Der versperrte HimmelIm Morgengrauen schlugen die ersten Granaten ein. Die Terrormiliz IS stand vor Karakosch. In Panik rafften die Leute
Geld, Pässe, Wertsachen zusammen und flüchteten. Abends war die christliche Stadt im Nordirak menschenleer.
Fotograf Andy Spyra traf die Flüchtlinge wieder – in einem Kloster in Kurdistan. |
Text: Beatrix Gramlich/Andy Spyra; Foto: Andy Spyra
Das Donnern der Granaten riss sie aus dem Schlaf. Sie waren sofort hellwach. Die Einwohner von Karakosch wussten schon lange, dass sie nicht mehr sicher waren. Vor zwei Monaten hatte die Terrormiliz IS (Islamischer Staat) das nahe gelegene Mossul überrannt. Die Millionenstadt liegt 30 Kilometer nördlich von Karakosch in der christlichen Ninive-Ebene – seit Menschengedenken biblisches Stammland. Jahrhundertelang lebten Christen und Muslime hier Tür an Tür. Ihre Kinder drückten gemeinsam die Schulbank, sie machten Geschäfte miteinander und halfen sich gegenseitig. Es spielte keine große Rolle, wer welcher Religion angehörte. Trotzdem waren die Christen immer eine Randgruppe in der Gesellschaft geblieben. Sie legten Wert auf Bildung, brachten es zu Wohlstand, galten als integer und wurden auch deshalb von Saddam Hussein gerne mit Staatsämtern betraut.
Mit dem Sturz des Diktators änderte sich das schlagartig. Christen wurden zur Zielscheibe von Hass, Gewalt und religiös verbrämten Übergriffen. Tatsächlich waren sie oft schlichtweg Opfer lukrativer Überfälle oder einer florierenden Erpressungs- und Entführungsindustrie. Doch dann führte der IS- Terrorfeldzug zu einer Brutalität, die niemand sich vorzustellen gewagt hatte. In Mossul brandmarkten die Dschihadisten die Häuser der Christen mit einem scharlachroten „N“ wie Nazarener. Wer das Zeichen sieht, weiß, was es bedeutet: zum Islam konvertieren, horrende Schutzsteuern zahlen oder Tod durch das Schwert. Darauf wollten die Einwohner von Karakosch nicht warten.
Spyra: „Viele sind nicht zum ersten Mal aus Karakosch geflohen. Die Stadt wurde über Wochen beschossen. Sie waren schon vorher zwei-, dreimal geflüchtet und sind dann, als es ruhiger wurde, zurückgekehrt. Am 6. August schlugen morgens Granaten ein. Es war der finale Angriff von IS. Die Leute rannten in Panik zu ihren Autos und wollten nur eins: raus aus der Stadt. Auf der Straße nach Erbil, das im kurdischen Autonomiegebiet liegt, staute sich den ganzen Tag der Flüchtlingsstrom. Karakosch war eine Stadt mit 50.000 Einwohnern. Abends um zehn hatten sie alle Zivilisten verlassen. Die letzten Peschmerga-Kämpfer zogen gegen drei Uhr morgens ab. Eine Stunde später rückten die IS-Truppen ein.
Eines der ersten Fotos, die Spyra aus dem Irak schickt, erinnert an ein Suchbild, bei dem man erst nach langem Betrachten erkennt, worum es eigentlich geht: Auf dem Boden liegen weinrote Teppiche mit typisch orientalisch-ornamentalen Mustern, darauf verteilt kleine Gruppen von Menschen: Schulkinder, die im Kreis sitzen, stickende Frauen, eine Mutter mit Baby auf dem Arm, Familien auf kantigen Holzbänken. An den Wänden stapeln sich Möbel, Decken, Bettzeug, Pappkartons, aus denen Kleidung quillt. Es sieht aus, als hätte jemand versucht, aufzuräumen, aber irgendwann kapituliert – weil das Behelfsmäßige nicht dazu taugt, ihm eine Ordnung zu geben. Weil es hier nichts gibt, was den Eindruck erweckt, es könne von Dauer sein. Alles wirkt, als hätte ein Choreograf dieses Stillleben, in dem alle Bewegung erstarrt zu sein scheint, sorgfältig arrangiert, um es im nächsten Moment zum Leben zu erwecken.
Mitten durch diese beinahe surreale Szene spannt sich eine Schnur mit bunten Stoffbahnen. Sie teilt den Raum der Länge nach in zwei Hälften und dient zugleich als Wäscheleine. Auf der linken Seite spielt sich Alltagsleben ab, rechts feiern die Menschen Gottesdienst. Es ist der Blick in eine Kirche und offenbart eine gleichermaßen absurde wie anrührende Situation: Das Kloster der Jungfrau Maria in Sulaymaniyya ist Zufluchtsstätte für zahlreiche Flüchtlinge aus Karakosch.
Spyra: „Im Kloster leben 200 Flüchtlinge – 100 in der Kirche, die anderen in umliegenden Häusern und Räumen, die zum Kloster gehören. Jens Petzold ist der einzige Ordensmann hier. Wenn er Messe feiert, geht jemand durch den zum Wohnraum umfunktioniertenTeil, macht „Pssst“ und mahnt zur Ruhe. Sulaymaniyya liegt in der kurdischen Autonomieregion. Das Kloster wird rund um die Uhr von Peschmergas bewacht. Die Leute fühlen sich hier sicher. Sie haben durch Mundpropaganda von dem Kloster gehört und wussten, dass es Flüchtlinge aufnimmt.“
Einer der Flüchtlinge ist Ziad Salem. Der 36-Jährige hat mit den beiden Töchtern und seiner schwangeren Frau Obdach in der Kirche gefunden. „Das ist ein guter Platz“, sagt er. „Ich bin froh, dass ich hier bin.“ Das Kloster ist die vorläufige Endstation einer mehrwöchigen Odyssee über Erbil, den Libanon und verschiedene Stationen in Sulaymaniyya. In Erbil hatten sie sich in einem Hotel einquartiert, aber die Zimmerpreise von 100 US-Dollar täglich fraßen ihre Geldreserven schnell auf; und bei dem Flüchtlingsansturm eine Mietwohnung zu finden, war hoffnungslos. Die Salems zogen weiter in den Libanon. Dort konnten sie bei Ziads Bruder wohnen, der schon vor ihnen geflohen war. Sie ließen sich bei der UN registrieren und hätten hier auch das Baby anmelden können. Doch das Leben im Libanon ist teuer. Mit 1,4 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak sind nicht nur die Bevölkerungszahlen um ein Drittel gewachsen, sondern auch die Preise für Mieten und Lebensmittel explodiert. Im Durchschnitt dauert es zwei Jahre, bis die Flüchtlinge offiziell anerkannt sind. In dieser Zeit haben sie Residenzpflicht, dürfen aber offiziell nicht arbeiten. Ziad suchte einen Job auf dem Schwarzmarkt – vergeblich.
Insgeheim aber hoffte er, bald nach Karakosch zurückkehren zu können. Dort hatten sie ein gutes Leben gehabt. Sie besaßen ein Bekleidungsgeschäft, ein Haus, ein Auto. Wie die anderen war Ziad auch bei seiner letzten Flucht überzeugt, dass sie nach ein paar Tagen zurückkommen würden. Sie hatten nicht einmal eine Tasche für den Notfall gepackt.
„Als ich hörte, dass Karakosch an IS gefallen ist, war ich ein gebrochener Mann“, gesteht Ziad. „Ich habe alles verloren.“ Verwandte gaben ihm den Tipp mit der Kirche. Und so landeten sie schließlich im Kloster der Jungfrau Maria in Sulaymaniyya – ein schmuckloser, Ende des 19. Jahrhunderts errichteter Gebäudekomplex im Zentrum der 800.000-Einwohner-Stadt.
Spyra: Das Kloster ist nach allen Seiten hermetisch abgeriegelt – durch andere Gebäude, zur Straße hin durch eine Mauer. Es gibt nur zwei Räume, in denen sich die Leute aufhalten können: die Kirche und einen Aufenthaltsraum. Es ist klaustrophobisch. Wie im Knast. Es gibt keinen Ausblick. Es ist schrecklich zu fotografieren. Alles Leben spielt sich im Innenhof ab. Der ist klein und nicht besonders schön. Du siehst nichts, keine Landschaft, keine Häuser, nur ein 20 mal 20 Meter großes Stück Himmel. Hier sitzen die Leute, rauchen, reden, trinken Tee, schlagen die Zeit tot. Nach ein paar Tagen wirst du selber lethargisch. Ich war froh, als ich wieder weg konnte und der Enge entfliehen.
Im Innenhof trifft Spyra Niveen. „Wir brauchten sechs Stunden bis Erbil – für eine Strecke, die man normalerweise in einer Stunde schafft“, erzählt sie. „Wir hatten furchtbare Angst. Es herrschte Chaos, die Leute rannten und schrien. 50.000 Menschen versuchten, sich über diese eine Straße Richtung Erbil in Sicherheit zu bringen.“ Die 24-Jährige hatte in Mossul Medizin studiert und bereits alle Abschlussprüfungen abgelegt, als ihre Familie aus Karakosch fliehen musste. Nur das Universitätszeugnis fehlte ihr noch. Vermutlich wird sie es nie bekommen und damit ihren Studienabschluss nicht nachweisen können. Muslimische Freunde, sagt Niveen, hätten ihr geraten, nach Mossul zu fahren, um ihre Papiere dort abzuholen. „Aber ich traue ihnen nicht mehr. Jeder weiß, dass Mossul für eine christliche Frau tödlich ist.“
Niveen ist mit zehn Familienmitgliedern in einem kahlen Nebenraum des Klosters untergekommen. Die Studentin hilft bei der Essensausgabe, andere bereiten die Mahlzeiten zu. Ehemalige Lehrer unterrichten Schüler in einem UNHCR-Zelt, das sie auf dem Gelände aufgestellt haben. Junge Frauen geben Kinderkatechese. Die Flüchtlinge organisieren sich weitgehend selbst. Darauf legt Pater Jens Petzold großen Wert.
Der Ordensmann besorgt lediglich die Lebensmittel. Ein- bis zweimal pro Woche braust er mit seinem Pickup davon und kehrt mit einer Ladefläche voll Reis, Nudeln, Kartoffeln, Tee, Zucker, Obst und Gemüse zurück. „Ich war von Anfang an überzeugt: Wenn die Leute mitmachen, werden sie mit ihrem Trauma besser fertig“, erklärt er. „Nicht, weil sie dann keine Zeit mehr haben. Sie haben jede Menge Zeit zum Nachdenken. Aber sie können etwas tun, um ihr Leben zu verbessern.“
Der 53-Jährige gehört zu einer jungen, interreligiösen Gemeinschaft mit Mutterhaus im alten Felsenkloster Mar Musa in Syrien. Die Männer und Frauen unterschiedlicher Konfessionen, die dort zusammenleben, haben sich Gastfreundschaft und den Dialog mit dem Islam zur besonderen Aufgabe gemacht. Vor fünf Jahren lud der Bischof von Kirkuk sie ein, hier in Kurdistan in der Kirche der Jungfrau Maria ein Kloster einzurichten. Nie hätte Pater Petzold gedacht, dass sein Gelübde einmal eine solche Herausforderung würde. Doch als die Flüchtlinge aus Karakosch anklopften, hat er keine Minute gezögert und die Türen weit aufgemacht. Dabei sind die 50 Familien, die er beherbergt, nur ein Bruchteil des immensen Flüchtlingsstroms. Nach UN-Angaben haben allein innerhalb eines Monats 300.000 Menschen aus Mossul und der umliegenden Provinz Ninive im kurdischen Autonomiegebiet Zuflucht gesucht.
Auch die Einwohner von Sulaymaniyya haben die Neuankömmlinge mit offenen Armen empfangen. Als Kurden wissen sie, was es heißt, ungeliebt zu sein und vertrieben zu werden. Großzügig haben sie Decken, Kleidung, Geld gespendet. Auf den ersten Blick sind die Flüchtlinge gut versorgt. Sie sind ordentlich gekleidet, haben ein Dach über dem Kopf, brauchen keinen Hunger zu leiden. In ihrem Inneren sieht es anders aus.
Spyra: „Äußerlich wirken die Leute gefasst. Aber viele mussten wegen der wiederholten Angriffe auf Karakosch immer wieder fliehen. Sie sehen keine Perspektive – weder als Individuum noch als christliche Gemeinschaft im Irak. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Das zeichnet sich in ihren Gesichtern ab. Manche starren stundenlang vor sich hin, ohne einen anzusehen. Niemand, mit dem ich gesprochen habe, wollte sich fotografieren lassen. Sie schämen sich. Die Flucht bedeutet für sie einen enormen Statusverlust. Die Einwohner von Karakosch waren Ärzte, Lehrer, Geschäftsleute, manche hatte zwei oder drei Häuser, Autos, Läden. Jetzt haben sie nichts mehr.“
Die Flüchtlinge leben seit mehreren Monaten im Kloster. Pater Petzold beobachtet, wie die Ungewissheit sie allmählich zermürbt. „Viele Leute hier waren nach europäischen Verhältnissen vielleicht nicht reich, aber sie hatten ein sehr gutes Auskommen. Jetzt sind sie in einer Situation, in der sie sehr abhängig und verletzlich sind, wo es wenig Sicherheit gibt.“ Im Grunde, glaubt der Ordensmann, seien sie seit Langem traumatisiert. Denn in den vergangenen drei Jahrzehnten hat der Irak nie echten Frieden erlebt: Von 1980 bis 1988 führte er Krieg gegen den Iran. 1990/91 – nachdem Saddam Hussein Kuwait annektiert hatte, begann unter einer von den Amerikanern geführten Allianz der zweite Golfkrieg, 2003 der dritte. Die Jungen kennen ihre Heimat nur als geschundenes, zerstörtes, von Anschlägen erschüttertes Land. „Das ist ein Trauma“, sagt Pater Petzold, „das seit Generationen weitergegeben wird. Das Trauma von einem kontinuierlichen Vertrauensverlust in die Gesellschaft. Und dann natürlich das neue, dass man auf einen Schlag alles verliert.“
Für die Flüchtlinge ist der warmherzige Ordensmann Ansprechpartner, Manager, Problemlöser und Seelsorger in einer Person. Sie können mit allem zu ihm kommen. Der gebürtige Berliner spricht fließend Arabisch. Auch das schafft Nähe. Im Gottesdienst richtet er sein besonderes Augenmerk auf die Danksagung. „Wenn da ein Kind sagt: ‚Danke, dass mein Vater heil angekommen ist‘, hat es etwas verstanden. Die Augen für das Spirituelle zu öffnen – das trainiert zu sehen, wo Gott in der Welt ein bisschen schiebt.“ Vor allem jedoch möchte der Pater den Menschen Perspektiven eröffnen. Mit Unterstützung von missio will er Containerhäuser aufstellen und ihnen damit nicht nur ein wenig Privatsphäre, sondern auch Zeit zum Nachdenken verschaffen. „Es ist nicht ganz unwichtig für die Zukunft des Christentums“, sagt er, „den Menschen hier zu helfen, eine Entscheidung zu treffen, ob sie weggehen oder nicht.“
Spyra: Durch ihre Religion, Kultur und Sprache sind die irakischen Christen immer ein Fremdkörper in der Gesellschaft geblieben, zerrieben zwischen den Interessen von Kurden, Schiiten und Sunniten. Die Christen waren nie integriert, aber ein Puffer im Machtgefüge: Ihr Exodus – seit 2003 haben 1,5 Millionen Christen den Irak verlassen – führt zu einer Abwärtsspirale aus Armut und Gewalt. Schulen und Bildungseinrichtungen werden geschlossen, die Intelligenz reist aus. Das hinterlässt ein Vakuum, das schwer zu füllen ist und vermutlich für machtpolitische Interessen
missbraucht wird.“
Viele Christen glauben, dass sie in ihrer Heimat nicht mehr erwünscht sind und haben nur ein Ziel: die Ausreise. Niveen will mit ihrer Familie nach Australien, wo bereits Verwandte leben. Davor aber werden sie einen Umweg über Jordanien machen. Anders als in der kurdischen Autonomieregion, in der sie nur als Binnenflüchtlinge gelten, können sie sich dort bei den Vereinten Nationen als Flüchtlinge registrieren lassen und – so Gott will – irgendwann weiterziehen.
Nur Ziad Salem hofft weiter wider alle Vernunft. Er ist ein gläubiger Mensch und überzeugt, dass Gott ihm zur Seite steht. Sein größter Wunsch ist, dass endlich wieder Frieden im Irak einkehrt und er nach Karakosch zurückkehren kann. Wenn das Baby kommt, werden sie es in Bagdad ins Melderegister eintragen lassen müssen. Aber Bagdad ist gefährlich. Die Terrormiliz steht nicht weit vor der Hauptstadt.
Spyra: An meinem letzten Tag gab es einen Anschlag in der Innenstadt von Erbil. Der IS-Terror rückt näher. Es wäre illusorisch zu glauben, die Dschihadisten würden vor Kurdistan Halt machen.