Die TabubrecherSie werden versteckt, in Verschläge gesperrt, an Bäume gekettet: Psychisch Kranke, so glauben
viele Bewohner der Côte d’Ivoire, der früheren Elfenbeinküste, seien von Dämonen besessen.
Ein Heiler, ein Soziologe und eine Ordensfrau behandeln mit Menschlichkeit. |
Text: Beatrix Gramlich | Fotos: Hartmut Schwarzbach
Der Mann im grünen Zweiteiler spuckt in eine Lederkappe und stülpt sie sich über den Kopf. Über den Oberkörper hat er ein grobes Leinenhemd gestreift, an dem kleine Stoffpäckchen baumeln. Ihr Inhalt ist Bakary Soros Geschäftsgeheimnis. Das Hemd, erklärt er, wirke als magischer Schild. „Das hier ist wie ein Kampf. Die Leute können dich angreifen. Du musst dich schützen.“ In der Hand hält er einen lederbezogenen Spiegel, dessen Rückseite sich fingerdick wölbt. In die Tierhaut sind Muscheln mit den Namen der Geister eingearbeitet. Sie geben ihm Zeichen, mit ihrer Hilfe kann er Diagnosen stellen, Dinge korrigieren, in die Zukunft blicken. Die Geister vermitteln ihm, was seine Patienten quält oder krank macht.
Soro ist Heiler – einer jener Männer und Frauen, zu denen Menschen aller Schichten und Religionen pilgern, wenn Unglück oder Krankheit sie heimsuchen. Der 60-Jährige mit der wilden Montur und dem warmherzigen Lächeln praktiziert unweit von Korhogo, der bevölkerungsreichsten Stadt im Norden des Landes. Er empfängt in einem schlichten Raum: zwei Sitzbänke, an der Wand Fortbildungs-Zertifikate und die Teilnahmebescheinigung an einem Seminar des Gesundheitsministeriums. An der Decke dreht sich träge ein Ventilator, auf dem Tisch steht Soros Arbeitsgerät – ein Holzrahmen, gefüllt mit Sand und Kaurimuscheln. Hat er den Namen seines Patienten erfragt, wirft er die kleinen weißen Schalen und zeichnet mit den Fingern Wellen und Tupfer in den Sand – immer wieder, bis ihm der Blick in den Spiegel Gewissheit gibt.
Kräuter gegen Epilepsie
Gerade hat Soro bei einem Patienten Epilepsie diagnostiziert. Zur Heilung verordnet er Naturmedizin. Er greift ein Bündel Wurzeln des Koun-Baums, zerhackt sie und stopft sie mit Blättern des Baums in einen Krug. Dieselben Mittel hat er gerade einer gelähmten Frau mitgegeben. „Die Wurzeln“, sagt er, „stärken die Nerven und verhelfen zu mehr Beweglichkeit.“ Soro weiß nicht viel über die physiologischen Abläufe im menschlichen Körper. Aber er weiß, was hilft. Die Heilkunst hat er von seiner Mutter gelernt. Sie hat ihn gelehrt, dass gegen fast jede Krankheit ein Kraut gewachsen ist. Sie hat ihm gezeigt, wo er Heilpflanzen findet und wie er sie aufbereiten muss, damit sie ihre Wirkung entfalten.
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Auch Soro gibt sein Wissen an die nächste Generation weiter: Wenn er in den Busch geht und Nachschub für seine Naturapotheke sammelt, nimmt er seine Söhne mit. Der Hof hinter seinem Haus ist sein Laboratorium: Hier lagern Blätter und Wurzeln, hier braut er Tinkturen und Sude, mit denen er die Patienten behandelt. Viele bleiben wochenlang bei ihm, bis die Therapie anschlägt. Sie übernachten bei Soro, seine Familie kocht für sie. Behandlung und stationärer Aufenthalt kosten pauschal 5000 Francs, umgerechnet rund acht Euro. Wer das Geld nicht aufbringen kann, bezahlt in Naturalien – mit ein paar Säcken Reis, Mais, mit einem Schaf oder Huhn. |
Es gibt auch Scharlatane, die nichts von Naturheilkunde verstehen und stattdessen mit falschem Zauber und dem Ver- sprechen von Reichtum Eindruck und Geld machen. Diese Betrüger sind Soro ein Dorn im Auge. Er ist Mitglied der „Association des guérisseurs et tradi-practiciens“ (AGT), einer landesweiten Vereinigung von Heilern, für die strenge Regeln gelten. „Wir arbeiten eng mit dem Gesundheitsministerium zusammen“, erklärt Bakary Ouattara, 41, Präsident des Ortsverbands Korhogo. „Unser Ziel sind einheitliche Standards in Hygiene, bei Herstellung und Dosierung der Arzneimittel“, erklärt er und zeigt ein Handyfoto von seinem „Cabinet“, einer blitzblanken Kräuterapotheke.
Er träumt von einem Zentrum, in dem die traditionellen Heiler ihr Wissen bündeln und weitergeben. Manche jedoch, berichtet er, wollten sich der AGT nicht anschließen, weil sie fürchten, andere würden ihr Wissen stehlen. So unbegründet ist diese Angst nicht. Auch die Pharmaindustrie hat die Kraft der Natur entdeckt, will sich die traditionelle Medizin zunutze machen und beantragt in vielen Ländern Patente auf Heilpflanzen...
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