Die Felder des ÜberflussesTraditionell in die Moderne: Mit Waldgärten wollen Indigene am Amazonas denRessourcenreichtum ihrer Heimat und ihrer Zukunft sichern. |
Text: Sandra Weiss
Foto: Florian Kopp
Für den letzten Schlag holt Schwester Clistanes Silva noch einmal richtig aus und legt die ganze Kraft ihrer 1,52 Meter in den Oberkörper. Die Stachelpalme kapituliert vor ihrer Machete und stürzt mit einem leisen Ächzen um. Die Schwester lüftet ihr Baseballkäppi und wischt sich den Schweiß ab, den ihr das schwüle Amazonasklima schon zu frühmorgendlicher Stunde auf die Stirn treibt. Sie hält inne, während ihre Mitstreiter den Baum in kleine Stücke zerlegen und Äste und Holz als organisches Düngemittel ringsherum auf dem Boden verteilen. „Als ich dem Orden beigetreten bin, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal im Wald Bäume fälle“, sagt die 50-Jährige vom Orden der Töchter des Unbefleckten Herzens Maria schmunzelnd. Aber im Amazonasregenwald ist vieles anders als in ihrer Heimat am Meer im Nordosten Brasiliens. Als sie vor fünf Jahren in den Urwald auf die Missionsstation São Paolo de Olivença im Bundesstaat Amazonas versetzt wurde, rechnete sie mit dem normalen Missionsalltag: Krankenbesuche, Seelsorge, Gottesdienste, Pastoralarbeit. Es kam anders in diesem abgelegenen Grenzgebiet, wo Peru, Kolumbien und Brasilien aneinander- stoßen und vor allem Indigene leben.
Feld des Überflusses
Jetzt steht sie mitten im Urwald und lichtet das Dickicht mit einer Gruppe von Männern und Frauen der Ethnie Tikuna, um dort ein „Feld des Überflusses“ anzulegen. 60 mal 100 Meter, groß genug, um mehrere Jahre lang eine Familie zu ernähren – wenn man weiß, wie. Und das ist der Clou an der Fortbildung namens „Lebensprojekt“, an der Schwester Clistanes und ihr Team teilnehmen: „Lebendige Aula“ – Aula Viva – heißt das Konzept, das auf der Idee eines tropischen Waldgartens basiert. Angelernt werden die Teilnehmer von einer kolumbianischen Organisation namens „Wege der Kulturellen Identität“ (Fucai). Es ist ein praxisnaher Kurs, mitten im Urwald. Gastgeber ist die indigene Gemeinde Guanabara III; die rund 50 Teilnehmer kommen überwiegend aus Brasilien, manche auch aus Peru und Kolumbien. Die bolivianische Delegation hat es nicht geschafft, weil der Flug wegen schlechten Wetters gestrichen wurde – Normalität im amazonischen Dreiländereck.
Zivilisation hatte Tradition verdrängt
Trotz der geografischen Abgeschiedenheit ist die Zivilisation bis hierher vorgedrungen. Softdrinks, Satellitenfernsehen, Plastiktüten, Brandrodung – all das hat die überwiegend indigenen Gemeinden in den vergangenen 50 Jahren im Sturm erobert und traditionelle Lebensweisen verdrängt. Doch vieles, was Siedler, Goldgräber und der Staat brachten, ist Gift für den Regenwald und die an ihn angepassten, traditionellen Lebensformen der Indigenen. Das Feld des Überflusses ist so, wie es Eladio Fernandes Urgroßvater noch gemacht hatte: Maniok neben Ananas und Bohnen, flankiert von Mango- und Zitronenbäumen, Bananenstauden und Zuckerrohr neben Acai- und Pupunha-Palmen.
Angelegt in Gemeinschaftsarbeit an einem einzigen Tag, alles gleichzeitig gepflanzt aber mit unterschiedlichen Wachstumsphasen, sodass es das ganze Jahr über etwas zu ernten gibt. Das organische Material der gefällten Bäume dient als Dünger – zusätzlicher Kunstdünger ist nicht notwendig. Bitter-Maniok als Feldbegrenzung hält Schädlinge fern. Billig, schnell, nachhaltig im Vergleich zur üblichen Brandrodung. Sogar das Arbeiten ist angenehmer im Halbschatten des Wald- gartens, im Gegensatz zur Schufterei unter der glühenden Tropensonne eines brandgerodeten Feldes.
Vielfalt statt Monokultur
„Ich weiß gar nicht so recht, weshalb und wann wir damit aufgehört haben“, sagt Cacique Fernandes mit einem Kopfschütteln. Es muss der Einfluss der Weißen gewesen sein. Siedler setzten auf Brandrodung, bauten wenige Produkte in großer Zahl an und verkauften den Überschuss in der Stadt. Politiker verschenkten im Wahlkampf Dünger oder landwirtschaftliche Geräte, der Staat schuf Projekte und versprach Märkte und Abnehmer – mal für Acai, dann für Reis oder Kakao. Meist wurden die Projekte zusammengestrichen, noch bevor die erste Ernte reif war, und die Bauern blieben auf ihrer Produktion sitzen. Die brandgerodeten Felder
erodierten schnell und waren ausgelaugt. Trotzdem ließen die Bauern sich einreden, das sei die Modernität.
Speisekammer Amazonas
So kam es zu Mangel- und Unterernährung, mitten im Überfluss einer so
gigantischen Speisekammer wie dem Amazonas. „Wir wurden blind, wir haben einfach nicht mehr gesehen, was wir alles haben, sondern was wir alles nicht haben“, sagt Fernandes.
Schwester Clistanes sah die Probleme, sah die Armut, sah einen Staat, der zwischen Vernachlässigung und Paternalismus hin- und herschwankte. Doch ihr fehlte das Instrument, um die Lebenssituation der Menschen in ihrer Region zu verbessern. „2015 lud uns Fucai zu einer Schulung über Waldgärten ein. Dabei fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und gemeinsam haben wir vier Schwestern beschlossen, dass wir das umsetzen wollen“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Zuerst wurde der eigene Garten umgestellt – als Training sozusagen. Fucai stellte den Schwestern dann einen Agronomen zur Seite, der Schulungen abhielt und bei technischen Fragen beistand.
Inzwischen nehmen 80 Familien im Umkreis von São Paolo de Olivença am Programm der Schwestern teil. Die Schwestern ergänzten den agronomischen Teil mit einem kulinarischen. Sie geben nun auch Ernährungs- und Kochkurse mit amazonischen Produkten.
Gesunde Ernährung
„Ich komme schon im zweiten Jahr ohne Brandrodung aus“, erzählt Divaney Kokama aus der Gemeinde Nova Jordania stolz. „Es arbeitet sich leichter und angenehmer mit dem System, und die Ernährung der Familie hat sich verbessert. Früher aßen wir vor allem
Maniokmehl und Fisch. Jetzt gibt es immer leckere Säfte und Obst“, erzählt der 47-Jährige. „Industrielle Lebensmittel kaufen wir fast gar nicht mehr. Vom Gesparten kann ich für meine vier Kinder Schulsachen oder Kleider kaufen.“ Anfangs waren Divaney und drei Nachbarn die einzigen, die das neue System ausprobierten. „Keiner glaubte daran. Es ist sehr schwer, die Menschen von etwas Neuem zu überzeugen und sie aus ihrer Routine zu holen, selbst wenn sie sehen, dass sie damit nicht vorankommen“, erzählt er.
Eine weitere Eingangshürde ist, dass Fucai im Gegensatz zum üblichen
Vorgehen des Staates und vieler Nichtregierungsorganisationen in der Gegend weder ein Startkapital gibt noch Materialien verschenkt. „Das einzige, was wir weitergeben, ist Wissen“, betont Juan Pablo Zárate von Fucai. Auch das ist ein Bruch mit westlichen Unsitten, an die sich die Indigenen gewöhnt haben. „Die meisten Projekte sind dazu da, die Indigenen in Abhängigkeit zu halten“, kritisiert Schwester Clistanes. „Oft bekommen sie nämlich nur Kredite für ihre produktiven Projekte, die dann zurückbezahlt werden müssen und die Indigenen in die Schuldenfalle treiben.“
Gemeinschaft stärken
Doch in Nova Jordania macht Divaneys Beispiel Schule. Immer mehr Gemeindemitglieder holten sich bei ihm Rat und besuchten schließlich selber eine sogenannte Aula Viva. „Das früher starke Gemeinschaftsgefühl der Indigenen ist durch den westlichen Einfluss zerstört worden“, erzählt Schwester Clistanes. „Ebenso wie die kulturelle und spirituelle Eigenheit der Amazonasvölker. Beides erhält durch die Aula Viva neue Nahrung.“
Denn deren Didaktik und Riten sind ganz auf die Flussanrainer und Ureinwohner abgestimmt. Gruppendynamische Spiele arbeiten den Gegensatz zwischen Überfluss und Mangel heraus – und die Rolle, die unsere Wahrnehmung dabei spielt. Immer wieder wird der lokale Überfluss in Szene gesetzt – zum Beispiel, wenn jeder der Teilnehmer Samen und Pflänzchen beisteuert zu einer Samenbank. Oder wenn geerntet wird und die Produkte wie bei Erntedank auf einem großen Mandala aus Bananenblättern ausgebreitet und dann gesegnet werden. „So viel wächst hier im Regenwald?“, fragt Fernandes am Abschlusstag erstaunt. Und als ihm dann Schwester Clistanes und die indigene Küchenchefin Irasete Coelho vorführen, wie viele unterschiedliche Gerichte man aus Maniok, Bananen, Kürbis, Amazonasfischen sowie Palm- und Tropenfrüchten kochen kann, ist er noch erstaunter. „Wir haben hier 35 verschiedene Gerichte auf der Basis von Maniok“, erklärt Coelho den Seminarteilnehmern. Das bunte Allerlei und der Duft aus den großen Töpfen lassen verführerisch das Wasser im Munde zusammen laufen.
Überflussregion Amazonas
„Der Druck des Agrobusiness und des westlichen Konsumwahns haben den Amazonasvölkern zugesetzt und ihnen ihren Stolz und ihre Lebensfreude genommen“, sagt Priester Valerio Taba, der im Dreiländereck lebt und als Mitglied im indigenen Repam-Netzwerk die Amazonassynode im Oktober in Rom mit vorbereitet. Eine Botschaft, die er dort übermitteln will, ist, dass Amazonien keine rückständige, verarmte oder gar „wilde“ Gegend ist, in der vereinzelte indigene Völker in den Tag hinein leben: „Hier gibt es unendlich viele Ressourcen, natürlicher und spiritueller Art. Und die Indigenen leben mit der Umwelt in einer funktionierenden Symbiose. Sie interessieren sich nicht für Gold, Soja oder Palmöl im großen Stil. Sie brauchen saubere Flüsse und intakte Wälder, denn sie sind ihre Speisekammer und ihre Apotheke“, sagt er. Im gemeinsamen Dialog, so hofft Taba, könnte es gelingen, diese gefährdete und für Vielfalt und Weltklima so wichtige Gegend zu verteidigen.
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