Europa oder TodYayi Bayam Diouf hat ihren einzigen Sohn verloren. Er ertrank bei dem Versuch, die Kanaren mit dem Boot zu erreichen. Yayi ist traurig. Und wütend, dass so viele junge Afrikaner gezwungen sind, ihr Leben zu riskieren. Eine Reportage zum Weltmissionssonntag am 23. Oktober. |
Text: Bettina Tiburzy; Fotos: Fritz Stark
Sanft schlagen die Wellen an den Sandstrand, doch bei ihrem Anblick empfindet Yayi Bayam Diouf nur tiefen Schmerz. Ein Spaziergang am Strand ist auch fünf Jahre nach dem Tod von Alioune Mar für seine Mutter ein schwieriger Gang. Doch das hält sie nicht davon ab, aus ihren Sandalen zu schlüpfen und langsam ins Wasser zu waten. Denn hier kann Yayi ihrem Sohn ganz nah sein – in der See, die für Alioune zum Grab wurde.
Am Strand liegen Dutzende der typischen senegalesischen Langboote, Pirogen genannt. In knalligem Gelb, Rot, Orange und Grün bemalt, strahlen sie in der Sonne so verführerisch bunt, dass man meinen könnte, sie seien extra für eine Urlaubswerbung arrangiert worden. Unvorstellbar, dass solche Boote für viele Menschen zu fahrenden Särgen wurden.
Yayi Bayam lebt in Thiaroye-Sur-Mer, einem Vorort von Dakar, direkt an der Küste des Senegal. Seit Generationen ernähren sich die Menschen hier vom Fisch. Die Männer fahren mit ihren Pirogen aufs Meer und werfen ihre Netze aus, die Frauen verkaufen den Fang. Lange Zeit konnten die Menschen gut von den reichen Fischgründen leben. Doch Überfischung durch ausländische Fangflotten ließen die Bestände drastisch schwinden. Das bekam auch Yayis Sohn zu spüren. Er war Fischer. Genau wie viele seiner Kollegen fing er immer weniger. Darum brach er im Frühjahr 2006 zusammen mit 80 anderen jungen Männern in die Küstengewässer des Nachbarlandes Mauretanien auf, voller Hoffnung, dort endlich einen besseren Fang zu machen.
Der 27-jährige Alioune hatte für eine Großfamilie von 35 Personen zu sorgen, in der auch seine Mutter lebte. Er war der Einzige mit einem Einkommen. Wenn der Fischfang nicht gut genug lief, versuchte er sich als Maurer oder Händler, damit er Miete, Wasser und Strom bezahlen konnte. Der junge Mann war verlobt. Er wollte heiraten, sobald er genug gespart hätte.
Kollektiv der Frauen: Yayi (li.) hat die Frauen mobilisiert. Mit ihrer Handwerkskunst wollen sie eine Lebensgrundlage im Senegal schaffen.
Mit einer Piroge über die raue See
Nach einem Monat rief er seine Mutter aus Mauretanien an. „Mama, wir haben bislang nichts gefangen“, sagte er. „Aber hier gibt es viele, die mit den Pirogen über die Kanarischen Inseln nach Europa fahren, um dort Arbeit zu finden.“ Yayi war geschockt. Denn sie kannte das Risiko einer solchen Fahrt. Die Kanarischen Inseln liegen ungefähr 800 Kilometer von der Küste Mauretaniens entfernt. Die See ist Anfang des Jahres rau, es gibt Stürme, hohe Wellen und es ist kalt. „Mit den Pirogen ist es unmöglich Europa zu erreichen“, beschwor Yayi ihren Sohn und hoffte, ihn umzustimmen. Aber er entgegnete: „Wir sind Fischer. Wir können durch die Ozeane navigieren.“ Yayi sagte: „Nein, du fährst nicht. Du bist mein einziger Sohn und ich zähle auf dich. Unsere ganze Familie zählt auf dich. Du fährst nicht!“ Am folgenden Tag telefonierte Alioune noch einmal mit seiner Mutter. „Ich habe mich zusammen mit all meinen Freunden entschieden. Wenn alles gut läuft, dauert die Fahrt eine Woche, ansonsten zehn oder 15 Tage. Ich werde dich sofort anrufen, wenn wir die Inseln erreicht haben. Bete für uns.“ Da wusste Yayi, sie würde ihn nicht umstimmen können. Schweren Herzens willigte sie ein. Dann begann das Warten.
Im Jahr 2006 versuchten 901 Boote mit 35.490 Menschen die Kanarischen Inseln zu erreichen. Mehr als die Hälfte der Migranten stammten aus dem Senegal. Besonders die jungen Senegalesen haben es schwer in ihrem Heimatland. Der Senegal ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. In der Liste der Vereinten Nationen, die die Entwicklungsstufe aller Länder bewertet, liegt der Senegal nur einen Platz vor Haiti auf Rang 144. „In so einem armen Land ist die Entwicklung der jungen Menschen sehr schwierig“, erklärt Pfarrer Ambrosius Tine, der Nationaldirektor der Caritas im Senegal und Nachbar von Yayi. „Viele Jugendliche finden nach der Schule keine Arbeit.“ Im Senegal gehen viele Kinder nicht zur Schule. Mehr als die Hälfte der Menschen kann nicht lesen oder schreiben. Jeder fünfte Senegalese ist unterernährt. „Besonders hoch ist die Armut auf dem Land. Viele wandern in die Städte ab“, berichtet Pfarrer Ambrosius. „Oder sie gehen nach Gambia, Südafrika, Guinea Bissau oder bis vor kurzem noch Libyen oder in die Elfenbeinküste. Nur 40 Prozent der migrationswilligen Senegalesen wollten nach Europa“, sagt Pfarrer Ambrosius.
Es dauerte zwei Monate, da erreichte Yayi Bayam der Anruf eines Verwandten von Teneriffa. Das Boot ihres Sohnes sei gesunken, berichtete er. Alioune und alle seine Freunde seien ertrunken. Zuerst glaubte Yayi ihm nicht: „Wie willst du wissen, dass unsere Kinder ertrunken sind?“, fragte sie. Er erklärte, dass Aliounes Piroge zusammen mit einem zweiten Boot abgelegt habe, um gemeinsam gegen Hunger und Müdigkeit zu kämpfen und sich bei Gefahr beizustehen. Nach einigen Tagen auf dem Meer drang Wasser in die Piroge von Yayis Sohn ein. Die jungen Männer glaubten, bereits die Küstenlichter der Kanaren zu sehen. Die Insassen des anderen Bootes versprachen, schneller zu fahren und Hilfe zu holen. Yayis Sohn blieb mit seinen 80 Kameraden zurück. Doch die Besatzung der noch seetüchtigen Piroge musste schnell feststellen, dass die vermeintlichen Lichter der Inseln lediglich Leuchten anderer Boote gewesen seien. Als sie endlich die Inseln erreichten und die Küstenwache nach den Vermissten suchte, fanden die Suchmannschaften Wrackteile der Piroge, Gepäck und Plastiktüten mit Verpflegung, die auf dem Meer trieben. Und zwei Leichen, die sie bergen konnten. Die übrigen 79 jungen Männer blieben vermisst. „Als mir mein Cousin das erzählte, da verstand ich, dass unsere Kinder im Meer verschollen sind“, sagt Yayi.
Sehnsucht: Amadou träumt noch immer den Traum vom "Gelobten Land" Europa.
Der Traum von Europa zerplatzt wie eine Seifenblase
Im Jahr 2006 bargen Schiffe vor den Kanarischen Inseln 1167 Leichen ertrunkener Bootsflüchtlinge. Mehrere Tausend Menschen gelten als vermisst. Seither patrouillieren Frontex-Boote vor den Inseln und stoppten den Zustrom. Frontex ist eine europäische Agentur, welche die illegale Einwanderung nach Europa verhindern soll. Flüchtlingsboote werden abgefangen und an die Küste ihrer Heimatländer zurückeskortiert. Flüchtlinge, die schon auf die Kanaren gelangt sind und aus sicheren Herkunftsländern stammen, schickt Frontex zurück.
So endete auch für den Senegalesen Amadou Fall* (Name geändert) sein Versuch, über die Kanaren nach Spanien zu gelangen. Amadou wagte im selben Jahr wie Alioune die Fahrt mit dem Boot. Elf Tage dauerte es, um von der Küste des Senegal zu den Inseln zu gelangen. Größere Probleme gab es nicht. Doch nach der glücklichen Ankunft zerplatzte Amadous Traum von Europa wie eine Seifenblase. Er musste zurück. Amadou kommt aus dem Fischerdorf N'Diébène Gandiol, nicht weit von der Hafenstadt St. Louis im Norden. Er versucht, sich mit dem Aufbau von Veranstaltungstechnik über Wasser zu halten. Doch leben kann er davon nicht. „Ich möchte nach Europa, um Arbeit zu finden und damit ich meinen Eltern helfen kann. Nur deswegen. Denn hier gibt es nichts. Absolut nichts“, erklärt er frustriert.
Heute hat André Sene von der Caritas in St. Louis im Heimatdorf von Amadou alle Bewohner zu einem Workshop eingeladen. Solche Programme, die vor den Gefahren riskanter Migrationswege warnen, werden auch von missio unterstützt. Fast 80 Dorfbewohner sind gekommen, Männer und Frauen, Junge und Alte. André zeigt zu Beginn einen kurzen Film über eine Fahrt mit einem für eine solche Überfahrt untauglichen Boot. Zusammengepfercht hocken die Bootsflüchtlinge in der viel zu kleinen Jolle. Der Film weckt Emotionen. Ein Mann bricht in Tränen aus, als er sich daran erinnert, dass er seinen Sohn verlor. „Es hat mich sehr bewegt zu sehen, dass ein Vater vor der ganzen Dorfgemeinschaft weint“, sagt André. André berichtet auch von den Problemen vieler Migranten in europäischen Ländern. Mit der Dorfgemeinschaft möchte er Wege finden, wie sie gemeinsam für die jungen Menschen bessere Chancen bei sich zu Hause schaffen können. Das ist nicht einfach, aber alle sind sich einig: Es muss etwas passieren.
Appell: Plakate sollen Menschen bewegen, im Senegal zu bleiben und das Land gemeinsam aufzubauen.
„Das ist erzwungene Migration“
Bei Amadou sitzt die Enttäuschung, es nicht nach Europa geschafft zu haben, immer noch tief. „Viele Freunde und Verwandte sind dort. Sie schicken Geld an ihre Familien, können sich ein Auto leisten und hier ein Haus bauen. Und ich habe nichts“, erklärt der 26-Jährige. Doch auch für viele Migranten, die Europa erreicht haben, erfüllen sich diese Träume nicht. Pfarrer Ambrosius erzählt: „Viele haben es in Europa schwer. Besonders diejenigen, die Analphabeten sind. Sie erzählen zu Hause nichts von ihren Schwierigkeiten, weil sie sich schämen. Es ist eine Sache der Würde.“ Und so glauben viele Familien immer noch, dass Europa das mythische Wunderland Eldorado ist. Sie erwarten, dass die Auswanderer für die ganze Familie die Kosten für Gesundheit, Schule und Ernährung übernehmen.„Das ist völlig unrealistisch. Es ist fast eine Ausbeutung der Migranten“, sagt Pfarrer Ambrosius und findet, dass der Staat viele dieser Aufgaben übernehmen müsste.
Yayi Bayam Diouf geht aufrecht über die sandigen Wege ihres Heimatortes Thiaroye-Sur-Mer. Sie strahlt Würde und Entschlossenheit aus. Jeder kennt die 52-Jährige hier. Denn nach dem großen Unglück hat Yayi nicht geschwiegen. Zuerst ging sie zu den betroffenen Familien. Ihr Sohn Alioune war der Kapitän des Bootes. Darum sah seine Mutter sich in der Pflicht, allen 80 Familien der Verunglückten ihr Beileid auszusprechen. Später ergriff sie das Wort bei einer Gemeindeversammlung.
Eine kleine Sensation, denn Frauen haben in ihrer Gemeinschaft kein Mitspracherecht. Doch Yayi konnte die Ältesten überzeugen, die Männer ließen sie sprechen. Sie stimmten sogar zu, als Yayi erzählte, sie wolle die Witwen und Mütter der Verunglückten organisieren, damit sie selbst ihre Existenz sichern könnten. Sie fand Unterstützer für Kleinkredite, um so Arbeit zu schaffen. Pfarrer Ambrosius ermutigte und unterstützte sie, damit die Kinder der Verunglückten weiter zur Schule gehen konnten. Dann ging Yayi zu den Jugendlichen und sprach diejenigen an, die wegwollten. „Ich werde über den Tod meines Sohnes immer wieder sprechen“, sagt sie. „Denn ich möchte nie wieder erleben, dass ein Kind meiner Gemeinschaft oder meines Landes das gleiche erleiden muss wie mein Kind.“
Auch die Europäer sieht Yayi in der Verantwortung. „Das ist eine erzwungene Migration. Die Europäer nehmen uns unsere Ressourcen: den Fisch im Senegal, die Baumwolle in Mali und den Kakao in der Elfenbeinküste“, erklärt sie. „Ich verlange, dass die Europäische Union und unsere afrikanischen Staaten ihre Politik überdenken, auch die Migrationspolitik. Es sollte eine partnerschaftliche Entwicklung geben.“ In ihrem Büro sitzt Yayi an ihrem Schreibtisch. Hinter ihr steht ein Porträt ihres Sohnes. Er blickt ernst, doch zuversichtlich. „Er ist gefahren, weil er die Existenz unserer Familie sichern wollte“, sagt Yayi. „Mein Sohn war ein sehr mutiger Junge.“
Mehr Infos zum Weltmissionssonntag 2011 finden Sie auf den Internetseiten von missio Aachen
Download der Reportage "Europa oder Tod" als pdf-Datei
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