Arm, ungebildet: schuldigSie werden gehalten wie Vieh: in Zellen mit 300 bis 400 Männern, ohne Fenster, ohne Toiletten.
40 Prozent der Gefangenen in Äthiopien sitzen unschuldig ein. Was Recht ist, bestimmen
diejenigen, die Geld, Macht und Einfluss haben. Auch die Kirche kann nur mit großer Vorsicht agieren. |
Von Beatrix Gramlich (Text) und Hartmut Schwarzbach (Fotos)
Mit gespielter Beiläufigkeit haben die Männer die junge Frau umstellt. Aus den Augenwinkeln beobachten sie die kleinste Bewegung. Gierig saugen sie jedes Wort auf, das fällt. Eshete d’Aba kauert zusammengesunken auf einem Holzschemel und knetet ihre Hände im Schoß. Ihr Blick sucht Halt an diesen Händen, an denen sie pult und reibt, die sie mit so viel Druck gegeneinander presst, dass es wehtun muss. Sie ist 20 Jahre alt, aber mädchenhaft zart und zerbrechlich. Hebt sie die Augen, schieben sich ihr beigebraune Hosenbeine in Springerstiefeln ins Blickfeld.
Sie soll berichten, was passiert ist. Aber die Situation macht ihr Angst. Wer glaubt ihr schon? Sie ist arm, sie ist ungebildet. Mit Siebzehn bekam sie ihr erstes Kind. Vor neun Monaten wurde das zweite geboren – ein Junge, den sie in einem Tuch auf dem Rücken trägt. Als sie ihm die Brust gibt, starren die Männer sie ungeniert an. Eshete erträgt die aufdringlichen Blicke – so wie sie alles hier klaglos erträgt. Sie weiß, dass es zwecklos ist, sich zu wehren. Sie hat gelernt, sich zu fügen. Ihre Nachbarn im Dorf haben sie angeklagt. Angeblich soll sie ein Kind misshandelt haben. Der Richter hat sie für schuldig befunden. Aber in Äthiopien ist Wahrheit ein dehnbarer Begriff. Was stimmt, entscheiden diejenigen, die Geld, Macht und Einfluss haben.
„40 Prozent der Gefangenen sind unschuldig“, sagt Pfarrer Girma Firrissa und erzählt von einem neunjährigen Jungen, der wegen Vergewaltigung angeklagt wurde. Das Urteil: 15 Jahre Haft – für ein Kind. Eigentlich gelten erst 18-Jährige als strafmündig. Aber niemand hält sich daran. „Der Richter kann allein über das Strafmaß entscheiden“, erklärt der 64-Jährige. „Sie spielen mit den Menschen. Keiner Organisation ist es erlaubt, sich in die Rechtssprechung einzumischen. Wer wagt, sie zu kritisieren, wird selbst angeklagt.“ Auch die Kirche muss vorsichtig sein. Mit einem Team von vier Mitarbeitern, dessen Arbeit missio unterstützt, betreut der Priester 40 Gefängnisse im Erzbistum Addis Abeba. Sie stellen eine Krankenschwester, besuchen die Häftlinge und bieten Beratung an. „Wir haben bei vielen erreicht, dass sie freigelassen wurden“, berichtet der Pfarrer.
Fragwürdiges Urteil
Eshete büßt für ein Verbrechen, das sie womöglich nie begangen hat. Dass diese schüchterne Frau ein Kind brutal verprügelt haben soll, scheint grotesk. Jeder Mensch mit gesundem Verstand würde das Urteil in Frage stellen. Aber Glaubwürdigkeit, sorgfältige Beweisführung, ein fairer Prozess spielen vor Gericht keine Rolle. Wo Rechtsstaatlichkeit fehlt, regiert die Willkür.
Seit neun Monaten sitzt Eshete im Gefängnis von Addis Alem, einer Kleinstadt eine Dreiviertelstunde Autofahrt von Äthiopiens Hauptstadt entfernt. Drei Monate muss sie noch aushalten – den Dreck, die Enge, die Dunkelheit. Abends um sechs sperren die Wärter sie in ihre Zelle. Die zwölf Stunden bis sie wieder aufschließen, sind die schlimmsten – in einer stickigen, fensterlosen Baracke, in der die Stockbetten so dicht nebeneinander stehen, dass es keinen Quadratzentimeter Privatsphäre gibt.
Tagsüber verdient sich Eshete in der Gefängnisküche ein Taschengeld. Für 300 Birr im Monat – umgerechnet zwölf Euro – backt sie Injera – ein saures Fladenbrot und die Nationalspeise der Äthiopier. Meist wird es mit Shero, einer scharfen Soße aus rotem Pfeffer und Erbsen gegessen. Die Häftlinge bekommen es zu jeder Mahlzeit. Für die Gefängnisbäckerei bedeutet das mehrere Tausend Brote am Tag. Die Frauen arbeiten in zwei Schichten zu sechs Stunden. Sie stehen vor Lehmkuhlen, in denen das offene Feuer lodert und eine Reihe von Eisenplatten erhitzt. Den Teig schöpfen sie aus einer Blechtonne und backen ihn auf den Platten aus. Vor der Hütte schwelt die verbrannte Holzkohle, drinnen mischt sich die Gluthitze mit beißendem Qualm. Ein hart verdientes Brot.
Nur im Frauentrakt, einem kleinen, abgegrenzten Teil der riesigen Anlage, erlauben die Wärter kurze Gespräche mit den Gefangenen. 41 der insgesamt 1172 Häftlinge sind weiblich. Manche flechten Körbe oder handarbeiten, um sich etwas Geld zu verdienen. Manche haben ihre Kinder bei sich. Bis zum Alter von fünf Jahren können sie bei ihren Müttern bleiben. In seltenen Fällen jedoch macht die Gefängnisleitung Ausnahmen. Wie bei dem Jungen mit dem Rautenpullover, der seine kleine Hand in die des Sozialarbeiters schiebt und nicht mehr von dessen Seite weicht – ein Achtjähriger, der als einziges Kind im Männertrakt lebt. Sein Vater, Feyisa Kanani, verbüßt ein Jahr wegen Körperverletzung. Das Urteil hat Abinets Kindheit schlagartig beendet. Weil seine Mutter tot ist und sich niemand aus der Familie um ihn kümmern kann, musste er mit ins Gefängnis.
Ein Kind unter Mördern
Seit zwei Monaten sind sie nun hier: der sanfte, stille Vater, der sich in diese raue Männerwelt nur verirrt zu haben scheint, und der schmächtige Junge, dessen Gesicht so verstörend erwachsen wirkt. Ein Kind, das alles tut, um nicht aufzufallen, und inmitten von Mördern, Dieben und Vergewaltigern das schier Unmögliche sucht: Sicherheit, Zuwendung, ein Stück Normalität.
Melkame Kebede, der Sozialarbeiter von Addis Alem, ist ein freundlicher, junger Mann. Die Gefangenen kommen zu ihm in sein kleines Büro, wenn sie Probleme haben. Wenn es Ärger mit Zellengenossen gibt oder die Haft ihre Seele krank macht. Viele leiden unter Depressionen oder anderen psychischen Krankheiten. „Ich mache meine Arbeit gerne. Die Häftlinge sind Menschen wie jeder andere auch“, sagt Kebede. Er versteht Abinets Bedürftigkeit, seine kindliche Sehnsucht nach Nähe. Es macht ihm nichts aus, dass der Junge sich wie eine Klette an ihn heftet.
Kebede begleitet Pfarrer Firrissa bei seinem Gang über den Gefängnishof, mit dem der Priester jeden Besuch beginnt. Schon am Eingang haben ihn die Wachleute freundlich begrüßt. Sie wissen, dass es hier ohne die Kirche anders aussähe. Die Erzdiözese Addis Abeba hat dafür gesorgt, dass die Wege auf dem Hof gepflastert wurden, dass die Häftlinge Betten, Matratzen, Decken, Unterricht, Lehrmaterial, Werkstätten und Medikamente bekommen. An zwei Vormittagen pro Woche rückt das Kirchenteam mit seinem Berater und der Krankenschwester hier an. Erst vor zwei Jahren wurde auf Druck der Gefängnisleitung auch ein staatlicher Krankenpfleger angestellt. Die Medikamente zahlt weiterhin die Kirche. „Die Regierung stellt nichts“, klagt der Pfarrer. „Sie behandelt die Häftlinge wie Vieh.“
Tagsüber ist es, als würde das ganze Gelände vibrieren. Auf den Wegen wimmelt es vor Menschen; alle scheinen ständig in Bewegung zu sein. Die Gefangenen entfliehen ihren Zellen, in die sie zwei- bis dreihundert Mann pferchen und wo ihre Habseligkeiten in Plastiktüten von der Decke baumeln. Einige waschen ihre Kleidung oder versuchen zu duschen – indem sie sich aus einem Fünf-Liter-Kanister Wasser über den Kopf schütten. Auf dem Terrain gibt es drei Tanks. Wasser ist knapp in der Gegend. Die Toiletten sind schon lange trocken und stinken bestialisch. Das Bad ist nicht mehr als ein offener Verschlag mit Abfluss im Lehmboden.
An einer Hauswand sitzt eine Reihe von Männern vor kleinen Holzkohlefeuern. Sie haben sich auf dem Gefängnismarkt Gemüse gekauft oder Lebensmittel von ihren Familien bekommen und kochen – eine willkommene Abwechslung vom ewig gleichen Gefängnisessen. Andere Häftlinge drücken die Schulbank, spielen eine Partie Volleyball oder Kicker an einem Tisch, von dem das Holz splittert und an dessen Griffen der Rost nagt. Plötzlich plärrt irgenwo ein Lautsprecher. Eine Stimme bellt die Namen von Häftlingen, für die Verwandte im Besucherraum warten.
Maßanzüge im Gefängnis
Pfarrer Firrissa kommt mit seiner Gehhilfe auf dem Gefängnis-Gelände nur mühsam voran. Immer wieder müssen die Wärter den kleinen, rundlichen Mann stützen. Trotzdem lässt er es sich nicht nehmen, überall hinzugehen: in die Zellen, ins Klassenzimmer, wo er sich zu den Häftlingen an die Pulte setzt und sie ermutigt zu lernen. In die offene Halle, in der Dutzende Männer an Webstühlen sitzen und das Schiffchen durch die Fäden jagen. Nach zwei Tagen haben sie ein Stück Stoff fertiggestellt, das sie über Mittelsmänner draußen auf dem Markt für knapp 30 Euro verkaufen können. Der Priester besucht die Schreinerei, wo mit primitiven Mitteln solide Möbel entstehen; die Schneiderei, wo sie auf ratternden Tret-Maschinen Maßanzüge nähen und die Stoffe mit Holzkohle-Bügeleisen glätten. Hier schlafen nachts Abinet und sein Vater. Hier sind sie allein und sicher vor Übergriffen.
Wo immer er auftaucht, suchen die Häftlinge Kontakt zu dem Priester. „Manche bitten um Zucker, Kaffee oder Lebensmittel“, erklärt er. Viele wollen ein fach nur reden. Nach seinem Rundgang hat er Sprechstunde in dem kleinen Büro neben der Krankenstation. Die Zeit reicht nie. „Manchmal beten wir mit den Gefangenen“, erzählt Firrissa. Nur zwei Prozent der Insassen von Addis Alem sind Katholiken. Aber das spielt keine Rolle. Das Kirchenteam kümmert sich um alle, die Hilfe brauchen.
Trotzdem, gesteht der Pfarrer, fühle er sich oft hilflos. Auch nach elf Jahren Gefängnisseelsorge kann er sich nicht an das gewöhnen, was er hier erlebt. „Die Haftbedingungen sind unmenschlich“, sagt er. „Oft gibt es keine faire Verhandlung.Du musst jemanden kennen, der Beziehungen hat. Wenn du arm bist und ungebildet, hast du verloren.“
Elfis Worknu hatte Geld und einen guten Job als Verwaltungsangestellte, später hat sie ein kleines Hotel geführt. Kerzengerade sitzt sie in ihrem roten, blumengemusterten Kleid auf dem Holzschemel – eine gepflegte Dame von 67 Jahren und die einzige Frau in Addis Alem, die eine lebenslange Haftstrafe verbüßt. Vielleicht war es ein Fehler, dass sie nie wieder geheiratet hat, nachdem ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Vielleicht war es unklug, dass sie, die Christin, einem Moslem die Hand ihrer Tochter verweigerte.
Wenig später haben sie ihr einen Mord angehängt. Innerhalb von drei Tagen war sie verurteilt – sie hatte nicht einmal Zeit, sich einen Anwalt zu nehmen. Efis Worknu erzählt zuerst stockend, doch dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Es ist ihr egal. Sie hat nichts mehr zu verlieren. Das oberste Gericht hat auf ihren Einspruch nicht einmal reagiert.