Das Leben gewinnenIn China wurden Menschen mit Behinderungen lange Zeit versteckt. Kinder wurden
ausgesetzt und von den Eltern verstoßen, weil diese überfordert waren. Die Ein-Kind-Politik
hat das Schicksal von behinderten Kindern verschärft. Nun werden Änderungen sichtbar. |
Text: Jobst Rüthers; Fotos: Kathrin Harms
Was für ein schöner Name: Tian Dabao. Die 28-jährige junge Frau lächelt, als sie dem Besucher aus Deutschland ihren chinesischen Namen erklärt. Tian heißt Himmel, und im Chinesischen wird der Nachname zuerst genannt. Dann an zweiter Stelle der Vorname: Dabao. Das heißt „Großer Schatz.“
Dass Tian einen solch wunderbaren Namen erhalten hat – wer wird schon mit „Großer Schatz“ angesprochen –, steht so ganz im Widerspruch zu den schrecklichen Erfahrungen, denen sie als Kleinkind ausgesetzt war. Kurz nach der Geburt wurde das Mädchen ausgesetzt. „Es gab in meiner Familie schon sieben Kinder, alles Mädchen. Und ich als letztes Kind war wieder ein Mädchen“, erzählt Dabao. Ihre Eltern waren überfordert, vor allem damit, dass Dabao starke Behinderungen an Armen und Beinen aufwies. „Das konnten meine Eltern nicht ertragen, deswegen haben sie mich ausgesetzt. Jemand aus der Nachbarschaft kam gerade vorbei und sah am Straßenrand einen kleinen Karton, darin lag ich“, berichtet Dabao von ihrer eigenen Geschichte, wie sie sie aus den Erzählungen ihrer älteren Schwestern kennt.
Ausgesetzt und alleingelassen. Dabao ist gerade einen Monat alt, als sie zum ersten Mal in eine fremde Familie vermittelt wird, „eine fromme katholische Familie“, wie sie sagt. Die selber schon mehrere Kinder hatte, alles Mädchen. Und nachdem auch hier weitere Mädchen geboren werden, sieht die Pflegefamilie sich überfordert und gibt Dabao wieder ab.
Der Mund ersetzt ihr Arme und Beine
Dabao wird in einem kleinen Heim der Ordensschwestern von der Heiligen Theresa aufgenommen. Eine unruhige Zeit beginnt, dreimal zieht Dabao im Waisenhaus ein, zwischendrin holt die Pflegefamilie sie wiederholt zu sich. „Immer, wenn ich im Heim war, habe ich stark abgenommen, weil ich nicht essen wollte. Die Pflegefamilie hat extra eine Ziege gekauft, deren Milch ich trinken konnte. Nach dem dritten Mal hin und her bin ich endgültig im Heim geblieben, ich war damals fünf Jahre alt“, erzählt die junge Rollstuhlfahrerin.
Tian Dabao kann ihre Arme und Beine nicht bewegen und ist deshalb auf Unterstützung angewiesen, um alltägliche Dinge zu verrichten. Und zugleich hat sie besondere Fähigkeiten entwickelt, ihre Einschränkungen auszugleichen, beispielsweise mit dem Mund. Mit großer Geschicklichkeit führt Dabao beim Malen den Pinsel mit dem Mund. Und zieht den Faden durch das Öhr einer dünnen Nadel und reiht dann mit dem Mund Perle an Perle.
600 ausgesetzte Kinder
Mädchen und behindert – bis heute ist das eine in China lebensgefährliche Konstellation. In dem Riesenland mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen gab es bis vor kurzem eine rigide Ein-Kind-Politik. Wer mehr als das staatlich erlaubte Kind bekam, wurde mit hohen Gebühren und gesellschaftlichen Nachteilen bestraft. Das führte dazu, das weibliche Föten abgetrieben wurden. Und: Die Ein-Kind-Politik hat über Jahrzehnte auf Eltern den Druck ausgeübt, ein „perfektes Kind“ zu bekommen. Wenn sich abzeichnete, dass der Nachwuchs Behinderungen oder gesundheitliche Einschränkungen aufwies, sahen viele Eltern einen Ausweg nur darin, das eigene Kind auszusetzen.
Wie die Eltern von Tian Dabao. Und wie die Eltern von 600 weiteren Kindern, die seit 1988 an der Bischofskirche in Biancun ausgesetzt wurden – wohl in der Hoffnung, dass die Babys rechtzeitig gefunden und versorgt werden. Damals wiederbelebte der Bischof eine Schwesterngemeinschaft, die während der Kulturrevolution verboten worden war. Er gab ihr den Auftrag, Waisenhäuser aufzubauen und ausgesetzten Kindern eine Heimat zu geben. Die kleine Gruppe von jungen Frauen wuchs sehr schnell, als Schwestern von der Heiligen Teresa wollten sie gemeinsam ein religiöses Leben führen. Sie gründeten unweit des Bischofshauses das erste Waisenhaus und nannten es Liming Family.
Die komplette Reportage können Sie in kontinente 4/2015 lesen.