Mit Notizbuch: Wie in Venedig sammelt Hanns-Josef Ortheil überall Bilder, Ideen, Eindrücke. Sie sind seine „Verankerung“ in der Welt. |
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„Sprache hat mit Macht zu tun“
Porträt des Schriftstellers Hanns-Josef Ortheil
Hanns-Josef Ortheil wuchs als stummer Junge auf und fand erst spät aus der Sprachlosigkeit. Heute zählt er zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er schreibt, um sein Scheitern als Pianist auszuhalten: Autobiografische Romane ohne Scheu vor Happy End und großer Liebe.
Er war „der stumme Junge in der letzten Reihe, der nie den Mantel ablegte“ – ständig auf der Hut und bereit zu fliehen. Gleich das erste Schuljahr wird für Hanns-Josef Ortheil zur Katastrophe: Weil er nicht spricht, sich isoliert, gilt er bald als behindert. Dabei hat er eigentlich nur getan, was jedes Kind tut, nämlich seine Mutter imitiert. Die hat in Krieg und Nachkriegszeit ihre vier kleinen Söhne und in der Trauer darüber die Sprache verloren. Sie teilt sich über Zettel mit, die der Vater abends gleichsam als „Roman des Tages“ mit einem Gummiband versehen auf dem Küchen tisch findet. Ihr jüngstes Kind schottet sie in hilfloser Umklammerung von der Welt ab, während sie gleichzeitig mit mechanischen Alltagsverrichtungen verzweifelt versucht, ein Stück Normalität zu wahren.
So wird selbst der unweigerliche Gang zum Spielplatz in Köln- Nippes für den kleinen Hanns zur Qual: Die Mutter sitzt abseits in einer Laube; er spielt für sich mit einem imaginären Freund – und wäre doch viel lieber wie die anderen Kinder, deren Defizite lediglich darin bestehen, schlecht schaukeln oder klettern zu können, ein „armer Kerl“ statt „ein stummer Junge“. Seine Ausdrucksmöglichkeit ist das Klavier, auf dem er früh virtuos spielt – „der Gegenstand, der uns alle gerettet hat“, wie Ortheil später sagt.
Als ihm die Sonderschule droht, tut sein Vater intuitiv das einzig Richtige: Er entreißt den Jungen dem Liebeskokon der Mutter und nimmt ihn mit auf den elterlichen Bauernhof im Westerwald. Hier herrscht Leben. Die Großfamilie betreibt nebenher eine Gastwirtschaft, und im täglichen Trubel stört sich niemand an Hanns’ autistischer Selbstversenkung. „Es war herrlich“, erinnert sich Ortheil, „weil ich unterging.“ In unbeirrbarer Liebe, mit Einfühlungsvermögen und der Hoffnung, dass sich überwinden lässt, was Frau und Kind nahezu lebensunfähig macht, eröffnet der Vater seinem Sprössling behutsam die Welt und damit schließlich die Sprache. Dabei ist der Vermessungsingenieur selbst nicht besonders redegewandt. Wenn ihm an langen, schweigsamen Aben den mit dem Sohn nichts mehr einfällt, greift er zu geodätischen Fachzeitschriften und liest daraus vor. Dennoch ist dieser von tiefem Glauben und Gott vertrauen getragene Mann die heimliche Hauptfigur in Ortheils Opus Magnum „Die Erfindung des Lebens“. Es ist zugleich der autobiografischste Roman des 62-Jährigen, der in seinen Werken immer wieder die eigene Geschichte verarbeitet.
Und Ortheil schreibt unermüdlich. Schon als Kind notiert er seine Beobachtungen akribisch in Kladden. Auch heute ist er nie ohne Notizbuch unterwegs – nur dass er jetzt auch noch Kamera und Aufnahmegerät mitschleppt. Wie ein Besessener sammelt er Ideen, Eindrücke, Bilder, Geräusche, die sich später vielleicht für eine Romanszene verwenden lassen. Seine Wahrnehmung dafür ist von klein auf geschärft. Wer den anderen nicht fragen kann, wie es ihm geht, muss seine Antworten auf andere Weise finden. Er habe schon gewusst, was los war, wenn sie irgendeinen Laden in Köln betreten hätten, erklärt Ortheil. Atmosphäre, Stimmungen, dafür hat er früh ein Gespür – genauso, wie er schnell merkt, wenn Leute nicht ehrlich sind, wenn das Gesagte nicht zu ihrer Körpersprache oder dem Klang ihrer Stimme passt. Mit seismografischer Präszision und nahezu fotografischem Gedächtnis speichert er „Lautlandschaften“ – wie in einem Kölner Brauhaus, wo Bestellungen, das Murmeln der Gäste und Klirren der Gläser in seinen Ohren eine ganz eigene Musikalität entwickeln.
Blick für kleine Begebenheiten
Es sind diese Beobachtungen, die minutiös beschriebenen kleinen Dinge und die großen Geschichten, die Ortheils Leser ansprechen. Sein Stil ist klar und einfach – er nennt ihn „lateinisch“. Schließlich hat ihn Latein mit seiner Verbindung aus Eleganz und Schlichtheit schon als Kind beeindruckt. Wer Ortheils Bücher liest, erliegt schnell dem Gefühl, ihn zu kennen. Bei Lesungen erlebt das Publikum einen aufgeräumten, humorvollen Autor, der das Drama seiner Kindheit offen thematisiert. Wer ihm persönlich begegnet, spürt, wie schwer es sein muss, diesem Mann wirklich nahe zu kommen. Ortheil ist höflich, Fragen beantwortet er nahezu druckreif, aber es ist, als ob er eine unsichtbare Wand zwischen sich und anderen errichten würde.
Schreiben als Selbstversicherung
„Es ist für mich ganz schwer, in der Welt zu verankern“, hat er einmal in der ARD-Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“ gesagt. Schließlich hat er früh Geschick darin entwickelt, sich in seiner Außenseiterposition einzurichten. Das ständige Prototollieren ist nicht zuletzt ein Mittel, die Verbindung zur Welt sicherzustellen und die Kontrolle zu behalten. Wenn er Texte liest, setzt bei Ortheil, der auch Professor für kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim ist, nach eigenem Bekunden sofort der „Korrekturreflex“ ein. Mitunter führt das so weit, dass er seine mündlich gegebenen Interviews komplett umschreibt.
Dabei ist Schreiben für Ortheil nur zweite Wahl. Nach dem Abitur in Mainz hatte er es bis ans Konservatorium in Rom geschafft und eine aussichtsreiche Pianistenkarriere vor sich, als ihn eine chronische Sehnenscheidentzündung zwang aufzuhören. Bis heute jedoch bleibt Musik für ihn „die nuancierteste Form des Ausdrucks und kann Gefühle so tief erkunden und ausloten, wie es Sprache nicht kann.“ Sprache empfindet er als „etwas sehr Fremdes“. Jahrelang hat er sich damit schwer getan, seine Sätze waren voller Fehler. „Sprache hatte für mich immer mit Regeln und Gesetzen, also mit Macht zu tun“, erklärt Ortheil. „Das begann in der Schule schon mit den bekannten Vorschriften ‚schreib deutlich‘, ‚halte die Linien ein‘. Man konnte unendlich viel falsch machen und ein Verbot nach dem anderen übertreten.“
Trotzdem wird das Schreiben später sein Rettungsanker, um das Scheitern als Pianist auszuhalten. Geholfen hat Ortheil dabei auch sein Glaube, der eine wichtige Rolle in seinem Leben spielt: „Der Glaube war einfach von frühester Kindheit an da und bot einen enormen Rückhalt. Indem der Mensch glaubt, befreit er sich von der schmalen Enge des Lebens“, erklärt er. Ortheils Lieblingsonkel war Pfarrer in Essen, „eine Art Sozialarbeiter, unablässig, auch nachts im Einsatz. Das hat großen Eindruck auf mich gemacht.“ Wenn der Neffe heute in fremden Städten unterwegs ist, geht er gerne in Kirchen, weil sie ein Ort sind, an dem er sich zu Hause fühlt. In seinem jüngstem Werk „Das Kind, das nicht fragte“ spielt eine Schlüsselszene im Beichtstuhl. Ermutigt von einem einfühlsamen Priester, gewinnt Benjamin, den seine übermächtigen älteren Brüder nur selten zu Wort kommen lassen, hier zum ersten Mal das Zutrauen, vor einem Fremden zu erzählen. Das Ringen mit der Sprachlosigkeit aber bleibt das Herzstück von Ortheils Schaffen. Es ist das feinsinnig komponierte Werk eines musikalischen Schriftstellers und poetischen Musikers.
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