Zwischen den Fronten„Gottes Weg führt nicht über Blutlachen und Folter“, predigte Oscar Arnulfo Romero 1977,
drei Jahre vor seiner Ermordung. 1992 hatte das Blutvergießen in El Salvador ein Ende.
Doch der Traum des Bischofs vom Frieden hat sich bis heute nicht erfüllt. |
Text: Sandra Weiss; Fotos: Florian Kopp
„Wir sind Geiseln“, sagt Vladimir Paz, und aus seinen Worten klingt mehr Resignation als Wut. Der schüchterne, blasse Jugendliche lebt in Colonia Monseñor Romero, einer bitterarmen Ansiedlung von obdachlosen Opfern des Erdbebens von 2001. Die Siedlung vor den Toren von San Salvador liegt im Kriegsgebiet. Eingequetscht zwischen der Mara Salvatrucha und der Mara 18. Beides sind Jugendbanden, zu denen sich nach dem Friedensschluss desorientierte Kriegskinder und aus den USA abgeschobene, straffällige Migranten zusammenschlossen.
Es fing an mit Graffitis und Revierkämpfen. Dann kam der Drogenhandel und mit ihm das Geld. Heute ist aus den Banden ein unkontrollierbares Monster mit rund 60.000 Mitgliedern geworden. Minderjährige mit Schnellfeuerwaffen, hierarchisch strukturiert wie die Mafia. Eine Geldmaschine des Verbrechens. Die Maras diktieren dem mittelamerikanischen Land von der Größe Hessens ihre Regeln. Wer kein Schutzgeld zahlt, stirbt. Wer die Polizei holt, stirbt. Will die Mara ein Haus, werden die Besitzer aufgefordert, innerhalb von 24 Stunden zu verschwinden. Gefällt den Bossen ein Mädchen, wird es entführt. Wenn die Eltern Glück haben, bekommen sie ihre Tochter nach brutalen Massenvergewaltigungen wieder zurück. Die Reichen schotten sich hinter stacheldraht-bewehrten Mauern und Armeen von Bodyguards ab. Die Armen sind der Brutalität schutzlos ausgeliefert.
Vladimir ist ein Vorzeigeschüler, sein Zeugnis strotzt vor Bestnoten. Er hat ein Stipendium an der katholischen Schule der Franziskanerinnen der Unbefleckten Empfängnis. Im Gegenzug dafür lehrt er in seiner Freizeit anderen Jugendlichen den Umgang mit dem Computer. Aber Vladimir lebt in ständiger Angst. Den Schulweg legt er raschen Schrittes und gesenkten Blicks zurück. „Am besten du siehst nichts und redest nichts“, rät der 17-Jährige. Schon ein forscher Blick kann ein Todesurteil sein, und Vladimir möchte am liebsten unsichtbar sein. Um dem Schicksal seines älteren Bruders zu entgehen. Ulises wurde vor drei Jahren von Maras auf dem Rückweg vom Gottesdienst aus einem Bus geholt und erschossen, weil er sich geweigert hatte, der Bande beizutreten.
Erfolgsgeheimnis: enge Bindung
Ulises war Vladimirs Lieblingsbruder, dessen Tod ein Wendepunkt in seinem Leben. „Vorher lungerte er gerne auf der Straße rum“, erzählt seine Mutter Idalia. Vladimir ist ihr Nesthäkchen, an dem die 56-Jährige hängt – besonders seit dem Tod ihres ältesten Sohnes. Nach Ulises Tod schickte sie Vladimir zu den Schwestern, um ihn dem Zugriff der Maras zu entziehen. Die Franziskanerinnen führen seit 1992 zwei Schulen in verrufenen Gegenden und haben gelernt, die Gefahren zu meistern. Bei ihnen herrschen strikte Regeln: „Durchsichtige Rucksäcke, akkurate Schuluniform, keine Piercings oder Tätowierungen“, zählt die Oberstufenlehrerin Maria de los Angeles Suncin auf.
Aber das eigentliche Erfolgsgeheimnis ist eine enge, persönliche Betreuung: „Die Kinder stammen oft aus zerrütteten Familien und haben keinen Halt und keine Liebe. Sie kennen nur die Gewalt der Maras und die Ausgrenzung, denn wer aus einem Armenviertel kommt, wird vom Rest der Gesellschaft stigmatisiert.“ Die Schwestern zeigen den Jugendlichen eine Alternative, meist die einzige, die sie im Leben haben. „Das klappt nicht immer, aber oft“, erzählt Direktorin Margarita Meléndez und zeigt stolz auf die mit Diplomen und Anerkennungen übersäte Wand hinter ihrem Schreibtisch.
Allein die Kirche wird noch respektiert
Ihre Erfahrung ist eingeflossen in die Mara-Pastorale der salvadorianischen Kirche. „Unsere Arbeit beginnt in der Familie“, sagt Weihbischof Gregorio Rosa Chávez, ein Weggefährte Romeros. Und sie endet in der Politik. 2012 erreichte die Kirche eine vorübergehende Waffenruhe zwischen den verfeindeten Banden. Die Kirche ist die einzige Institution, die von den Maras noch respektiert wird, weil Priester Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei anprangern oder dafür sorgen, dass in den vernachlässigten Vierteln beispielsweise ein Fußballplatz gebaut wird. Doch es ist ein steiniger Weg. „Immer, wenn ein Projekt funktionierte, zerstörte es der Staat wieder“, klagt Rosa Chávez unter Anspielung auf die Zeit vor 2009, als die rechte Arena-Partei regierte, deren Gründer Roberto D‘Aubuisson der Auftraggeber des Mordes an Romero war.
Die Maras waren für Arena ein dankbares Feindbild, um die Kalte-Kriegs-Logik fortzusetzen, und jeder Präsident wollte seinen Vorgänger mit einer Politik der noch härteren Hand übertreffen. Rosa Chávez erinnert sich, wie in einer Pfarrei eine Hühnerfarm aufgebaut wurde, um in einem Land mit 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit alternative Einkommensmöglichkeiten zu schaffen. „Wir bekamen Geld aus dem Ausland, die örtliche Polizei half beim Bau mit“, erzählt er. „Und dann wurde die Polizeieinheit ausgewechselt, und der neue Chef hat Jugendliche der Mara festnehmen lassen. Damit war das Projekt am Ende.“
Das soll sich nun ändern. Der aktuelle Präsident Salvador Sánchez Cerén ist ein ehemaliger Lehrer und gehört der aus der Guerilla hervorgegangenen linken Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) an. Seit vorigem Jahr gibt es einen Nationalen Rat zur Sicherheit und zum friedlichen Zusammenleben, in dem nicht nur Politiker und Experten sitzen, sondern auch die Kirche, die Polizei, Geberorganisationen und die Zivilgesellschaft. In der Colonia Monseñor Romero findet eines der Pilotprojekte des Sicherheitsrates statt.
Die örtliche Pfarrei, der Polizeiposten, der Bürgermeister und eine Nichtregierungsorganisation (NGO) veranstalten einen Freizeittag. Die Kirche hat Spielzeug und ein Planschbecken organisiert und stellt eine Animateurin, die Polizei bringt Fahrräder und sorgt für Sicherheit, die NGO hat einen Snack gespendet und der Bürgermeister das Zelt und das Wasser für das Planschbecken.
Alle Jugendlichen waren verdächtig
Die kleine Yulissa ist begeistert dabei. Ein Mädchen mit dunklen Mandelaugen und struppigen Haaren, die jeden Erwachsenen liebevoll umarmt, einschließlich des Polizeichefs. Ob sie vier oder fünf ist, weiß sie nicht genau. Ihre Mutter arbeitet die Woche über in einem fremden Haushalt, ihr Vater ist in die USA ausgewandert. Sie lebt bei ihrer Urgroßmutter, die schon über 90 und mit dem kleinen Energiebündel überfordert ist. Polizeichef Javier Bernal ist sichtlich berührt. Kinder zu unterhalten, ist für ihn eine neue Herausforderung: „Bisher war die Polizei repressiv. Wenn sie kam, rannten alle davon, und für die Polizisten waren pauschal alle Jugendlichen verdächtig. Die Gewalt schürte noch mehr Gewalt.“
Nun soll die Polizei bürgernah werden und präventiv arbeiten. Freizeitangebote gehören ebenso dazu wie Informationsveranstaltungen an Schulen. Es ist Neuland, gibt Bernal zu: „Das Modell ist innerhalb der Polizei umstritten.“ Dabei geht es nicht nur ums Prinzip: Die Mafia hat Teile der Polizei infiltriert und wenig Interesse daran, dass man ihre Handlanger abspenstig macht. Hinter der Gewalt verbirgt sich wie zu Zeiten Romeros strukturelle Ungerechtigkeit. Dafür ist die Siedlung ein mahnendes Beispiel. Die Bewohner der Wellblechhütten warten seit 14 Jahren auf ein Stück Land. Das Wasser für die 73 Familien tröpfelt aus zwei öffentlichen Hähnen; der Strom wird abgezweigt, sanitäre Installationen sind Fehlanzeige.
Drei dicke Ordner mit Schriftverkehr und dutzende frustrierender Behördengänge hat Siedlungssprecher Raúl Acevedo angesammelt. Doch er ist zuversichtlich: „Dies ist das Jahr von Romero. Und es wird auch unser Jahr. So Gott will.“