Vor Corona waren es doppelt so viele. Der Raum ist klein, aber gemütlich. Es gibt 15 Minuten Ruhe, Freundlichkeit und einen vollen Teller. „Viele sind froh, wenn sie wenigstens ein Frühstück haben“, sagt Bruder Michael Wies, seit 16 Jahren Leiter des Franziskustreffs – ein nüchterner Westfale, 39 Jahre alt, gelernter Sozialarbeiter und Sozialpädagoge.
Der Kapuziner nutzt seine Kutte als Türöffner. Er lädt Schulklassen ein, motiviert die Ehrenamtlichen, fordert die Hilfe von Politikern und Stadtgesellschaft. Oft hat er Erfolg: Die Spenden fließen reichlich, viele Frankfurter bringen kleine Zeichen der Solidarität: selbstgemachten Kuchen und Marmelade, frisches Obst... „Wenn es sein muss, ist die Stadtgesellschaft da“, freut er sich. „Menschen wollen eine Lösung und packen an – auch die aus den Bürotürmen und Firmenzentralen!“ Selbst im Lockdown war der Franziskustreff offen für die, die nicht zu Hause bleiben konnten, weil sie kein Zuhause haben. Auch die rund 60 Ehrenamtlichen sind dabeigeblieben. So viele wollen helfen, dass Bruder Michael einen Aufnahmestopp aussprechen musste.
Katrin engagiert sich seit zwei Jahren im Franziskustreff. Die Apothekerin hatte etwas gesucht, „was ganz anders ist als das, was ich sonst kenne und mache.“ Jeden Freitag serviert sie mit weißer Schürze und freundlichem Lächeln frischen Kaffee am Tisch – wie in einem richtigen Café. Für alle hat sie ein nettes Wort, mit manchen redet sie länger, denn sie möchte wissen, wie dieses andere Frankfurt aussieht.
Die Mieten sind hoch, in der ganzen Stadt gibt es nur 23 000 Sozialwohnungen. Aber nur wer eine Adresse hat, kann Arbeit finden. Und nur das verbessert die Situation der Obdachlosen auf lange Sicht. Bruder Michael resigniert nicht, das verhindern sein Glaube und die Kraft, die ihm die Solidarität seiner Helfer gibt. „Aber ich frage mich schon: Wo geschieht mal was, damit sich für die Menschen spürbar was verändert?“ Sein Franziskus-Treff ist keine Lösung. Am nächsten Tag haben die ohne Dach wieder Hunger. Und keinen Platz, um zur Ruhe zu kommen.
„Frankfurt ist Babylon: mit seinem Stimmengewirr, geprägt von höher, schneller, weiter. Jeder achtet nur auf sich selbst, das sieht man auch an der Vermüllung der Stadt. Aber es ist auch Jerusalem, wo 180 Nationen in Frieden miteinander leben.“ Bruder Paulus Terwitte findet poetische Worte für die 750 000-Einwohner-Stadt, in der er seit Jahren lebt. Er sitzt im Vorstand des Franziskustreffs und amtiert als Kirchenrektor von Liebfrauen. „Seelenbad-Mitte“ nennt er sein Kloster in der Fußgängerzone, die Menschen sollen hier eintauchen in einen Ort der Stille, der Ruhe, „einen Ort von Shalom“.
Es gibt viel Einsamkeit in diesem babylonischen Jerusalem am Main, großes Heimweh unter den 180 Nationen, viele schmerzvolle Erfahrungen mit der Kirche. Bruder Paulus weiß das. „Wir sprechen niemanden an. Aber wer reden möchte – wir sind da.“ 1500 Kerzen vor der Madonna entsorgen sie jeden Abend, jede ist ein stummes Gebet. Ein Dach für die Seele zu bauen, das ist ein guter Auftrag für einen missionarischen Orden, der sich weltweit für Menschen in Not einsetzt, findet der 62-Jährige.
Die Netze weit auswerfen
Genau wie sein Mitbruder Michael sucht auch Bruder Paulus die Begegnung mit der Stadtgesellschaft. Seine Redekunst ist legendär, er hat für die „Bild“ geschrieben und geht in die Talkshow von Anne Will. „Ich fahre weit hinaus und werfe die Netze aus“, grinst er. Dass nicht alle das gut finden, weiß er, aber es gehört für ihn zum Missionsauftrag als Christ und Kapuziner. „Missionarisches Handeln braucht die Bejahung des persönlichen Charismas. Jeder und jede kann etwas anderes. Ich bin ein Spielmann Gottes, mir macht es Freude, auf den Marktplatz zu gehen!“
Bogenschießen wird Gebet
Bei Schwester Kristina muss man es auch nicht. Man darf schießen. Liebevoll legt die Missionsärztliche Schwester elf Langbögen auf den Boden und richtet sie exakt aus. „Das hat was Heiliges“, sagt sie. Die Schönheit der Gestaltung, die Stille, die gelenkten Bahnen, in denen sich die Meditierenden bewegen, all das soll helfen, sich in die größere Ordnung einzufinden. Vor mehr als fünf Jahren hat die 53-Jährige das meditative Bogenschießen für sich entdeckt. „Es hilft mir, mit dem Grund allen Lebens in Kontakt zu kommen.“ In einigen Metern Entfernung steht die Scheibe, reines Stroh ohne Zielmarkierungen. Denn hier geht es nicht um Kraft und Erfolg. „Meditatives Bogenschießen ist ja überhaupt nichts Christliches,“ gibt die Pastoralpsychologin zu. „Es ist eine Hilfe, zu mir selbst zu kommen – die Grundvoraussetzung für das Gebet.“
An einem Donnerstag hat sie mit ihrer Kollegin Simone Müller den Frankfurterinnen und Frankfurtern ein Angebot gemacht: meditatives Bogenschießen in Heilig Kreuz. Die Kirche in Frankfurt-Bornheim dient dank einer Initiative des damaligen Bischofs von Limburg, Franz Kamphaus, seit 25 Jahren als „Zentrum für Christliche Meditation und Spiritualität“. Schwester Kristina ist die stellvertretende Leiterin, sie findet, dass dieses Engagement gut zu ihr als Missionsärztliche Schwester passt. „In der Stille können sich Lebenswunden melden. Und wenn diese ins Leben integriert werden, geschieht manchmal Heilung.“
Deshalb ist nicht die Strohscheibe das Ziel, sondern Ruhe und Entspannung. Genau wie Christa fühlt sich auch Susanne keiner Kirche zugehörig. Doch das Angebot zum meditativen Bogenschießen lockte sie nach Heilig Kreuz, nun steht sie zum ersten Mal in der leeren Kirche und staunt über die Größe und die moderne Architektur. „Bogenschießen hat für mich etwas Klares und Stolzes, das passt hier so gut hin“, findet sie. Schwester Kristina nimmt sich Zeit für sie, korrigiert behutsam Susannes Haltung, spürt ihre Kraft und Konzentration. Als Susanne schließlich geht, strahlt sie: „Das hat mir so gut getan!“
Weil es Fans gibt wie Christa, aber auch Suchende wie Susanne, tut es Schwester Kristina nicht leid, dass nur wenige heute ihr Angebot annehmen. Dieses Risiko geht eine „Offene Kirche“ wie Heilig Kreuz immer ein: interessante Projekte und Ehrenamtliche, die zum Gespräch bereitstehen – und dann bleibt der weite Kirchenraum leer. Doch das kann morgen wieder anders sein. „Ich finde es toll, wenn wir Menschen etwas ermöglichen können, was vielleicht eine spirituelle Erfahrung wird. Es gibt so viele Angebote in der Stadt, von allen möglichen Gruppen und Religionen – und die Kirche hat das auch!“
Aktionen für die Stadt
Acht Missionsärztliche Schwestern leben in Frankfurt, sie behandeln Obdachlose in der Straßenambulanz oder begleiten Studenten und psychisch Kranke. Schwester Kristina weiß, wie viele Menschen auf der Suche sind, aber oft gar nicht wissen, was sie suchen. Der spirituelle Hunger ist groß, trotzdem verlassen in Frankfurt jeden Monat mehr als 600 Christen ihre Glaubensgemeinschaft. Viele fühlen sich von der Kirche verletzt und abgelehnt. Gemäß ihrem Ordenscharisma möchte die Missionsärztliche Schwester auch hier heilend helfen und Menschen ermöglichen, ihre eigene Spiritualität zu entwickeln. „Letztlich geht es darum, den festen, tragenden Grund des eigenen Lebens, also Gottes Gegenwart wahrzunehmen. Dieser Grund ist da, ich spüre ihn aber nicht immer. Da kann Meditation helfen.“
„punctum“ sucht den Kontakt zu allen möglichen Gruppen und Organisationen, nicht nur kirchlichen. Zusammen bringen sie witzige und nachdenkliche Aktionen in die Fußgängerzone. Mit einem Freiluft-Wohnzimmer auf der Straße protestierten sie gegen die Wohnungsnot. Freiwillige tippen im „Betbüdchen“ auf alten Schreibmaschinen „Gebete to go“. Am Valentinstag gibt es Kerzen mit Doppelherz. „Wir wollen passende Aktionen für die Stadt finden. Und wenn dann Neugierige kommen, möchten wir auskunftsfähig sein.“ Also will er missionieren? „Na klar! Wir haben als Christen doch ein tolles Angebot, eine super Botschaft!“ In der Corona-Pandemie waren die Gottesdienste im tridentinischen Ritus voll – alles junge Leute, hat Hoffmann beobachtet. „Was finden die da? Das muss uns doch unruhig machen als Kirche, die meint, auf der richtigen, der modernen Seite zu stehen. Was brauchen die Menschen? Darum ist das meine erste Mission: Alle willkommen heißen und ein freundliches Gesicht zeigen.“
Links zum Weiterlesen:
franziskustreff.de
liebfrauen.net
meditationszentrum.bistumlimburg.de
punctum-katholisch.de
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