Stabwechsel in der SuppenkücheEs ist eine Geschichte, wie sie sich hundertfach ereignet: Was europäische Missionarinnenund Missionare aufgebaut haben, geht mit ihrer Rückkehr in die Heimat in einheimische Hände über. Doch so einfach, wie es klingt, ist es nur selten. |
Text: Franz Jussen; Fotos: Fritz Stark
Keine leichte Aufgabe, die sich Schwester Bonifacis Titus, 54, ausgesucht hat: Sie tritt die Nachfolge ihrer Liechtensteiner Mitschwester Leoni Hasler, 76, als Leiterin des Sozialzentrums in Tsumeb an. Die Mahlzeiten und Medikamente des Zentrums sind für viele Menschen im Norden Namibias überlebenswichtig. Beinahe wäre der Stabwechsel der beiden Missions-Benediktinerinnen in der Minenstadt zum einem Musterbeispiel geworden. Doch unvorhersehbare Ereignisse können selbst eine gut vorbereitete Übergabe eines Missionsprojektes zu einer Herausforderung werden lassen. In Tsumeb schien alles glatt zu laufen, bis völlig unerwartet... Doch der Reihe nach. Die Geschichte aus Namibia lässt sich besser in mehreren Akten erzählen.
Ein Montag im Spätsommer 2012
Früher Morgen auf dem Gelände der St.- Franziskus-Gemeinde: Schwester Leoni begrüßt alle elf Mitarbeiter ihres Sozialzentrums herzlich und mit Handschlag. Zwischen den fünf gewaltigen Transportcontainern spricht sie ein kurzes Gebet und wünscht den Männern und Frauen eine gesegnete Arbeitswoche – so, wie sie es seit Jahren an jedem Wochenbeginn tut. Und wie immer trägt die Liechtensteinerin ihre bequemen, giftgrünen Turnschuhe. In der Hand hält sie eine Golfkappe mit dem bunten Schriftzug „Sr. Leoni’s Care Centre“, die sie bei greller Sonneneinstrahlung über ihren Schleier ziehen kann.
Kurz darauf beginnen in dem Zentrum, das ihren Namen trägt, routinierte Abläufe. Nach einem offenbar lange erprobten System verteilen sich die Mitarbeiter auf die fünf riesigen und zweckgebunden hergerichteten Metallboxen: Die einen verschwinden im Kühlcontainer, andere im Materiallager und drei Frauen im Küchen-Container. Schwester Leoni zieht es in den Apothekencontainer, vor dem schon die ersten Patienten warten. In weniger als vier Stunden wird sich vor der Essensausgabe die erste Schlange bilden. In ihrer Mittagspause wollen sich 200 bis 300 Mädchen und Jungen aus den benachbarten Schulen eine warme Mahlzeit holen.
Ein Wettlauf mit der Zeit
Ebenfalls zur Mittagszeit wollen Josef Gaiseb, 52, und seine beiden Kurier-Kollegen ihre Fahrradanhänger mit mehr als 100 mit Suppe gefüllten Plastikdosen beladen, um sie alten und behinderten Menschen oder mittellosen Familien quer durch die kleine Stadt an die Haustüren zu liefern. Obwohl jeder Handgriff des Teams sitzt, ist der ganze Vormittag ein einziger Wettlauf mit der Zeit. Fünfmal die Woche wiederholen sich die Szenen im Containerdorf. Nur am Wochenende herrscht Ruhe. Seit einigen Monaten gehört Schwester Bonifacis zum Team. Schrittweise soll sie die Verantwortung für das Sozialzentrum von Schwester Leoni übernehmen. „Als ich zu Beginn des Jahres erfuhr, dass Leoni eine Nachfolgerin sucht, habe ich mich einfach gemeldet“, sagt die Frau aus der Volksgruppe der Ovambo und studierte Theologin. 15 Jahre lang hatte sie zuvor mit viel Freude den Ordensnachwuchs ausgebildet. Aber zuletzt verspürte sie immer stärker den Wunsch, in einer Gemeinde zu arbeiten, um als Seelsorgerin für die Menschen da sein zu können. Tsumeb bietet ihr dazu ausreichend Gelegenheit. „Mit der Übergabe der Verantwortung für das Projekt sind wir jetzt etwa auf halbem Wege“, schätzt Schwester Bonifacis an diesem Montagmorgen den Zwischenstand ein. Schwester Leoni, die mitgehört hat, widerspricht: „Ich habe mich so gefreut, dass Schwester Bonifacis das Zentrum übernehmen will! Arbeiten können meine Mitschwestern und das Team auch heute schon ohne mich. Denn jede weiß genau, was sie zu tun hat.“
Die Freude über ihre auserkorene Nachfolgerin ist, wie Schwester Leoni einräumt, nicht ganz selbstlos: „Was würde sonst mit dem Zentrum passieren, wenn ich mal nicht mehr kann?“ Dabei denkt sie nicht nur an die elf Mitarbeiter, die dann arbeitslos werden könnten. Sie denkt vor allem an die vielen Schulkinder: „Schlecht ernährte Kinder bleiben dumm“, lautet ihr einfaches Motto für die Suppenküche. Unerwähnt lässt sie, dass ohne ihre Apotheke und das Essen auf Rädern für die Armen viele Menschen nur geringe Überlebenschancen hätten. Und dennoch zieht Schwester Leoni ein bescheidenes Fazit ihrer Arbeit in Tsumeb: „Ich habe getan, was mir möglich war. Aber mir ist bewusst, dass dies alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.“ Die zwölf Menschen, denen sie an diesem Vormittag kostenlos lebenserhaltende Medikamente verabreicht hat, werden dieser Bilanz kaum zustimmen.
Nachmittags in den Townships
Am Nachmittag trennen sich die Wege der beiden Ordensfrauen. Schwester Bonifacis will einer 17-Jährigen in einer nahegelegenen Wohnsiedlung eine warme Mahlzeit bringen. Eigentlich hätte Josef das auf seiner Tour erledigen können, aber die Ordensfrau will sich selbst davon überzeugen, wie es der Jugendlichen geht, die schon ein Baby hat und erneut schwanger ist.
In den Häusern der Siedlung, die wie ihre Bewohner schon bessere Zeiten erlebt haben, ist die Ordensfrau ein gern gesehener Gast. Als Ovambo spricht sie nicht nur die Sprache der Menschen, die in der meist vergeblichen Hoffnung, einen Arbeitsplatz zu finden, in die Stadt gezogen sind. Diese Menschen wissen auch, dass die Schwester in Notlagen ebenso wirkungsvoll helfen kann, wie dies ihre europäische Mitschwester Leoni in den vergangenen zehn Jahren getan hat.
Schwester Bonifacis jedenfalls ist sehr erleichtert, als sie erfährt, dass die Schwangerschaft der jungen Frau problemlos verläuft. Schwester Leoni stattet derweil mit dem Auto einer „alten Bekannten“ in einem anderen Stadtteil von Tsumeb einen Besuch ab. Mit Gloria Abisai, 35, verbindet sie eine jahrelange Freundschaft. Sie begann, als Gloria durch eine HIV-Infektion dem Tod bereits sehr nahe war. Leoni gelang es, sie wieder aufzupäppeln und organisierte Gloria und deren inzwischen 13-jähriger Tochter einen drei mal zwei Meter großen fensterlosen Wellblechcontainer. Seither kann die beiden erstmals ein Leben im „Eigenheim“ führen. Aus Dank hilft Gloria immer mal wieder im Sozialzentrum aus. Momentan allerdings ist sie dazu kaum in der Lage, denn eine Tuberkulose-Infektion fesselt sie ans Bett. Wie sich Gloria den Aids-Virus geholt hat, darüber schweigen sie noch die Schwester. Dieser Abschnitt aus dem früheren Leben Glorias ist von den Frauen zum Tabu erklärt worden. „Ich habe viele Menschen in Tsumeb an Aids oder dessen Folgen sterben sehen. Es war diese verdammte Immunschwächekrankheit, die mich überhaupt auf die Idee gebracht hat, das Zentrum mit der Suppenküche zu gründen“, sagt die Missionarin und lädt spontan dazu ein, sie zum Friedhof zu begleiten, um zu schildern, wie alles angefangen hat.
Missionarischer Neuanfang
Wenige Tage nach dem Jahrtausendwechsel traf Schwester Leoni in Tsumeb ein. Den größten Teil ihres Lebens als Missionarin hatte sie bis dahin in Brasilien verbracht. Jetzt, mit 63, findet sich die Ordensfrau aus dem Fürstentum plötzlich im südlichen Afrika wieder, um einen missionarischen Neustart in einer völlig anderen Kultur zu wagen. Das ist für eine Missions-Benediktinerin kein ungewöhnlicher Schritt – und erst recht nicht für die missionsbegeisterte und unkonventionelle Frau aus dem Rheintal um St. Gallen. Das Wappen am Ortseingang der Stadt begrüßt sie mit dem deutschen Bergmannsgruß „Glück auf!“ Die kleine Ordensgemeinschaft, die in der St.-Barbara-Gemeinde lebt, nimmt sie mit offenen Armen auf, und die planmäßig angepflanzten Jacaranda-Bäume, die Tsumeb zu einer der grünsten Städte im Wüstenstaat Namibia machen, begeistern die Naturliebhaberin auf Anhieb. Doch das idyllische Bild, das die Natur und die kolonialen Fassaden bei Schwester Leoni erzeugen, trübt sich bald: Als sie in den ersten Tagen den Friedhof der Gemeinde besucht, entdeckt sie hunderte Gräber, deren Inschriften von einem viel zu frühen Tod der hier Ruhenden zeugen. Es braucht nicht lange, bis die Schwester den Grund für die ungewöhnliche Todesrate erfährt: In Tsumeb grassiert die Aids-Seuche.
Die Stippvisite auf dem Gottesacker wirkt wie ein Auslöser: „An diesem Tag wusste ich, warum ich in Namibia gelandet bin“, erinnert sich die Benediktinerin. Sofort beginnt sie damit, sich ein Bild vom Leben der Menschen in der Stadt zu machen und einen Blick hinter die Kulissen des touristischen Vorzeigeortes zu werfen. Das Ergebnis ist erschreckend: Die wegen ihrer spektakulären Mineralfunde weltberühmte Minenstadt befindet sich wirtschaftlich im freien Fall, seit die letzte Mine 1996 wegen eines Generalstreikes schließen musste. Der Niedergang im Bergbau reißt die Menschen mit in den Abgrund. Der Name Tsumeb, der so viel bedeutet wie „ein großes Loch in den losen Boden graben“, hat plötzlich einen bitteren Beigeschmack.
Arbeits- und Obdachlosigkeit, Verwahrlosung und Krankheiten aller Art verzeichnen ungeheuerliche Zuwachsraten in der 20.000-Seelen-Stadt. Die Arbeitersiedlungen drohen zu Slums zu werden. Schwester Leoni kann nicht tatenlos zuschauen. Wenigstens den allergrößten Nöten will sie begegnen: Mit ihren Mitschwestern organisiert sie ein Fürsorgeprogramm für Aids-Waisen, kauft Lebensmittel und Medikamente ein und verteilt sie an die Bedürftigsten. So geht das zwei Jahre lang.
Aus Nothilfe wird ein Sozialzentrum
Eine zufällige Begegnung verleiht dem Nothilfeprogramm einen enormen Schub. In der Gemeinde lernt Schwester Leoni den Jungrentner John Brits, heute 77, kennen. Mehr als 25 Jahre war er Manager einer südafrikanischen Brauerei. Als Refugium für seinen Lebensabend hat er sich ausgerechnet Tsumeb ausgesucht. Die agile Ordensfrau fasziniert den Bierexperten, weshalb er seine freiwillige Mitarbeit im Team der Helfer anbietet, das sich inzwischen um die Schwestern gebildet hat. Johns Ideen sollen dem Hilfsprogramm der Schwester sehr bald ein völlig neues Gesicht geben. Schnell ermittelt der pensionierte Geschäftsmann Schwächen bei der Lebensmittelverteilung: Den Nachschub stets nur in kleinen Mengen einzukaufen, die Ware nicht lagern zu können oder die Lebensmittel mit Mietwagen zu verteilen, das durchschaut der Ex-Manager schnell als zu aufwändig und umständlich. Deshalb schlägt er der Schwester vor, große Transportcontainer zu besorgen, sie herzurichten, um darin größere Mengen an Lebensmitteln lagern zu können. Gesagt, getan. Mit Hilfe des Liechtensteiner Entwicklungsdienstes kann Schwester Leoni den Kauf der Container finanzieren. Erst einen, dann drei, schließlich fünf. Die Franziskus-Gemeinde stellt ihr ein Grundstück zur Verfügung. Und John koordiniert: Seit jenen Tagen im Sommer 2003 geht jede Schraube, die im Containerdorf verarbeitet, und jedes Gerät, das angeschlossen wird, durch seine Hände. Schwester Leoni nennt ihn deshalb „meine rechte Hand“ und spricht offen von einem „besonderen Ver- hältnis“ zu diesem Mann, dessen Einfall es auch ist, dem Containerdorf den Namen „Sr. Leoni’s Care Centre“ zu geben.
Stabwechsel ohne Festakt
2013 steht das zehnjährige Bestehen des Zentrums an. Aber das Jahr beginnt mit einer traurigen Nachricht: Schwester Leoni erleidet einen Schlaganfall. Sie wird nach der Notfall-Behandlung ins oberbayrische Tutzing gebracht. An eine Rückkehr nach Tsumeb ist nach menschlichem und medizinischem Ermessen nicht mehr zu denken.
Der Stabwechsel in der Suppenküche findet ohne Festakt statt. Schwester Bonifacis, John und die zehn Mitarbeiter müssen ins kalte Wasser springen. Zweifel, ob sie die Arbeit im Sinne von Schwester Leoni und der Menschen in Tsumeb fortführen, hegt niemand. Das Team ist schließlich eingespielt. Dennoch ist die Lage nicht mehr vergleichbar. Wie hatte die Gründerin vor wenigen Monaten gesagt: „Liechtensteinerin zu sein, ist schon ein Vorteil. Jeder kennt jeden. Ich habe einen guten Hintergrund. Ich bedanke mich für jede Spende aus Liechtenstein und Deutschland, wirklich für jede. Denn davon lebt das Projekt schließlich.“ Beim nächsten Heimaturlaub wollte Schwester Leoni ihre Nachfolgerin den Freunden in Europa vorstellen. Daraus wird nun nichts. Ob Schwester Bonifacis dennoch auf den guten Hintergrund von Schwester Leoni bauen kann?
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Freudentanz: Ob im traditionellen Ovambo-Gewand oder im Ordenskleid, Tanzen zeugt von Lebensfreude.
Friedhofsbesuch: Die Inschriften der Gräber lassen Schwester Leoni das Ausmaß der Aids-Seuche erkennen.
Zuneigung: Gloria, 35, ist schwer an Tuberkulose erkrankt. Schwester Leoni hat ihr einen Wohncontainer aus Blech organisiert. Sonst wäre sie obdachlos.
Verständnis: Schwester Bonifacis mit Jugendlichen.
Offenheit: Häusliche Gewalt, zerbrochene Familien oder mangelhafte Ernährung – an Gesprächsthemen fehlt es Schwester Bonifacis in Tsumeb nicht.
Kontaktpflege: Regelmäßig erkundigt sich Schwester Bonifacis in den armen Wohnsiedlungen der Stadt nach den Sorgen großer und kleiner Bewohner.
Tausendsassa: John kümmert sich im Sozialzentrum nicht nur um die Technik.
Übergabe: Schwester Leoni legt ihr Projekt in einheimische Hände.
Containerapotheke: Schwester Leoni verabreicht Medikamente an eine mittellose Patientin.
Nachschub: Schwester Bonifacis holt neue Lebensmittel aus dem Kühlcontainer des Sozialzentrums.
Kurier: Josef bringt das Mittagessen per Fahrrad.
Schmuckstück: Die Schwestern leben in der Pfarrgemeinde St. Barbara. Die 100 Jahre alte Kirche ist ein Nationaldenkmal in Namibia.
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