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Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt. Foto: Kathrin Harms

Quä­len­des War­ten

Men­schen, die in Ab­schie­be­haft sit­zen, ha­ben kei­ne Straf­tat be­gan­gen. Sie flüch­te­ten
aus ih­rer Hei­mat, weil sie dort aus po­li­ti­schen, ethi­schen oder re­li­giö­sen Grün­den ver­folgt wur­den
oder weil sie kei­ne Per­spek­ti­ve für sich se­hen. Hin­ter Git­tern bli­cken sie ei­ner un­ge­wis­sen Zu­kunft ent­ge­gen.

Text: Eva-Ma­ria Wer­ner; Fo­tos: Ka­th­rin Harms und KNA

Efim Po­pow* fegt ein paar Keks­krü­mel vom Tisch, schiebt die Zi­ga­ret­ten­schach­tel und das Feu­er­zeug zur Sei­te, um Platz für die be­hörd­li­chen Un­ter­la­gen zu schaf­fen. „Plea­se, sit down – bit­te, set­zen Sie si­ch“, sagt er zu Schwes­ter Dag­mar Plum und rückt ihr ei­nen Stuhl zu­recht. Der 29-Jäh­ri­ge spricht gut Eng­lisch, in der Ab­schie­be­haft Ei­sen­hüt­ten­stadt ist er der ein­zi­ge, der re­gel­mä­ß­ig die klei­ne Bi­b­lio­thek auf­sucht. Au­ßer­dem lernt er Deutsch. „Ich brau­che das für mei­nen Geist“, sagt der jun­ge Mann. „Ich will noch was aus mei­nem Le­ben ma­chen.“ Was, da­von hat er ziem­lich ge­naue Vor­stel­lun­gen: In Ka­na­da möch­te er le­ben, als Leh­rer ar­bei­ten, ei­ne Fa­mi­lie grün­den, ein Haus bau­en und im Gar­ten Bäu­me pflan­zen. Kei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­chen Wün­sche, ei­gent­lich. Doch für den Ost­eu­ro­päer, der seit zwei Mo­na­ten in Ab­schie­be­haft sitzt, sich ei­nen neu­en Na­men ge­ge­ben hat und sein Her­kunfts­land vor den Be­hör­den nicht preis­gibt – um die Ab­schie­bung zu ver­hin­dern – scheint die End­sta­ti­on schon er­reicht.

„Ich ha­be kei­ne Kraft mehr“
„Sie wol­len mich zu­rück­schi­cken. Aber ich ge­he nicht. Als Wirt­schafts­flücht­ling hät­te ich kei­nen Asyl­grund, sagt das Ge­richt. Mein Le­ben sei nicht ge­fähr­det, heißt es. Le­ben? Ein Le­ben hat­te ich nicht, dort, wo ich her­kom­me. Ich ha­be da kei­ne Zu­kunft.“ Po­pow er­zählt, er ha­be stu­diert, dann aber kei­ne Ar­beit als Leh­rer ge­fun­den, als Mau­rer ha­be er in sei­ner Hei­mat und in Mos­kau ge­schuf­tet, aber es reich­te hin­ten und vor­ne nicht zum Le­ben. „Ich will end­lich et­was ma­chen, mich ein­brin­gen! In mei­ner Hei­mat steh­len al­le, wenn du nicht mit­machst, den­ken sie, du bist dumm. Das ist doch be­scheu­ert. Ich dach­te, hier ver­steht man mich. Aber ich sit­ze nur rum. Je län­ger ich blei­be, um­so schwächer wer­de ich. Ich ha­be kei­ne Kraft mehr.“ Schwes­ter Dag­mar hört zu. Sie kennt die Ge­schich­te schon. Je­de Wo­che, wenn sie für den Je­sui­ten-Flücht­lings­di­enst von Ber­lin nach Ei­sen­hüt­ten­stadt reist, um Ab­schie­be­häft­lin­ge zu be­su­chen, hört sie sich die Er­zäh­lun­gen der Men­schen an, die aus Län­dern wie Ge­or­gi­en, Tschet­sche­ni­en, Ma­rok­ko, Viet­nam, Afg­ha­nis­tan oder dem Irak kom­men. Sie bie­tet Got­tes­di­ens­te an und krea­ti­ve Be­schäf­ti­gun­gen. Und sie ist für je­den da. „Not kennt kei­ne Kon­fes­si­on“, sagt sie. Vor al­lem ist ihr Rat in recht­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten ge­fragt, denn an­ders als Straf­ge­fan­ge­ne er­hal­ten Ab­schie­be­häft­lin­ge nicht au­to­ma­tisch Rechts­bei­stand.

Der Mis­si­ons­ärzt­li­chen Schwes­ter, die in Mala­wi, Pa­kis­tan und den Nie­der­lan­den ge­lebt, dort mit Mi­gran­ten und ge­gen Men­schen­händ­ler ge­ar­bei­tet hat, sind men­sch­li­che Schick­sa­le nicht fremd. Sie ist mit­füh­l­end, aber auch rea­lis­tisch: „Ich sit­ze Men­schen ge­gen­über, die in Not sind. Sonst wä­ren sie nicht hier. Sonst wür­den sie nicht die­se Ge­schich­ten er­zäh­len, die manch­mal wahr sind, manch­mal nicht ganz. Ich spie­le mit of­fe­nen Kar­ten: Wenn je­mand kei­ne Chan­ce auf Asyl hat, ma­che ich kei­ne fal­schen Hoff­nun­gen. Dann er­m­un­te­re ich den­je­ni­gen lie­ber, nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren und über ei­ne Zu­kunft da­heim nach­zu­den­ken.“ Dem jun­gen Mann aus Ost­eu­ro­pa sagt sie im­mer wie­der, dass er sein Hei­mat­land nen­nen mö­ge. Er wird kein Asyl in Deut­sch­land be­kom­men.
So wie Po­pow geht es vie­len jun­gen Män­nern, die in der Ab­schie­be­haft in Ei­sen­hüt­ten­stadt sit­zen. Sie zäh­len zu der gro­ßen Grup­pe der so ge­nann­ten Ar­muts­flücht­lin­ge. Die meis­ten von ih­nen sind an der deutsch-pol­ni­schen Gren­ze beim Ein­rei­se­ver­such von der Bun­des­po­li­zei fest­ge­nom­men wor­den. Die we­nigs­ten wis­sen, wie es wei­ter­ge­hen wird. Kon­tak­te nach au­ßen sind rar. Zwar gibt es ein Te­le­fon, aber sur­fen im In­ter­net ist nicht er­laubt. Be­such kommt auch kei­ner. Schwes­ter Dag­mar und ih­re Kol­le­gin von der evan­ge­li­schen Kir­che sind die ein­zi­ge Ab­wechs­lung im tris­ten Haf­tall­tag. Rau­chen, Fern­se­hen, Tisch­ten­nis oder Kar­ten spie­len – viel mehr bleibt den Män­nern nicht. Nur Zeit ge­nug, zu gr­übeln und quä­len­den Ge­dan­ken nach­zu­hän­gen.

Ei­ne Stu­die des Je­sui­ten-Flücht­lings­di­ens­tes, der in Ber­lin, Ei­sen­hüt­ten­stadt und Mün­chen Ab­schie­be­häft­lin­ge be­t­reut, kommt zu dem Er­geb­nis, dass selbst ei­ne kur­ze Haft­dau­er Men­schen psy­chisch stark be­las­tet. Dra­ma­ti­sche Fluch­ter­fah­run­gen, man­geln­de psy­cho­lo­gi­sche Be­t­reu­ung, Un­ge­wiss­heit, Un­tä­tig­keit, feh­len­de Pri­vat­sphä­re in der Haft, wo bis zu vier Men­schen in ei­nem Raum zu­sam­men­le­ben: All das kann zu Ag­gres­si­vi­tät, Lethar­gie und De­pres­si­on füh­ren. Zwi­schen 1993 und En­de 2011 ha­ben sich 64 Men­schen in deut­schen Ab­schie­be­ge­fäng­nis­sen das Le­ben ge­nom­men, die Zahl de­rer, die sich aus Angst vor ih­rer Ab­schie­bung in der Haft Selbst­ver­let­zun­gen zu­ge­fügt oder Selbst­mord­ver­su­che un­ter­nom­men ha­ben, ist weit grö­ß­er: 571 Ver­zweif­lung­s­ta­ten zählt die Sta­tis­tik des Ve­r­eins „An­ti­ras­sis­ti­sche In­i­tia­ti­ve“. In der Ab­schie­be­haft Ei­sen­hüt­ten­stadt, er­fährt Schwes­ter Dag­mar, hat ei­ne Grup­pe von Ge­or­gi­ern ge­ra­de ei­nen mehr­tä­g­i­gen Hun­ger­st­reik be­en­det. „Ich bin froh dar­über“, sagt die Or­dens­frau, „denn es bringt nichts, selbst wenn die Häft­lin­ge den St­reik bis zur Zwang­s­er­näh­rung durch­zie­hen wür­den“.

So dra­ma­tisch die ein­zel­nen Schick­sa­le der Ab­schie­be­häft­lin­ge auch sein mö­gen, weil die Ge­set­zes­la­ge so ist wie sie ist: Ar­muts­flücht­lin­ge ha­ben kei­ne Chan­ce, Asyl zu be­kom­men. Schwes­ter Dag­mar braucht Ge­duld, das wie­der und wie­der zu ver­mit­teln, in die Ver­zweif­lung und Hoff­nungs­lo­sig­keit der Ab­schie­be­häft­lin­ge hin­ein. Um­ge­kehrt muss sie manch­mal in­sis­tie­ren, dass Men­schen ih­re wah­re Ge­schich­te er­zäh­len, mit wich­ti­gen In­for­ma­tio­nen nicht hin­ter dem Berg hal­ten. Frau­en, die Op­fer von Men­schen­han­del ge­wor­den sind, schwei­gen oft aus Scham oder aus Angst. Sie fürch­ten, dass ih­ren Fa­mi­li­en in der Hei­mat et­was an­ge­tan wird, wenn sie ih­re Zu­häl­ter nen­nen. Da­mit ver­bau­en sie sich die Mög­lich­keit, als Flücht­ling an­er­kannt zu wer­den. Schwes­ter Dag­mar braucht Fin­ger­spit­zen­ge­fühl, um der Wahr­heit so nah wie mög­lich zu kom­men. Die jun­ge Nord­afri­ka­ne­rin Ma­riam* et­wa war bei ih­rem ers­ten Tref­fen mit Schwes­ter Dag­mar nicht in der La­ge, auch nur ei­nen Satz zu sa­gen. Nach­dem ihr Asyl­ge­such in Nor­we­gen ab­ge­lehnt wor­den war, sie un­ter­tauch­te und in Deut­sch­land auf­ge­grif­fen wur­de, war­te­te sie in Ei­sen­hüt­ten­stadt auf ih­re Rück­schie­bung. Schwes­ter Dag­mar fie­len die tie­fen Nar­ben an Hand- und Fuß­ge­len­ken der Ma­rok­ka­ne­rin auf, Ab­drü­cke wie von Ket­ten.

An­ge­ket­tet im Kin­der­bor­dell
Nach und nach öff­ne­te sich die jun­ge Frau und of­fen­bar­te ih­re furcht­ba­re Ge­schich­te: Ih­re ei­ge­ne Fa­mi­lie ver­kauf­te sie als Zwölf­jäh­ri­ge an ein Kin­der­bor­dell. An­ge­ket­tet an die Wand er­trug sie dort fünf Jah­re lang ei­nen Frei­er nach dem an­de­ren. Mit 17 Jah­ren ver­kauf­ten die Zu­häl­ter sie an ei­nen Club in Da­mas­kus. Dank ei­ner Raz­zia kam sie end­lich frei und ge­lang­te mit Sch­leu­ser­ban­den von Sy­ri­en nach Nor­we­gen. Ma­riams Asyl­ge­such kam nicht durch, da sie als Grund „Pro­b­le­me mit der mus­li­mi­schen Fa­mi­lie“ an­gab. Er­m­un­tert durch Schwes­ter Dag­mar und ei­ne Frau­en­recht­s­or­ga­ni­sa­ti­on ent­sch­loss sie sich, ih­re Ge­schich­te in al­len De­tails vor Ge­richt zu er­zäh­len. Ei­nes Ta­ges er­reich­te Schwes­ter Dag­mar ein eu­pho­ri­scher An­ruf aus Nor­we­gen, wo­hin Ma­riam zwi­schen­zeit­lich zu­rück­ge­scho­ben wor­den war: „Al­lah ist groß“, schall­te es durch den Hö­rer, „dei­ne Kir­che hat mich ge­ret­tet!“ Die Ma­rok­ka­ne­rin lebt jetzt of­fi­zi­ell in ei­nem Frau­en­schutz­haus in Nor­we­gen und ar­bei­tet in ei­nem Re­stau­rant. „Sel­ten be­kom­me ich solch ei­ne po­si­ti­ve Rück­mel­dung“, sagt Schwes­ter Dag­mar.

Ei­ne Ab­tei­lung hat Hof­gang. Ein Vol­ley­ball­netz, vier Bän­ke, zwei klei­ne To­re und zwei gel­be Soft­bäl­le ste­hen im Au­ßen­ge­län­de zur Ver­fü­gung. Ei­ne Stun­de am Tag dür­fen die Ab­schie­be­häft­lin­ge nach drau­ßen. Ei­ner von ih­nen, die Ka­pu­ze über den Kopf ge­zo­gen, schießt den Ball im­mer wie­der ge­gen den Zaun. Das Git­ter klirrt. Der Ball kommt nicht weit. Pe­tro Meichs­ner vom pri­va­ten Si­cher­heits­di­enst B.O.S.S. schiebt Wa­che. „Ich frag mich schon manch­mal, warum sind die bloß hier drin­nen? Oh­ne gül­ti­ge Pa­pie­re her­um­zu­lau­fen ist ja kein Ver­b­re­chen.“ Pro­b­le­me im Um­gang mit den Häft­lin­gen kennt er nicht. „So wie’s rein­schallt, schallt’s auch raus“, sagt er. Mit 29 Per­so­nen ist die für 108 Plät­ze ein­ge­rich­te­te Haf­t­an­stalt in Ei­sen­hüt­ten­stadt der­zeit nicht aus­ge­las­tet. Im Frau­en­trakt im obe­ren Stock­werk sitzt nur ei­ne Afg­hanin, Nes­rin Ra­hi­mi – be­auf­sich­tigt von zwei An­ge­s­tell­ten der Si­cher­heits­fir­ma. Gäh­nen­de Lan­ge­wei­le. Die Frau­en kön­nen sich we­gen man­geln­der Sprach­kennt­nis­se nicht ver­stän­di­gen.

Es ist still, nur die Schrit­te hal­len auf dem lee­ren Flur, wenn je­mand den Du­sch­raum auf­sucht. Aus den Rit­zen der ver­sch­los­se­nen Zel­len­tü­ren, hin­ter de­nen nie­mand lebt, schei­nen die Ge­schich­ten, Ängs­te und die Ein­sam­keit der frühe­ren Be­woh­ner hin­durch­zu­krie­chen und Nes­rin Ra­hi­mi nie­der­zu­drü­cken. Als ob die 38-Jäh­ri­ge an ih­rem Schick­sal nicht schon ge­nug zu tra­gen hät­te: Nach­dem ihr Mann ver­schwand, hät­te sie nach al­ter Tra­di­ti­on ei­nen ih­rer Schwä­ger hei­ra­ten müs­sen. Das woll­te die Mut­ter von vier Kin­dern nicht und flüch­te­te mit ei­nem an­de­ren Mann nach Eu­ro­pa. In Os­lo stell­ten sie ei­nen Asy­l­an­trag, dann ging die Be­zie­hung in die Brüche. Das Ge­rücht, in Ita­li­en sei es leicht, an neue Pa­pie­re zu kom­men, lock­te die Frau Rich­tung Sü­den. In Deut­sch­land wur­de sie auf­ge­grif­fen und in Ab­schie­be­haft ge­nom­men.

Kräf­te zeh­ren­de Ar­beit
„Was wür­de Sie in der Hei­mat er­war­ten?“, fragt Schwes­ter Dag­mar. „Die Stei­ni­gung, weil ich die Tra­di­ti­on nicht ge­ach­tet und da­mit Schan­de über die Fa­mi­lie ge­bracht ha­be“, er­klärt die Afg­hanin, die im Rah­men der so ge­nann­ten Du­b­lin II-Ver­ord­nung wie­der nach Nor­we­gen zu­rück­ge­scho­ben wer­den soll. Das Schick­sal von Nes­rin Ra­hi­mi scheint so oder so düs­ter zu sein: Muss sie in die Hei­mat zu­rück, droht ihr der Tod, be­kommt sie in Eu­ro­pa Asyl, wird sie ih­re Kin­der ver­mut­lich nie wie­der se­hen kön­nen. Im­mer wie­der st­reicht sie sich mit der Hand durch das Ge­sicht, sie sieht mü­de aus. Nachts kann sie nicht schla­fen, sie sch­reibt dann Ge­be­te: „Gott, mein Le­ben be­steht nur noch aus wa­chen, wei­nen, war­ten. Hilf, dass ich ei­nes Ta­ges mei­ne Kin­der wie­der­se­he. Ich bin ein­sam, nicht hoff­nungs­los, denn ich ha­be Dich.“ Sie sch­lingt die Ar­me um den Ober­kör­per. Kalt sei ihr, ob Schwes­ter Dag­mar sich um war­me Klei­dung küm­mern kön­ne?

Ob Ra­hi­mis Ge­schich­te in al­len De­tails stimmt? Ob Nor­we­gen ihr Ver­fah­ren noch­mal aufrollt? Ob die Frau­en­or­ga­ni­sa­ti­on, an die Schwes­ter Dag­mar Ra­hi­mis Fall über­mit­telt, hel­fen kann? Vie­le Fra­gen, kaum Ant­wor­ten. Die Ar­beit mit Ab­schie­be­häft­lin­gen ist Kräf­te zeh­rend, oft­mals de­pri­mie­rend. Schwes­ter Dag­mar be­g­lei­tet Men­schen, die wie­der aus ih­rem Le­ben ver­schwin­den, oh­ne dass sie weiß, was aus ih­nen wird. Das muss man aus­hal­ten kön­nen. „Für mich stellt sich die Fra­ge nach dem Glau­ben im Kon­text der Ab­schie­be­haft. Ich glau­be an Gott, aber es fällt mir schwer, all dem ei­nen Sinn ab­zu­ge­win­nen“, sagt die Or­dens­frau. In dem­je­ni­gen, der in der Zel­le vor ihr sitzt, sieht sie den Mit­men­schen, „des­sen Le­ben aus der­sel­ben Qu­el­le kommt wie mei­nes“. Die per­sön­li­che Be­geg­nung sei das bes­te Mit­tel ge­gen Vor­ur­tei­le. „Es sind kei­ne Kri­mi­nel­len, die hier ein­ge­sperrt sind, es sind Men­schen in Nö­ten.“ Ei­gent­lich müss­te die Ar­beit mit Flücht­lin­gen ein Kern­ge­schäft der Kir­che sein, meint die 68-Jäh­ri­ge. Die Hin­wen­dung zu den Ar­men, zu den Aus­ge­g­renz­ten. „Gott iden­ti­fi­ziert sich mit den Men­schen in Not, dort ist er zu fin­den.“ In die Ab­schie­be­haft in Ei­sen­hüt­ten­stadt kommt je­doch – an­ders als in Kran­ken­häu­ser oder Al­ten­hei­me – bis­her kein kirch­li­cher Be­suchs­di­enst. „Es ist frag­lich, ob die Bür­ger die Ab­schie­bungs­haft über­haupt wahr­neh­men“, sagt die Or­dens­frau.

Je­de Wo­che nimmt Schwes­ter Dag­mar Le­bens­ge­schich­ten, Haft­be­schlüs­se und vie­le Fra­gen von Ei­sen­hüt­ten­stadt mit nach Ber­lin. Zum Glück gibt es die Kol­le­gen beim Je­sui­ten-Fücht­lings­di­enst, mit de­nen sie sich aus­tau­schen kann. In recht­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten wen­det sie sich an en­ga­gier­te An­wäl­te. Al­le 14 Ta­ge be­sucht ei­ne Ju­ris­tin die Flücht­lin­ge vor Ort. Seel­sor­ge in der Ab­schie­be­haft be­steht haupt­säch­lich aus Rechts­be­ra­tung, sagt Schwes­ter Dag­mar. „Fra­gen zum Asyl­ver­fah­ren, zur Haft­dau­er und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten bren­nen den Häft­lin­gen un­ter den Nä­geln – we­gen man­geln­der Sprach­kennt­nis­se kön­nen sie die Sch­rei­ben der Be­hör­den oft gar nicht le­sen.“

Er­folg­rei­che Rechts­hil­fe
Da­bei ist recht­li­che Hil­fe bit­ter nö­t­ig, denn nicht sel­ten wird Ab­schie­be­haft zu sch­nell, zu häu­fig und zu lan­ge be­an­tragt. Das of­fen­bart die Ar­beit des Rechts­hil­fe­fonds der Je­sui­ten, der vor we­ni­gen Jah­ren ein­ge­rich­tet wur­de und sich zu ei­nem Groß­teil aus Spen­den fi­nan­ziert. Zwei Drit­tel der Fäl­le, die durch den Fonds un­ter­stützt wer­den, ge­hen für die Ab­schie­be­häft­lin­ge po­si­tiv aus: Sie wer­den ent­las­sen. Der Han­no­ve­ra­ner An­walt Pe­ter Fahl­busch spricht von ei­nem „be­schä­m­en­den Er­geb­nis aus der rechts­staat­li­chen Un­ter­wel­t“: Fast 50 Pro­zent der von ihm ver­t­re­te­nen Häft­lin­ge wa­ren zu Un­recht in­haf­tiert. Ei­ne Zahl, die die Be­hör­den tot­schwei­gen. „Es reicht nicht, nur als Seel­sor­ger mit den Men­schen zu sein“, sagt Schwes­ter Dag­mar. „Seel­sor­ge, theo­lo­gi­sche Re­fle­xi­on und po­li­ti­sches En­ga­ge­ment ge­hö­ren zu­sam­men.“ Des­halb geht sie zur De­mon­s­t­ra­ti­on ge­gen das Ab­schie­be­ge­fäng­nis auf dem neu­en Ber­li­ner Flug­ha­fen Sc­hö­ne­feld und nimmt an den Mahn­wa­chen vor dem Ab­schie­be­ge­fäng­nis in Ber­lin-Köpe­nick teil. „Asyl­su­chen­de und Flücht­lin­ge brau­chen ei­ne Lob­by. Der Je­sui­ten-Flücht­lings­di­enst und an­de­re Or­ga­ni­sa­tio­nen set­zen sich für sie ein und wei­sen auf Un­recht hin.“ Die­ses En­ga­ge­ment zeigt Wir­kung: „Wir be­o­b­ach­ten, dass die Ge­rich­te sel­te­ner Ab­schie­be­haft an­ord­nen“, sagt Schwes­ter Dag­mar. „Sie schau­en ge­nau­er hin und prü­fen Al­ter­na­ti­ven.“

Mu­ti­ger, stär­ker und ent­sch­los­se­ner
Am En­de ei­nes lan­gen Ta­ges, an dem die klei­ne, aber zähe Or­dens­frau zu­ge­hört, Tipps ge­ge­ben und vie­le ge­richt­li­che Do­ku­men­te über­setzt hat, steht sie am lee­ren Bahn­s­teig in Ei­sen­hüt­ten­stadt und war­tet auf den Zug nach Ber­lin. Ih­re Klei­dung riecht nach Ta­bak, denn die Ab­schie­be­häft­lin­ge ha­ben ge­raucht, sich an ih­rer Zi­ga­ret­te fest­ge­klam­mert, als wä­re es die letz­te Stüt­ze. Schwes­ter Dag­mar ist kei­ne Mü­dig­keit an­zu­mer­ken, auch kei­ne Bit­ter­keit. Trotz al­ler Schwie­rig­kei­ten be­sucht sie die Men­schen in der Ab­schie­be­haft gern und hofft, „dass sie ir­gend­wann Ge­rech­tig­keit er­fah­ren und auch Gott – das ist näm­lich das­sel­be“. Sie schweigt ei­ne Wei­le, be­vor sie nach­schiebt: „Die­se Ar­beit hat mich po­si­tiv ve­r­än­dert. Ich bin mu­ti­ger, stär­ker und ent­sch­los­se­ner ge­wor­den, um die­sen Men­schen zu hel­fen.“ Die Ab­schie­be­häft­lin­ge es­sen un­ter­des­sen zu Abend. Je­der kann sich sei­ne Ra­ti­on ab­ho­len und es­sen, wo er will: im Bett, auf dem Flur oder im Ge­mein­schafts­raum. Um 21 Uhr wer­den die Zel­len­tü­ren ver­sch­los­sen. Dann blei­ben den Män­nern und Nes­rin Ra­hi­mi nur noch der Fern­se­her, die Zi­ga­ret­ten und ih­re Gr­übe­lei­en. Mor­gen be­ginnt für sie ein neu­er Tag... des War­tens.

*Na­men der Flücht­lin­ge von der Re­dak­ti­on ge­än­dert

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Langeweile: Nur eine Stunde am Tag dürfen sich die Abschiebehäftlinge draußen aufhalten.

Tür zu: Tagsüber können die Häftlinge ihre Zelle verlassen, nachts ist sie verschlossen.

Mitbringsel: Schwester Dagmar kauft Schokolade für die Häftlinge.

Verewigt: Text- und Bildspuren an der Wand zeugen von früheren Bewohnern der Zellen, ihren Sorgen und Wünschen.

Blick in den Zellenblock des Abschiebegewahrsams Berlin-Köpenick.

Ein Wärter verschließt eine Zelle im Abschiebegewahrsam Berlin-Köpenick.

Mahnwache: Auf dem Flughafen Schönefeld informieren Demonstranten über Abschiebung.



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