Mit einem Klick zum MissbrauchIn vielen Slums auf den Philippinen blüht die Online-Prostitution. Kinder und Frauen ziehen sich
für wenige Euro oder einen Hamburger vor der Kamera aus. Nahezu unbehelligt sitzen ihre 750 000 Kunden
vor den Bildschirmen. Eine christliche Organisation kämpft gegen den Missbrauch per Mausklick. |
Text und Fotos: Hartmut Schwarzbach
Rosemarie „Rhoy“ Dizon wollte Nonne werden und im Kloster meditieren, aber dann kam alles anders. Jetzt arbeitet die 61-Jährige als stellvertretende Direktorin der christlichen Nichtregierungsorganisation „ANCE“ und beschäftigt sich mit dem Thema Cybersex. In Südostasien, wo Armut auf eine ausgezeichnete digitale Infrastruktur trifft, haben sich in kurzer Zeit Länder wie die Philippinen, Indonesien und Kambodscha zu Zentren der virtuellen Sex-Industrie entwickelt. Der missio-Partner Father Max Abalos, ein Steyler Missionar und Direktor von „ANCE“, wollte nicht länger zusehen und initiierte ein Kinderschutzprogramm gegen Online-Missbrauch in der zweitgrößten Stadt des Landes.
Rhoy ist unterwegs nach Cordova, einem Stadtteil auf der Halbinsel Mactan, der als Hauptstadt des Cybersex auf den Philippinen weltweit bekannt wurde. 40 Prozent der Bewohner leben in Slums unterhalb der Armutsgrenze. Sie müssen mit zwei Euro pro Tag auskommen. Dennoch haben die Viertel die schnellsten Internetverbindungen des Landes. Die meisten Filipinos sprechen gutes Englisch, so entstand hier ein heimlicher Wirtschaftszweig der Armen und eine eigene Form der Prostitution, zu der auch viele Kinder gezwungen werden.
Prostitution für einen Hamburger
Im Garten eines kleinen Hauses im Hinterhof trifft Rhoy die 14-jährige Vicky*, ein zierliches Mädchen, das bei ihren Großeltern wohnt. Ihr Vater ist tot, die Mutter verschwunden. Rhoy und Vicky umarmen sich. Das Mädchen ist bereit, seine Geschichte zu erzählen: An einem Freitag im August 2012, Vicky ist damals neun Jahre alt, spielt sie wie jeden Tag mit ihren Cousinen auf dem Basketballfeld. Tante Chona schaut vorbei und bittet sie um einen Gefallen: „Hi Vicky, komm mit! Du bekommst auch einen Hamburger!“ Sie gehen zu einem Nachbarhaus, die Fenster sind verschlossen. Auf dem Tisch läuft ein Laptop mit einer Kamera, auf dem Bildschirm ein Mann. „Zieh dich aus und setz dich aufs Sofa!“, fordert die Nachbarin Mariwic das Mädchen auf. „Zieh auch deinen Slip aus und spreize die Beine!“ Vicky kann sich nun selbst nackt auf dem Screen sehen und den alten Mann, einen Amerikaner. Der sagt etwas, und dann kommt die Nachbarin mit einer Aubergine und berührt ihre Vagina. Vicky empfindet große Scham. Doch Mariwic vertröstet sie: „Den Hamburger bekommst du, sobald der Amerikaner bezahlt hat, und erzähl das niemandem!“
Die Geschichte fliegt auf, denn eine andere Tante schöpft Verdacht. Gemeinsam mit der Großmutter stellen sie die Nachbarin zur Rede: Mariwic bestreitet, Vicky zum Strippen aufgefordert zu haben. Der Großvater informiert die Polizei. Die prescht mit einer Sondereinheit heran, beschlagnahmt Laptop und Computer und führt Mariwic und Chona in Handschellen ab. Seitdem sitzen sie im Lapu Lapu City Jail Gefängnis. Vicky musste vier Mal vor Gericht aussagen, aber wegen Problemen mit dem Pflichtverteidiger gibt es nach fünf Jahren noch immer kein Urteil in diesem Fall. Für Kindesmissbrauch, Menschenhandel und Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder gibt es zwingend lebenslänglich auf den Philippinen. Unter der Präsidentschaft von Rodrigo Duterte und einer möglichen Einführung der Todesstrafe droht das Schlimmste. „Die Polizei hat gut reagiert, aber nur, weil sie Angst vor den Medien hat“, kommentiert Rhoy Dizon die Aktion. Vicky wurde noch am Abend in ein Schutzzentrum gebracht, wo sie sechs Monate lang eine Therapie bekam. „Das war schön, denn dort waren viele andere Kinder“, erinnert sich das Mädchen. „Ich wünsche mir, dass ich meine Schule zu Ende machen und Krankenschwester werden kann, aber wir sind arm und haben kein Geld. Ich brauche ein Schulstipendium!“
Eltern sehen Kinder als ihren Besitz
Im Nachbarort am Ende einer Slumsiedlung trifft Rhoy Heidi in einer Hütte nah am Meer. Moskitos surren in der schwülen Luft, bei Regen steht das Haus unter Wasser. Heidi, eine 17-jährige selbstbewusste College-Studentin, möchte das Gespräch gemeinsam mit ihrer Mutter Gilda führen. Die Familie stammt von der Nachbarinsel Bohol, die Eltern waren Reisfarmer, doch das reichte nicht zum Leben. Also siedelten sie 2008 nach Cordova um. Die Mutter fand Arbeit als Wäscherin, der Vater als Helfer auf Baustellen.
Als Heidi neun Jahre alt war, lud die Nachbarin sie zu sich ins Haus ein, gab ihr einen Hamburger und 400 Pesos, umgerechnet 6,50 Euro. Dann musste sie sich vor laufender Kamera ausziehen und ihre Brüste anfassen. Zwei Jahre lang filmte die Nachbarin Heidi an jedem Samstag, zwei Jahre lang gab Heidi ihrer Mutter jede Woche 400 Pesos für die Familienkasse. Gilda bestreitet, etwas gewusst zu haben. „Ich mache meiner Mutter keine Vorwürfe, aber ich bin wütend auf die Nachbarin und empfinde Scham“, sagt Heidi. „Die meisten Eltern denken, sie können alles mit ihren Kindern machen“, erklärt Rhoy Dizon. „Sie sehen sie als ihren Besitz. Aber Kinder sind ein Geschenk Gottes, sie müssen geschützt werden! Sie haben keine Vorstellung, was richtig oder falsch ist. Deshalb ist unser Schutzprojekt so wichtig. Die Kirche schaut besorgt auf das Thema Cybersex. Wir haben das ausführlich mit Bruder Max diskutiert, und analysieren jetzt, inwieweit unsere eigenen Gemeinden betroffen sind.“
Weltweit sind Tag und Nacht 750000 Kunden online auf der Suche nach Sex. Sie konsumieren vor allem über das Smartphone, alte Laptops und Computer haben ausgedient. Für die Polizei ist es deshalb schwieriger geworden, Cyberkriminalität zu beweisen. Die Beteiligten müssen auf frischer Tat ertappt werden. In den Armenvierteln wird geschwiegen. Dort lockt das „Gehalt“ für eine Nacktshow. Mit 2000 Pesos ist es 20 Mal so hoch wie das, was eine Familie normalerweise pro Tag zur Verfügung hat. Beim Cybersex werde ja niemand vom Kunden tatsächlich berührt, beruhigen sich Eltern und Ehepartner der Opfer. Jedoch: Psychologen diagnostizieren die gleichen schwerwiegenden Folgen wie beim physischen Missbrauch. Tiefsitzende Traumata mit lebenslangen Beeinträchtigungen wie Depressionen, Schuld- und Schamgefühlen sowie Verhaltensstörungen.
Netzwerk eines Pädophilen
Eine besondere Form von Cybersex spielt sich im Pagat Patan Slum in Talisay ab: Sex-Terror durch einen Pädophilen. Das ist das Arbeitsgebiet von Edit Manzanares. Die 50-jährige „ANCE“-Sozialarbeiterin trifft sich jeden Dienstag mit Familien zur Bibelstunde. „Irgendwann fingen die Frauen an, von Nacktbildern, Syndikat und Facebook zu sprechen“, berichtet Edit. Eine 29-jährige Frau ist bereit, ihre Erlebnisse zu schildern: Um zu Exels Haus zu gelangen, muss man über schmale Bambusstege und Holzlatten balancieren. Hunderte von Metern hinein in einen Mangrovensumpf, unten Wasser, Schmutz, Müll. Immer wieder fallen Kinder hinab, aber ertrunken ist wie durch ein Wunder noch keines.
Exels Bambushütte steht auf Stelzen, drei Meter über dem Meer. „Beim Taifun wackelt alles.“ Die Hütte besteht aus einem Zimmer und einer kleinen Veranda. Es gibt keine Toilette, keinen Wasseranschluss, nur gelegentlich Strom. Hier lebt Exel als alleinerziehende Mutter mit ihren drei kleinen Kindern. Der Ex-Mann schickt 500 Pesos die Woche. Sie verdient etwas Geld mit Handarbeiten. „Ich brauche Hilfe, wir haben nichts zu essen“, lautete ihr erster Smartphone-Chat. Die junge Frau fängt an zu weinen, als sie berichtet, dass der Amerikaner im Gegenzug Nacktbilder forderte. „Ich habe mich so geschämt, aber ich bekam 1500 Pesos dafür.“ Der Mann hat den Facebook-Account Edwardo Shaw und stammt aus Texas. Die Frauen glauben, er verkauft ihre Fotos.
Der Texaner beschäftigt eine Sekretärin im Slum, die ihm Mädchen beschafft, Bilder verteilt und auch vor Ort bezahlt. Jede Woche schickt Shaw 10000 Pesos an seine Außenstelle. Außerdem überweist er gezielt Geld an einzelne Kinder – als Familienunterstützung getarnt. Die Sekretärin stellt die Nacktbilder auf ihrem Account online, so dass die Nachbarn gegenseitig ihre Sex-Fotos sehen können, darunter auch minderjährige Mädchen. Allein um das Haus von Exel herum sind acht Familien betroffen. Wenn die Familienmutter zur Wasserpumpe geht, ruft man ihr nach: „Hure!“„Wir lächeln uns nur an, wenn wir uns begegnen, weil keiner Ärger haben will“, sagt Exel, „aber natürlich sprechen sie hinter meinem Rücken über mich.“ „Kannst du Fotos von neunjährigen Mädchen machen und sie ins Bett nehmen?“, lautet die nächste Frage von Edwardo Shaw, die Exel auf ihrem Smartphone erhält. Sie zeigt zum Beweis das Gerät mit der Nachricht: „Nein Danke!“, hat sie geantwortet und mit der Polizei gedroht. Danach hat der Texaner die Verbindung abgebrochen.
Ein Mädchen aus dem Slum ist zum Rathaus gegangen und hat die Situation geschildert. Passiert ist nichts. Es bleiben viele Fragen: Warum kann ein Pädophiler mit einem Facebook-Account so offen agieren? Warum zeigt ihn keiner an? Warum wird seine Sekretärin nicht verhaftet? Warum verkaufen Mütter ihre Kinder im Netz? Die „ANCE“-Sozialarbeiterin Edit Manzaranes und Direktorin Rhoy Dizon wirken ernüchtert nach dem Gespräch mit Exel. Die Dimension der Problematik macht ihnen zu schaffen. Das Team braucht dringend einen IT-Spezialisten.
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