Das Gesetz der BlutrachePlastikblumen sind in Albanien allgegenwärtig. Auf Friedhöfen, an Straßenrändern und Brückenpfeilern
zeugen sie von Geschichten, die kein gutes Ende nahmen. Sie erinnern an Menschen, die jäh den Tod fanden –
durch Verkehrsunfälle, Unglücke oder einen uralten mörderischen Ehrenkodex. |
Text und Fotos: Rolf Bauerdick
Plastikblumen, überall! Knallbunte Blüten, die der Vergänglichkeit trotzen, verblassen, aber nicht verrotten. Vor zehn, fünzehn Jahren roch es auf albanischen Friedhöfen noch nach Chrysanthemen, da bedachten die Lebenden ihre Toten noch mit frischen Rosen. Dann siegte die Kunstblume. Längst ist sie allgegenwärtig: bei Beerdigungen, bei Hochzeiten, am Straßenrand. Hunderte Sträuße sind es, allein entlang der Route von Shkodra nach Elbasan. Jedes Gebinde zeugt von Leben, das früh zu Ende ging. Plastikblüten erinnern an einen 14-Jährigen, der Fische fangen wollte. Im Tiefschnee stand er am Fluss, leitete einen Draht ins Wasser mit tödlichem Strom, der auf ihn zurückschlug. Plastiknelken verstauben, wo der Fahrer eines Geländewagens einen Familienvater vom Moped fegte. Ungezählt bleiben auch die Kränze, von denen die Ordensfrau Maria Christina sagt, sie seien „Symbole einer Kultur des Todes“. Sie bezeugen, wo Männer getötet wurden und töteten, weil sie meinten, ihre verletzte Ehre retten zu müssen.
Wie unbarmherzig die Gesetze der Blutrache sind, zeigt sich in einem kleinen Kloster am Rande der Stadt Shkodra. Jeden Morgen sammeln sich die Schwestern der Spirituellen Weggemeinschaft, Maria Christina und Michaela, mit ihren Mitarbeiterinnen zur Einstimmung in den Tag. An der Wand hängt ein Porträt des Papstes, im Hintergrund erklingt Bachs „Ave Maria“. An diesem Morgen jedoch liegt etwas Bedrohliches in der Luft.
Buße für unbegangene Taten
Dafina Guri, eine Mitarbeiterin des Klosters, ist angespannt. Sie trägt Schwarz und hält nur mit Mühe ihren Schmerz zurück. Dabei wäre eigentlich ein Tag der Freude. Denn ihr ältester Sohn Paulini wird heute zwanzig. Aber er wird seinen Geburtstag nicht feiern. Er wird nicht einmal vor die Tür gehen. Er ist ein „Gefangener des Blutes“, wie man in Albanien sagt. „Ein Wahnsinn“, sagt Schwester Maria Christina. „Dafinas Familie büßt für einen Mord, den sie nicht begangen hat.“ Die Ordensfrau lässt ihren Tee stehen und nimmt Dafina in den Arm. Alle Verzweiflung bricht aus der 40-Jährigen hervor. Sie weint bittere Tränen der Trauer, aber auch der Wut. Wut auf den Mörder, der ihren Neffen Gjini erschossen hat; Verbitterung über den Ehemann, der nach Amerika gegangen ist, weil er die Isolation und den Nervenkrieg nicht aushielt, der sie sitzen ließ mit einem Berg von Schulden und dem verfluchten Satz: „Pass gut auf meine Söhne auf.“
Die komplette Reportage können Sie in kontinente 3/2014 lesen.
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