Durch die Hölle ins gelobte LandSie geben alles auf und verlassen ihre Heimat, weil sie sich in den USAeine bessere Zukunft erhoffen. Doch der Weg durch Mexiko ist weit und gefährlich – vor allem die so genannte Todesroute auf dem Güterzug. |
Text: Sandra Weiss; Fotos: Florian Kopp
Schweißgebadet schreckt Gerson Hernández aus dem Halbschlaf. Die Nacht in Ixtepec im Süden Mexikos ist schwül und drückend. Die Moskitos surren und erinnern ihn an seine Heimat an der honduranischen Karibikküste. War da etwas? Schlaftrunken hebt Gerson den Kopf und lauscht. Flüstern, Rascheln, hastige Fußtritte. Doch erst als er das durchdringende Hupen des nahenden Güterzugs hört, macht ihn der Adrenalinschub vollends wach. Das Hupen, auf das alle seit zwei Tagen warten! Mit einem Griff packt der 24-Jährige den Rucksack, der ihm als Kopfkissen dient. Er wiegt nicht viel, für die Reise ins Ungewisse hat Gerson nur das Nötigste eingepackt: eine Decke, Socken und Unterwäsche, ein frisches T-Shirt, eine Flasche Wasser, ein paar Kekse, trockenes Brot und eine Dose Thunfisch. In wenigen Sekunden sind die Sportschuhe geschnürt, dann springt er behände vom Stockbett und weckt seinen Schwager Mayro Correa, der unter ihm schläft.
Vier Fünftel der Flüchtlinge scheitern
Draußen vor der Herberge „Hermanos en el Camino“, deutsch „Brüder auf der Reise“, von Ixtepec huschen Dutzende schwarzer Schatten in Richtung Bahngleise. Das Hupen hat sie aus dem Schlaf geschreckt. Es ist keine Reise, die sie unternehmen. Eher eine Flucht. Weiter geht es Richtung Norden. Näher ans Land ihrer Träume. Weg vom Elend. Aber wer ins Paradies will, muss erst durch die Hölle. Und die Hölle ist Mexiko, dort sind sie Freiwild. Das ist das ungeschriebene Gesetz der mittelamerikanischen Migranten. 150.000 haben nach Schätzungen der mexikanischen Migrationsbehörden im Vorjahr das Land Richtung US-Grenze durchquert. Vier Fünftel von ihnen scheitern. „Bestie“ haben die Migranten den Güterzug getauft, auf dessen Dach sie reisen; die Medien schreiben von der „Todesroute“. Wie Adern zeichnet sich das Schienennetz auf der Landkarte ab, die vor dem Schlafsaal hängt. Gerson hat sie lange studiert. Im Süden, nahe der Grenze zu Guatemala, sind es zwei dicke Linien, die sich nach und nach verzweigen und dann vor der US-Grenze abrupt enden. Es gibt viele Wege durch Mexiko, hat sich Gerson sagen lassen. Der Zug ist nur einer davon. Der billigste. Und der gefährlichste.
Schlaftrunken reibt sich Gerson die Augen und mustert die Schattenmenschen. Nach einigem Suchen findet er unweit des Frauenschlafsaals seine Lebensgefährtin Claudia Correa. Sie ist kaum zu erkennen in ihrem schwarzen T-Shirt. Nur die helle Schrift leuchtet: „Niemals zu schlimm, niemals zu spät“ – so etwas wie ein Motto der beiden. Kennengelernt haben sie sich in Miami. Dort arbeitete er auf dem Bau, sie als Hausmädchen. Tochter Rosi Arlene wurde geboren. Doch nach sechs Jahren als Gastarbeiter in der Ferne siegte das Heimweh. Das Paar hatte einiges gespart und wollte es in Honduras versuchen. Hoffnungsfroh und mit gefüllten Taschen machten sie sich auf den Rückweg. In Roatán, dem Ferienparadies im Norden, kauften sie drei gebrauchte Autos und machten ein Taxiunternehmen auf. Die Nachfrage war gut. Aber die Fahrer wirtschafteten in die eigene Tasche, und die Mafia verlangte Schutzgelder. Als Gerson nicht zahlen wollte, ging eines seiner Autos in Flammen auf. Die Ersparnisse waren fast aufgezehrt, mit der Hilfe der Behörden konnte er nicht rechnen: Honduras hat eine der höchsten Mordraten der Welt; Polizei und Justiz gelten als ineffizient und von der Mafia infiltriert. Jobs gibt es nur wenige, und sie sind schlecht bezahlt – etwa in der Landwirtschaft oder als Akkordarbeiter in den Sweatshops der Zulieferer internationaler Modemarken. Der Traum vom Neuanfang in der Heimat war gescheitert. Doch die beiden jungen Leute wollten sich nicht so einfach in ihr Schicksal ergeben. Mit Claudias Bruder Mayro zogen sie erneut los. Die Tochter blieb bei der Oma. „Die Reise ist für Kinder zu gefährlich“, sagt Claudia mit tränenerstickter Stimme. „Aber Rosi Arlene hat eine amerikanische Geburtsurkunde, und ich kann sie auf legalem Weg nachholen, wenn wir es geschafft haben.“
Seit fünf Tagen sind sie unterwegs, mit dem Bus und zu Fuß über die grüne Grenze. Unterwegs knöpfte ihnen ein mexikanischer Polizist umgerechnet 30 Euro Schmiergeld ab. Als Gerson die Route durch Mexiko vor zehn Jahren zum ersten Mal machte, war vieles noch einfacher. Nun bringt jeder Tag neue, bittere Lektionen über das, was es bedeutet, Migrant zu sein. Für alle Fälle haben die drei einen Notgroschen dabei, eingenäht in den Hosenbund.
Waffen als Lebensversicherung
Jetzt rennen sie zu den Gleisen. Aus einem Busch klaubt Mayro die in Zeitungspapier gewickelte Machete. Waffen dürfen nicht mit in die Herberge, sind aber eine Lebensversicherung. Ebenso wie Schweigsamkeit. Wer zu viel redet, lebt gefährlich auf dem Weg gen Norden. Mit geübtem Blick suchen sie die Waggons für Zement. „Das ist die Erste Klasse“, scherzt Gerson, der die anderen mit seinem unverwüstlichen Humor bei Laune hält. „Auf ihren Gittern oben am Dach kann man sich gut festhalten und bequem sitzen.“ Die Zementwagen haben außerdem eine winzige Plattform am Waggonende, auf der fünf Leute Platz finden. Doch sie ist reserviert für die Schlepper und deren Leute. Und auch auf den Dächern reist man nicht gratis. Immer gibt es jemanden, der die Hand aufhält. Die Angestellten der mexikanischen Eisenbahn zum Beispiel. Oder die Drogenmafia. Zetas heißt das brutalste Drogenkartell Mexikos, durch dessen Herrschaftsgebiet am Golf von Mexiko der Zug führt. Sie entführen Migranten und kassieren von deren in den USA lebenden Angehörigen Wegzoll. Wer nicht zahlt, wird umgebracht, gezwungen, Drogen in die USA zu schmuggeln oder sich zu prostituieren. Mitten im Wirrwarr der Gleise steht Alejandro Solalinde wie ein Leuchtturm in der Finsternis: weiße Hose und weißes Hemd, auf dem sich dunkel ein Holzkreuz abzeichnet. „So erkennen die Migranten schon von weitem, dass ich ein Priester bin“, sagt er. Es ist vier Uhr morgens. Einen Wecker braucht der 67-Jährige nicht. Die Hupe der Bestie reicht ihm. Mal kommt sie abends, mal morgens, mal mitten in der Nacht. Solalinde unterwirft sich ebenso ihrem kapriziösen Rhythmus wie die Migranten. Um ihn herum wanken abgerissene, verschwitzte Gestalten, unsicher auf den Beinen nach zwölf Stunden auf dem Zugdach: Hungerleider und Abenteurer, Mörder, politisch Verfolgte und Straßendiebe. Solalinde macht keinen Unterschied.
„Willkommen in Ixtepec, liebe Brüder und Schwestern! Hundert Meter weiter hinten ist die Herberge. Dort bekommt ihr etwas Warmes zu essen, könnt eure Wäsche waschen und habt ein Bett zum Ausruhen“, wirbt er. „Die Reise ist noch lang, ihr werdet eure Kräfte noch brauchen.“ Nicht alle folgen. 278 registrieren sich in dieser Nacht in der Herberge – von geschätzten 500, die auf dem Zug mitgefahren sind. Manche haben Schlepper bezahlt und gehen in eine der vorab gebuchten Spelunken neben den Gleisen. Bars, billige Hotels und fliegende Händler – alle machen ein gutes Geschäft mit den Migranten. Einige stehen im Dienst der Zetas und liefern dem Kartell Informationen über die Flüchtlinge. Vieles davon hat Solalinde mitbekommen in den fünf Jahren seit Gründung seiner Herberge. „Ich verzichte auf eine Pfarrerei und will eine Herberge aufbauen für unsere Brüder und Schwestern aus Mittelamerika, um die sich niemand kümmert und die so viel Leid erleben auf ihrem Weg durch Mexiko“, sagte er seinem Bischof damals. Eigene Ideen hat Solalinde immer schon gehabt; aus dem Karmeliterorden wurde er als „zu progressiv“ entlassen, mit 15 weiteren Seminaristen gründete er eine Priesterkommune in einem Armenviertel. Es waren die Aufbruchsjahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
Sogar der Vatikan spendete
Drei Jahre später wurde er doch noch zum Diözesanpriester geweiht – weil die Kirche einen so mutigen und beliebten Missionar nicht verlieren wollte. „In Ordnung“, habe ihm der Bischof seufzend auf seine Vorschlag entgegnet, aber Geld habe er für die Herberge nicht, erzählt Solalinde schmunzelnd. Das besorgte sich der Pfarrer anderweitig. Viele haben den unkonventionellen, asketischen Gottesmann schätzen gelernt – Nachbarn, Gläubige aus seinen früheren Gemeinden, Geschäftsleute, Menschenrechtler, kirchliche Organisationen im Ausland, sogar vom Vatikan kam eine Spende für die Herberge. „Alles fügt sich durch Gottes Hand“, sagt Solalinde. Nichts scheint ihn aus der Ruhe zu bringen. Nicht einmal die Todesdrohungen oder die vier bewaffneten Bodyguards, die der Staat zu seinem Schutz abgestellt hat. Denn vom ersten Tag an gab es Widerstand gegen die Herberge. Der Mafia ist es ein Dorn im Auge, dass jemand den Migranten Schutz und eine Stimme gibt. Nachbarn, Bürgermeister oder Lokalpresse lasten ihnen jeden Diebstahl, jede Vergewaltigung an. „Einmal kam eine Gruppe alkoholisierter Vandalen und wollte hier alles in Brand stecken“, erinnert sich Solalinde. Der mutige Gottesmann rief von einem seiner beiden Handys den Bürgermeister an; auf dem anderen war die Presse dazugeschaltet. Er schilderte, was im Gange war, und machte den Politiker für alles Weitere verantwortlich. Kurz darauf zog der Mob ab. Seitdem hat sich einiges gebessert. 2011 verabschiedete der mexikanische Kongress auf Druck der Kirche ein neues Migrationsgesetz. Vorkämpfer dafür war Solalinde, der auch der Migranten pastoral in Südmexiko vorsteht.
Erfolg vor dem Gesetz
Als er vor dem Senat berichtete, welche Qualen die Migranten unterwegs durchleiden, war es mucksmäuschenstill. Solalinde ist ein schmaler Mann mit sanfter Stimme. Doch wenn er redet, zieht er alle in seinen Bann. Seine Schilderungen sind glasklar, seine Vergleiche gewaltig – ob er vom Holocaust der Migranten redet oder Jesus als ersten Migranten des Christentums bezeichnet. Das Gesetz wurde einstimmig verabschiedet. Seither sind Migranten keine „Illegalen“ mehr, und alle Staatsdiener müssen deren Menschenrechte respektieren. Ganze Abteilungen der korrupten Migrationsbehörde wurden ausgetauscht, einige besonders brutale Polizeichefs versetzt. Es war ein großer Moment für Solalinde. Doch die Stunde des Triumphs ist längst vorbei. Jeden Tag mit wenigen Mitteln hunderte von Migranten mit Essen zu versorgen, mit Behörden zu diskutieren, Missbrauch zu dokumentieren und anzuprangern ist Knochenarbeit. „Ohne mein Team wäre das nicht zu schaffen“, sagt Solalinde. Viele sind ehemalige Migranten. So wie Koch Alexander Murrieta aus Nicaragua, zweimal deportiert aus den USA, der zu jeder Tages- und Nachtzeit ein nahrhaftes Essen aus den Resten zaubert, die freundliche Bauern und Marktfrauen spendieren. Oder Rolando Aguilar aus Honduras, der schreinert, im Gemüsegarten oder im Schweinestall mithilft, den der Padre gerade mit ausländischen Hilfsgeldern angelegt hat.
Wenn Solalinde unterwegs oder wieder einmal wegen Todesdrohungen ein paar Wochen außer Landes ist, managt Alberto Donis aus Guatemala die Herberge mit einem weiteren Priester, Hector Navarro López, den die Steyler Missionare zur Verstärkung geschickt haben. Auch heute sind die beiden wieder im Einsatz. Navarro, der die abenteuerliche Fahrt gen Norden einschließlich illegalem Grenzübertritt selbst schon mitgemacht hat, erteilt in der Kapelle Ratschläge für die Reise. Einige sitzen auf der halbhohen Begrenzungsmauer, andere haben sich auf Pappkartons schlafen gelegt. Die 70 Betten für Männer und die zwölf für Frauen reichen nicht für alle. Derweil registriert Donis die Neuankömmlinge: Name, Alter, Familienstand, Gesundheitszustand, Reiseverlauf. „Das ist nicht nur Statistik, sondern eine wichtige Information für Angehörige und ein Druckmittel gegenüber Behörden“, betont er. Alle kirchlichen Herbergen entlang der Bahnlinie verfahren nach dem gleichen System und bilden so ein effizientes Netzwerk. Falls jemand auf seiner Reise verschwindet, verletzt oder ermordet wird. Es sind hunderte von Namen jede Woche. Hunderte von Schicksalen. Auch Gerson, Mayro und Claudia haben eine flüchtige Spur hinterlassen. Zwei von zehn Migranten schaffen es über die Grenze. „Wenn es uns gelingt, spenden wir den ersten Lohn der Herberge“, verspricht das Trio. Für ein paar Tage Menschlichkeit auf dem Kreuzweg Richtung Norden.
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Höllenfahrt: Geschätzte 500 Migranten reisen in dieser Nacht auf dem Dach des Güterzugs gen Norden. Unter den Flüchtlingen heißt er „Die Bestie“.
Seelsorger: Solalinde hat für alle ein offenes Ohr.
Erfrischung: Jeder bekommt Wasser, warmes Essen und einen Platz zum Schlafen.
Willkommen: Sobald der Zug auftaucht, ist Pfarrer Solalinde da, um die Flüchtlinge zu begrüßen.
Ankunft: Der Andrang vor den Schlafsälen ist groß – wie die Erschöpfung der Migranten. In der Herberge können sie Kraft für die Weiterreise tanken.
Enge: Auf der Plattform zwischen den Waggons.
Kontrolle: Waffen sind in der Herberge tabu.
Erschöpft: Nach Tagen auf dem Zug bietet die Herberge Schutz.
Geduldig: Claudia und Gerson warten auf den nächsten Zug.
Schutzlos: Waffen sind in der Herberge verboten, aber unterwegs lebensnotwendig.
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