Gefangen in der TraditionAls Isina aus ihrem Dorf flieht, weiß sie, dass sie ihre Familie vielleicht
nie wiedersehen wird. Doch daran denkt das Mädchen jetzt nicht. Sie will
einfach nur weg von ihrem Vater und dem, was er für ihre Zukunft entschieden hat. |
Text: Bettina Tiburzy; Fotos: Hartmut Schwarzbach
Eigentlich hatte Isina, die ihren richtigen Namen aus Angst nicht nennen will, mit ihrer Familie in Frieden gelebt. Ihr Vater hatte ihr den Schulbesuch erlaubt. Gerade hatte die 13-Jährige die Grundschule beendet und wäre gerne auf eine weiterführende Schule gegangen. Doch für die meisten Massai-Mädchen bleibt das ein Traum. Und in der Tradition der Massai sind Träume nicht vorgesehen. Kaum eine andere Volksgruppe in Tansania hält so stark an ihren Bräuchen fest wie sie. In der Lebenswelt der Hirten, in der sich alles um deren Vieh dreht, ist die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau klar geregelt. Während die Massai-Männer für die Sicherheit der Dörfer und der Rinder verantwortlich sind, kümmern sich die Frauen um die Versorgung der Familie. Sie melken die Kühe, kochen, sammeln Feuerholz und holen Wasser. Und wie nebenbei ziehen sie oft noch eine stattliche Anzahl Kinder groß.
„Die Frauen arbeiten sehr hart“, erzählt Schwester Leah. „Doch Mitspracherechte haben sie keine.“ Die 42-jährige Ordensfrau sitzt in einem Geländewagen und weist dem Fahrer den Weg. Mühsam schlängelt der Jeep sich einen Hügel hinauf, schliddert auf der aufgeweichten Piste hin und her, rutscht schließlich zur Seite.
Der Fahrer gibt Gas und kann gerade noch verhindern, dass das Gefährt umkippt. „Wir werden es nicht ins Dorf schaffen“, sagt er. „Kein Problem, dann gehen wir zu Fuß“, antwortet Schwester Leah, greift ihre Handtasche und nickt ihrer Mitschwester aufmunternd zu. Und schon sind sie unterwegs. Schwester Leah Kavugho gehört zur Gemeinschaft der „Oblate Sisters of the Assumption“. Seit mehr als zehn Jahren arbeiten sie mit den Massai in verschiedenen Dörfern des Erzbistums Arusha, meist in entlegenen Regionen, in denen es kaum Schulen und eine schlechte staatliche Gesundheitsversorgung gibt. Ein Drittel der Massai in diesen Dörfern gehört dem christichen Glauben an. Es gibt sogar einige Massai-Katechisten.
Die Schwestern haben Frauengruppen ins Leben gerufen, die sie dabei unterstützen, kleine einkommensschaffende Projekte zu starten. Sie klären auch über Gesundheitsrisiken auf, ermutigen Schwangere, rechtzeitig vor der Geburt eine Krankenstation aufzusuchen. Sie betreiben Kindergärten, Schulen und ein Ausbildungszentrum für Lehrer. Und immer wieder erklären sie den Dorfgemeinschaften, wie wichtig es ist, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
Kurz nach Ende des letzten Grundschuljahres hatte Isina beobachtet, wie die Frauen in ihrem Dorf große Mengen Essen zubereiteten. Junge Massai-Krieger probten Tänze. Kein Zweifel: Ein Hochzeitsfest stand kurz bevor. Isina fragte eine Freundin: „Wer soll denn verheiratet werden?“ Die Antwort: „Das bist Du.“
Kinderehen sind bei den Massai keine Seltenheit. Oft werden die Mädchen im Alter zwischen elf und 13 Jahren beschnitten und von ihren Vätern kurz darauf vermählt. Dafür erhält der Vater der Braut bis zu 20 Kühe und meist auch etwas Geld. Oft steht schon Jahre vor der Hochzeit fest, wer mit wem verheiratet wird.
Auch Isina kannte den Mann, den sie heiraten sollte. Mit 50 war er so alt wie ihr Vater. Er hatte bereits zwei Ehefrauen und Kinder, die älter als Isina waren. Als sie erfuhr, dass ihre Heirat unmittelbar bevorstand, rannte sie weg. Sie wollte zu den Schwestern, die ihr gesagt hatten, dass sie selbst über ihr Leben entscheiden könne.
Freundlicher Empfang
Als Schwester Leah und ihre Mitschwester das Dorf erreichen, das aus einem Dutzend fensterloser Lehmhütten besteht, laufen ihnen schon Kinder entgegen. Hochgewachsene Massai-Männer begrüßen die beiden freundlich. Einige sind alte Bekannte. Sie haben für die Ordensfrauen schon als Nachtwächter gearbeitet, als sich die Oblatinnen 2003 in dieser Region niederließen. Einige Frauen sitzen zusammen und fertigen Massai-Schmuck aus kleinen, bunten Perlen an.
„Diese Gruppe haben wir ins Leben gerufen“, erklärt Schwester Leah stolz. „Durch den Verkauf an Touristen erwirtschaften die Frauen ein kleines Einkommen.“ Die Schwestern unterstützten die Frauen auch finanziell, indem sie ihnen Geld für eine Kuh gaben. „Das war vor zehn Jahren. Heute hat jede Frau eine eigene Kuh, kann die Milch verkaufen“, erklärt Schwester Leah. So können sie etwas Geld sparen, um die Kinder zur Schule zu schicken.
Von den Frauen erfährt Schwester Leah, dass in der Nacht ein Kind zur Welt gekommen ist. Ein freudiges Ereignis. Doch die Schwester hätte es lieber gesehen, wenn der Ehemann seine hochschwangere Frau vorher in das Krankenhaus gebracht hätte. Denn oft sterben Frauen unter der Geburt. Seit Jahren klären die Schwestern darüber auf. Meist mit Erfolg. Die Sterblichkeitsrate ist bereits gesunken.
Auf dem Weg zum Neugeborenen und dessen Mutter wendet sich Schwester Leah an den Vater: „Warum hast du sie nicht in die Krankenstation gebracht? Du weißt, wie schnell etwas schieflaufen kann.“ Der Mann versucht, sich zu rechtfertigen: „Ja Schwester, wir wollten sie bringen. Doch das Kind kam früher als gedacht.“ Schwester Leah kräuselt die Stirn und straft ihn mit einem zweifelnden Blick. Doch als sie die Hütte betritt und Mutter und Kind sieht, ist der Ärger bereits verflogen.
Seit 2011 leitet Schwester Leah, die ursprünglich aus dem Kongo stammt, die Gemeinschaft der Oblatenschwestern in Tansania. Regelmäßig besucht sie von ihrem Konvent in Arusha aus die beiden Außenstationen ihres Ordens in Wasso und Loliondo, in der Nähe der kenianischen Grenze. Nur eine neunstündige Tagesreise mit einem öffentlichen Bus über Sand- und Geröllpisten bringt sie dorthin.
Mühselig sind nicht nur die langen Reisen. Immer wieder kämpfen die Schwestern auch mit Rückschlägen bei ihrer Arbeit. Etwa als eine mysteriöse Krankheit alle Hühner einer ihrer Frauengruppen dahinrafft und das ein- kommensschaffende Projekt damit scheitert. Oder als der Schlafsaal ihres Schulinternats in Arusha durch einen Kurzschluss in der Elektrik niederbrennt.
Besonders traurig und wütend hat Schwester Leah aber das Schicksal des Massai-Mädchens Soi Sadira gemacht. Die Eltern übergaben die Zwölfjährige einem 45-jährigen Mann als Ehefrau. Bei der ersten Gelegenheit lief das Mädchen zurück nach Hause. Doch die Eltern schickten sie in Begleitung von drei Männern zurück. Als sich das Mädchen auf dem Weg weigerte weiterzugehen, schlugen die Männer sie. Soi starb an ihren Verletzungen.
Auf ihrer Flucht war Isina die ganze Zeit über auf der Hut. Obwohl die Savanne nur dünn besiedelt ist, sind auf den Sandpisten immer Menschen unterwegs: Frauen, die mit Eseln Wasserkanister und Brennholz transportieren, Massai-Männer, die ihre Rinderherden bewachen. Isina versteckte sich jedes Mal, wenn sie eine Bewegung ausmachte. Sie konnte sicher sein, dass ihr junge Männer auf den Fersen waren. Schließlich gelang es dem Mädchen, die Ordensfrauen in Wasso zu erreichen. Sie nahmen Isina auf und organisierten ein Auto der Diözese, das sie in das Schulinternat des Ordens nach Arusha brachte.
„Ich respektiere die Kultur der Massai“, erklärt Schwester Leah. „Doch Frauen sollten wählen können, wie sie ihr Leben führen möchten. Und das können sie nur, wenn sie einen gewissen Bildungsstand erreicht haben.“ Es sei nicht einfach in einer Kultur, in der Frauen traditionell keine Mitspracherechte haben, die Männer für Ideen von Gleichheit und gegenseitigem Respekt zu gewinnen.
Schwestern überzeugen Dorfälteste
Durch ihre Besuche in den Dörfern konnten die Schwestern immer mehr Männer davon überzeugen, Mädchen auch über die Grundschule hinaus zur Schule zu schicken. „Es ist wichtig, gerade die Dorfältesten von den Vorteilen einer guten Schulbildung für Jungen und Mädchen zu überzeugen“, sagt sie. Diese Männer erklärten es dann den jüngeren Männern. In einem Dorf stellten die Ältesten den Schwestern sogar Land für den Bau einer Schule zur Verfügung.
Mittlerweile sind einige Männer sogar stolz auf ihre Frauen, wenn diese selbst eigene Kühe besitzen oder ein kleines Einkommen erwirtschaften. „Die Männer haben ausdrücklich zugestimmt, dass die Frauen das Geld behalten dürfen“, berichtet Schwester Leah.
An manchen Tagen zeigt sich früh morgens der schneebedeckte Gipfel des Kilimanjaro in der Morgensonne, bevor er für den Rest des Tages in Wolken eintaucht. Vom Konvent der Oblatinnen in Arusha ist er gut erkennbar. Die 115 Mädchen im Schulinternat haben für den berühmtesten Berg Afrikas keinen Blick übrig. Sie strömen in die Klassenräume, manche mit ernster Miene, manche übermütig lachend und voller Tatendrang.
Seit zwei Jahren lebt und lernt Isina jetzt im Schulinternat in Arusha. „Manchmal vermisse ich meine Eltern, besonders meine beiden kleinen Geschwister“, sagt sie. „Aber dann denke ich, mein Zuhause ist jetzt hier.“ Isinas Eltern wissen, dass ihre Tochter in Arusha zur Schule geht. Nur wo genau, wissen sie nicht. „Mein Vater wird sicher sehr wütend sein. Er sollte ja Kühe und Geld für mich bekommen“, erklärt Isina. „Aber das Geld ist schnell ausgegeben. Und die Kühe sterben. Doch meine Bildung wird mich ein Leben lang begleiten.“