Albtraum im ParadiesUS-Amerikaner und Europäer erleben in Cancún ihren mexikanischen Traumurlaub -auf Kosten tausender Arbeiter in der Tourismusindustrie. An deren Seite stehen die Kapuziner. |
Text: Sandra Weiss; Fotos: Florian Kopp
Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Unter den sehnigen Oberarmen zeichnen sich die Muskeln ab. Den feinen, warmen Sand, auf dem er sitzt, spürt José Francisco Saucedo nicht. Seine Hände umklammern den Rand eines gestrandeten Fischerbootes. Einmal noch atmet er tief durch, dann versucht er den Kraftakt: Aufstehen. Seine dunklen Augen sind zu einem schmalen Schlitz zusammengekniffen, die Zähne hat er fest aufeinandergebissen. Mit aller Kraft strebt der athletische Oberkörper nach oben und versucht, den dünnen, kraftlosen Beinchen seinen Willen aufzuzwingen. Doch heute klappt es nicht. Enttäuscht und ermattet lässt sich José Francisco zurücksinken in den Sand von Cancún. Und verflucht jenen 24. Dezember, der sein Leben auf den Kopf stellte.
Aufstehen? Darüber hatte sich der 46-Jährige nie groß Gedanken gemacht. Nie ließ ihn sein durchtrainierter Körper im Stich. Nicht als torjagender Steppke, nicht als tollkühner Elitesoldat, selbst dann nicht, als ihm damals in den Bergen im tiefen Hinterland Mexikos die Kugeln der Drogenmafia um die Ohren flogen und sich eine in seinen Bauch bohrte. Nach der Schussverletzung ließ er es ruhiger angehen, quittierte den Dienst, siedelte sich mit Frau und fünf Kindern in Cancún an. „Das Meer hat es mir angetan“, sagt der Mann, der aus dem trockenen Hochland Zentralmexikos stammt. Der Horizont, das Rauschen der Wellen, die Schreie der Möwen. Das sind die Dinge, die ihm auch heute noch Trost geben. Die er beobachtet, wenn er stundenlang in seinem Rollstuhl vor dem Haus der Fischerkooperative sitzt und seinen Blick in die Ferne schweifen lässt. Bis dahin, wo Meer und Himmel ineinander verschmelzen, ein türkis-blaues Aquarell. Dort am Horizont ist sein Freund Jesús Izcalde unterwegs mit seinem hölzernen Kahn. Früher sind sie oft zusammen hinausgefahren. Nur noch ein kleiner, schwarzer Punkt ist von Jesús zu sehen. Mit gewagten Manövern kreuzt er zwischen den Felsen, die so tückisch knapp unter der Wasseroberfläche liegen, und versucht, den Raubfisch Barracuda aus seinem Versteck zu locken. Hinter ihm das fröhliche Geschrei der badenden Touristen und die imposante Skyline der Hotelmeile von Cancún.
Die Kinder sollen es mal besser haben
Ein Paradies, ein Geniestreich, ein Albtraum. Eine Retortenstadt, vor vier Jahrzehnten aus dem Boden gestampft von fantasievollen Städteplanern, korrupten Politikern und skrupellosen Bodenspekulanten. Ein zweites Miami sollte es werden. Inzwischen hat Cancún dem Vorbild fast den Rang abgelaufen: über 70.000 Hotelzimmer, eine Belegung von 70 Prozent, sechseinhalb Millionen Besucher im Jahr 2011. Cancún ist das goldene Kalb des mexikanischen Tourismus; mit 5,2 Milliarden US-Dollar der drittwichtigste Devisenbringer nach den Geldsendungen der ausgewanderten Mexikaner und dem Erdöl. Eine Stadt, die wächst wie ein Geschwür. Um zehn Prozent nimmt die Bevölkerung jedes Jahr zu. Dort, wo gestern noch Buschland war, ist morgen schon ein neues Viertel. Krankenhäuser, Kanalisation, Müllabfuhr, Schulen – mit der nötigen Infrastruktur kommt die Stadtverwaltung kaum nach. Gegen Moskitos und die Sümpfe ankämpfend, errichteten Tausende von Arbeitern damals breite Prachtboulevards, den Flughafen, Strom- und Wasserversorgung. Der Staat baute die ersten Hotels, die Urlauber kamen und in ihrem Schlepptau die Arbeitssuchenden aus ganz Mexiko. „Heerscharen von Entwurzelten“, wie Kapuziner-Bruder Rodolfo Veith sie nennt. So wie Nicanor Homa. Auch er kam damals, 1985, aus dem kleinen Indigenadorf Spit-Há. Dort gab es nichts, nur Elend und die Knochenarbeit auf dem Feld. Und wenn es nicht genügend regnete, was oft geschah, verdorrte die Ernte und die Menschen hungerten.
Cancún, das war für den Grundschulabbrecher Abenteuer und Verheißung. Nicanor rodete Mangrovensümpfe und grub Abwässerkanäle. Dann arbeitete er als Kellner, als Küchenjunge, stieg auf zum Koch und brachte es bis zum Einkäufer der Fleischwaren eines großen Hotels. Arbeitskräfte waren damals rar gesät, die Hotels überboten sich, um einander gute Leute abzuwerben. Nach ein paar Jahren holte Nicanor seine Frau aus Spit-Há und den ältesten Sohn, der jüngste wurde in Cancún geboren. „Es ging mir um die Kinder, sie sollten etwas lernen und es einmal besser haben“, sagt der kleine, drahtige Mann und blickt stolz auf seine beiden Söhne, Lorenzo, 24, und Antonio,12. Der jüngere geht noch zur Schule, der ältere ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Er ist Koch in einem internationalen Hotel. Auch er hat als Tellerwäscher angefangen. Auch er hat Demütigungen, Beschimpfungen, Diskriminierung und Ausbeutung über sich ergehen lassen.
Die goldenen Zeiten der Tourismusangestellten liegen mehr als 20 Jahre zurück. Inzwischen beherrschen internationale Hotelketten, vor allem aus Spanien, die Karibikküste. Drei-Monats-Verträge, damit der Angestellte keine Ansprüche auf soziale Absicherung oder Vergünstigungen wie Urlaub und Weihnachtsgeld erhält, sind die Regel. Unbezahlter Zwangsurlaub in der Nebensaison, unbezahlte Überstunden in der Hauptsaison. Alles mit Einverständnis der korrupten Gewerkschaftsführer. Lorenzo hat das jahrelang mitgemacht. Inzwischen hat es der ruhige, ernste Mann geschafft. Er hat einen Festvertrag, verdient monatlich rund 300 Euro – den dreifachen Mindestlohn – plus Trink- und Weihnachtsgeld, und ist sozial abgesichert. Damit gehört er zum Drittel der Privilegierten der Tourismusindustrie.
Heimat für Nomaden auf der Durchreise
Lorenzo lebt noch bei der Familie, in einer palmbedeckten Hütte mit zwei Zimmern und Außen-Plumpsklo. Er schläft in einer Hängematte und vertreibt sich die wenige Freizeit mit Fernsehen. Manchmal kocht er in der kleinen Nische am Gasherd, eingeklemmt zwischen Kühlschrank und Esstisch. Am liebsten yucatekisch, mit Eiern gefüllte Maisfladen, Zitrus-Hühnersuppe, scharf-würziges Schweinefleisch. Manchmal arbeitet er doppelte Schicht, von 7 bis 23 Uhr. Einen Tag in der Woche hat er frei. Dann erledigt Lorenzo meist Behördengänge. Zeit für eine Verlobte? „Nicht wirklich“, sagt der stämmige Mann mit dem runden Kindergesicht lächelnd. Aber immerhin: ein eigenes Häuschen zahlt er gerade an. Sozialer Wohnungsbau, 50 Quadratmeter, so groß wie ein Zimmer in dem Luxushotel, in dem er arbeitet. „Hier arbeiten die meisten jungen Mädchen unter ähnlichen Bedingungen im Tourismus, man hat gar keine Zeit, sich kennenzulernen“, sagt Lorenzo. „Moderne Sklaverei“, murmelt sein Vater aus der Hängematte. Mit Mitte 40 bekam er Diabetes und wurde zu alt für den Stress. Das Hotel, in dem er damals arbeitete, suchte einen Vorwand und entließ ihn schließlich. Plötzlich stand der Ernährer der Familie auf der Straße, ohne Ersparnisse, und musste von vorne anfangen. Schließlich kam er bei der städtischen Müllabfuhr unter. Schicksale, wie Rodolfo Veith sie zu Dutzenden kennt. Seit sieben Jahren betreut er die kleine Mission der Kapuziner im Norden der Millionenstadt. Dort, wo die Prachtboulevards zu Sandpisten werden, wo statt eleganter Hotels kleine, palmbedeckte Blechhütten stehen. Die meisten Siedlungen sind illegale Landbesetzungen. Ein paar Hütten, auf die Schnelle zusammengeschustert von den Zuwanderern. Ohne Strom, ohne Wasser, ohne Telefon.
El Esfuerzo, die Strapaze, ist so ein Ort voller Träume und Entbehrungen, errichtet von Menschen mit der Hoffnung, schnell zu Geld zu kommen und dann als reiche Leute zurückzukehren in die Heimat. Nomaden auf der Durchreise. Ihnen einen Halt, ein bisschen Heimat geben, darum geht es den Kapuzinern. Oft sind Veith und seine Mitbrüder in den Vierteln unterwegs, organisieren Kulturfestivals und kirchliche Feiern oder hören sich die Sorgen der Menschen an. Entwurzelung, Diskriminierung, zerrüttete Familien, Prostitution, Drogen und Alkoholabhängigkeit – das ist die Schattenseite von Cancún. Nicanor wohnt auch nach 25 Jahren noch in El Esfuerzo – und arbeitet bei der Müllabfuhr. Andere Nachbarn, ebenfalls zu alt für die Schinderei im Tourismus, verkaufen Maisfladen am Busbahnhof, arbeiten als Klempner oder fliegende Händler an der vor kurzem asphaltierten Ausfallstraße. Aber immerhin gibt es inzwischen Strom, einen Kindergarten, eine Schule und eine Bushaltestelle.
Niemand will hinter die Fassade schauen
Jeden Tag um die Mittagszeit beginnt Lorenzos Metamorphose. Wenn er sich mit kaltem Wasser aus dem Eimer frischmacht und ein neues Hemd anzieht, sich von der Mutter mit einem Kuss verabschiedet. Vorne an der Asphaltstraße steigt er in den überfüllten, stickigen Minibus, im Stadtzentrum in einen größeren, klimatisierten, der in die Hotelzone fährt. Und wenn er dort seine elegante schwarze Uniform anzieht, die Kochmütze aufsetzt und zum „Chef“ mutiert, der seinen Gästen im eleganten italienischen Restaurant Spaghetti mit Trüffelsoße und Langusten auf schwarzen Tintenfisch-Linguini kredenzt. „Für die Touristen müssen wir schick sein, wie es hinter der Fassade aussieht, interessiert nicht“, sagt Lorenzo. Leise Pianomusik, viele Kerzen, viele Kellner. Eine Luxuswelt, in der eine Languste so viel kostet wie er in der Woche verdient. Überhaupt die Langusten. Für José Francisco ein Fluch, für die Gäste aus Nordamerika und Europa eine Delikatesse. 300 Pesos, knapp 20 Euro, kostet ein Krustentier auf dem Markt. 56 Langusten hatte Francisco in seinem Netz, als er an diesem verflixten 24. Dezember auftauchte aus fast 30 Metern Tiefe. Dezember ist der beste Monat, wenn die nachtaktiven Meerestiere auf Wanderschaft gehen. Aber es ist auch der gefährlichste für die Fischer. Denn dann blasen heftige Nordwinde. Francisco wusste das, aber er fühlte sich sicher. Hundertfach war er schon in der Tiefe gewesen. Er kannte die Gewässer. Er war einer der Besten. Doch jeder Tauchgang mit den alten Schläuchen, dem stotternden Generator und den einfachen Tauchermasken ist von Neuem ein Spiel mit dem Schicksal.
Und dann passierte es. „Es fühlte sich an, als öffne man eine geschüttelte Sprudelflasche.“ Franciscos Kräfte schwanden, seine Begleiter mussten ihn ins Boot hieven, wo er bewegungslos zusammensank: Taucherkrankheit. „Es ist, als brenne man von innen. Aber ich habe die Zähne zusammengebissen und nicht geschrien.“ Kaum an Land wurde er von den Kollegen der Fischereikooperative in die Überdruckkammer des örtlichen Krankenhauses gebracht. Er überlebte, doch seither ist er an den Rollstuhl gefesselt. Früher konnte sich Francisco dank des Hungers der Touristen auf Langusten ein wenig Luxus leisten: ein Motorrad, ein teures Handy, Privatschulen für die Kinder. Damit ist es jetzt vorbei. Frau und Kinder haben ihn verlassen, sind in die Hauptstadt gezogen. Damit er nicht verrückt wird allein zu Hause, holen ihn jeden Tag seine Fischerfreunde ab und nehmen ihn mit in die Kooperative. Sie teilen dort ihr Essen mit ihm, schenken ihm ab und zu ein paar Fische oder stecken ihm ein paar Münzen zu. Und da sitzt Francisco tagaus, tagein und blickt aufs Meer. Einmal die Woche geht er in die Überdruckkammer, jeden zweiten Tag robbt er durch den Sand und versucht, seinen geschundenen Körper wieder zu normalen Bewegungen zu zwingen. Anfangs schämte er sich, inzwischen sind ihm die spöttischen Kommentare der anderen Fischer so egal wie die Schmerzen und Krämpfe nach jeder Übung. „Nächstes Weihnachten, da werde ich ganz sicher wieder laufen“, sagt er trotzig.
Download der Reportage "Albtraum im Paradies" als pdf-Datei
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Beistand: Bruder Rodolfo Veith (li.) besucht Nicanor Homas Familie.
Seelsorge: Die Kapuziner geben den Ausgebeuteten der Tourismusindustrie Trost und Zuwendung.
Luxusgut: Touristen zahlen gern für Langusten.
Ausgemustert: Den Hotels wurde Nicanor Homa zu alt. Nun arbeitet er bei der Müllabfuhr.
Zuhause: Als Provisorium gedacht - zur Heimat geworden.
Traumkulisse: José Francisco sehnt sich nach dem Meer. Er wünscht sich seine Gesundheit zurück.
Schinderei: José Francisco will seinen Körper unbedingt zur Gesundheit zwingen.
Haus-Verkauf: Nicolasa verkauft zu Hause eigene Süßigkeiten.
Scheinwelt: Im Hotel ist Lorenzo Homa der vielsprachige Chef. Doch er lebt am Rande der Armut.
Arbeitsleben: Die Kinder helfen ihren Familien durch eigene Jobs.
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