Heimatlos zu HauseEs geht um wertvolle Rohstoffe, um die Kontrolle der Schmugglerpfade, um die Vorherrschaftder burmesisch-buddhistischen Mehrheit. Unbeachtet von der Welt führt Myanmars Militärregierung im Norden des Landes Krieg gegen das eigene Volk. Hunderttausend Menschen sind auf der Flucht. |
Text: Beatrix Gramlich; Fotos: Hartmut Schwarzbach
„Ringsum explodierten Bomben. Wir wollten uns gerade in einem Erdloch verstecken, als vor uns eine Rakete einschlug. Glücklicherweise ging sie nicht hoch.“ Wenn Nga Brang Awng erzählt, laufen die Bilder in seinem Kopf wie ein Film vor ihm ab: die aufspritzende Erde, als die Bomben zerbersten, die in Panik davonlaufenden Menschen, die Schreie, das Chaos, die Todesangst. In letzter Minute gelingt es ihm, seine Frau und die Kinder zu retten. Vielleicht hatten sie zu lange gezögert. Aber Nga Brang Awng wollte warten, bis sich alle Dorfbewohner in Sicherheit gebracht hatten. Der 40-Jährige ist Katechist. Er fühlt sich verantwortlich für die Menschen, die ihm anvertraut sind.
Flucht über den Fluss
Jetzt lebt er mit seiner Familie in einem Flüchtlingslager und kümmert sich darum, dass das Zusammenleben unter den schwierigen Verhältnissen gelingt. Sein Heimatdorf Ta Law Gyi liegt 80 Kilometer entfernt, weit in den Bergen. Eine Straße dorthin gibt es nicht. Der Fluss war ihre einzige Chance zu entkommen. Zugegeben, keine besonders gute. Denn auf dem altersschwachen Kahn, den sie in der Eile hatten anheuern können, kamen sie nur langsam voran: 100 Männer, Frauen und Kinder auf einem hoffnungslos überladenen Boot, zusammengepfercht in ihrer Angst und Verzweiflung. Es wurde schon Nacht, als sie Myitkyina endlich erreichten. Die Hauptstadt des Bundesstaates Kachin würde sicherer sein als die Berge, und dort könnte ihnen die Kirche helfen. Das hatte Bischof Francis gesagt, als ihn Nga Brang Awng in seiner Not anrief.
Die ersten Flüchtlinge kamen im Juli 2011 in Myitkyina an. Nach 17 Jahren Waffenstillstand waren die Kämpfe zwischen Regierungsarmee und den Milizen der Unabhängigkeitsbewegung „Kachin Independence Army“ (KIA) am 9. Juni wieder ausgebrochen. Die Kriegserklärung folgte vier Tage später. Kirche und Caritas kümmerten sich sofort um die Menschen aus den Bergdörfern, die scharenweise in der Bischofsstadt Zuflucht suchten. Die Kirche organisierte Zelte, Lebensmittel, Kleidung und Decken. In St. John wurde der Pfarrsaal für Flüchtlinge geräumt. Doch schon nach vier Monaten platzten die Camps in der Stadt aus allen Nähten. Die Kirche stellte auf der anderen Flussseite ein Grundstück zur Verfügung: Die Geburtsstunde des Flüchtlingslagers St. Joseph Waingmaw.
Wer von Myitkyina nach St. Joseph will, muss die Brücke über den Irrawaddy passieren. Der Fluss ist die Lebensader Myanmars und schon hier an seinem Oberlauf von stattlicher Breite. Myitkyina bedeutet „nahe am großen Fluss“. Der Reis, der hier wächst, gilt als der beste des Landes. Doch seit Ausbruch des Bürgerkriegs ist es vorbei mit der ländlichen Idylle. In den Straßen der 90.000-Einwohner- Stadt haben Soldaten Stellung bezogen, an den Checkpoints auf der Brücke kommt man nur mit Passierschein vorbei. Zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens wird die Brücke ganz dicht gemacht. Hinter dem anderen Ufer beginnt die „restricted area“ – eines der vielen Sperrgebiete in Myanmar, die die Generäle hermetisch von der Außenwelt abriegeln. Die Angst vor den Freiheitskämpfern der 135 ethnischen Minderheiten im Land ist groß. Wie die KIA setzen sie sich seit Jahrzehnten gegen Unterdrückung durch die burmesische Mehrheit zur Wehr und fordern ihre Anerkennung als gleichberechtigte Bürger.
Es ist schon schwierig genug, überhaupt noch nach Myitkyina zu kommen. Immer wieder fallen Flüge aus, der Flughafen wird geschlossen oder das Regime verhängt über den gesamten Kachin State kurzfristig ein Reiseverbot für Ausländer. Die Militärs wollen ihren schmutzigen Krieg vor der Welt verbergen. Bei jeder Fahrt an einem Armeeposten vorbei muss der Fotograf seine Kamera verstecken. Eine Ordensfrau erzählt hinter vorgehaltener Hand, dass selbst mitten in der Stadt immer wieder Bomben explodieren. Die Priester im Bischofshaus geben offen zu, dass sie Angst haben.
Dabei schien es, als würde mit dem Amtsantritt von Staatspräsident Thein Sein im März 2011 alles besser. Er überraschte damit, dass er politische Gefangene freiließ, das umstrittene Myitsone-Staudammprojekt stoppte und sein Land für Reformen öffnete. Den Milizen der Karen, Shan, Chin und anderer ethnischer Minderheiten reichte er die Hand, indem er von der Doktrin seiner Vorgänger abrückte, sie müssten sich in die regulären Grenztruppen integrieren. Er versprach politischen Dialog und handelte an vielen Fronten Waffenstillstand aus. Die meisten Rebellengruppen unterzeichneten in der Annahme, die Gespräche würden zu mehr Selbstbestimmung und der Anerkennung kultureller Rechte für die Minderheiten führen. Die KIA weigerte sich. Sie hatte bereits 1994 ein solches Abkommen unterschrieben. Auf den erhofften Dialog wartet sie – wie die anderen Rebellengruppen – bis heute vergeblich. In einigen Gegenden wird bereits wieder geschossen.
Mehr als das Lebensnotwendige
Noel Naw Lat deutet auf Krankenstation, Büro und Vorratslager und erklärt, wie die Hilfe für die 1055 Flüchtlinge im St. Joseph-Camp funktioniert. Der Priester ist Caritasdirektor der Diözese Myitkyina und hat die Frauen, Männer und Kinder vom ersten Tag an begleitet. Mit seinen Mitarbeitern sorgt er für Unterkunft, Decken, Kleidung, Hygieneartikel, Lebensmittel. Darüber hinaus jedoch – und das unterscheidet kirchliche Hilfe von der vieler anderer Organisationen – versuchen sie, den Menschen zu geben, was sie vielleicht mehr als alles andere brauchen: Zuwendung, Nähe, das Gefühl, das jemand an ihrer Seite steht. Besondere Aufmerksamkeit schenken sie Kindern, die ihre Angehörigen im Chaos der Flucht verloren haben, Kriegswaisen sowie Menschen, die durch das Erlebte schwer traumatisiert sind.
Sobald Noel Naw Lat irgendwo auftaucht, stürmen ihm Kinder entgegen, drängen sich die Erwachsenen um ihn. Der 38-Jährige ist zwar Caritasdirektor, vor allem aber ist er Seelsorger. Er hört zu, nimmt sich Zeit, hat für jeden ein paar aufmunternde Worte. „Ich weiß, was es heißt, ein Flüchtling zu sein“, sagt er. Er war selber noch ein Kind, als der Bürgerkrieg 1979 zum wiederholten Mal ausbrach und sein Heimatdorf vom Erdboden verschwand. „Viele Menschen aus unserem Ort wurden getötet, auch mein Vater. Meine Mutter beschloss, nach Myitkyina zu gehen. Dort hatten wir nichts: keine Verwandten, kein Haus, keinen Lebensunterhalt. Mein älterer Bruder und ich mussten jeden Abend als Nachtwache arbeiten, meine Mutter und meine Schwester verkauften auf dem Markt Gemüse.“ Pfarrer Noels Geschichte könnte ebenso gut von einem Flüchtling im St. Joseph- Camp stammen. Drei Jahrzehnte später sind zwar die Waffen moderner geworden. Die Grausamkeit des Krieges aber bleibt dieselbe. „Es macht mich traurig, wenn ich die Flüchtlinge sehe“, sagt Noel Naw Lat. „Aber ich versuche, mein Bestes zu geben, damit die Kinder nicht so leiden wie ich damals.“
Das Flüchtlingslager gleicht einer kleinen Stadt. Rechts und links der sauber gefegten Gassen reihen sich Bambushütten aneinander. Jede besteht aus zehn Einheiten, die je eine Familie bewohnt. Viele haben das Dach mit Plastikplanen verlängert und versuchen, sich damit ein wenig mehr Privatsphäre zu schaffen. Die jedoch gibt es ohnehin kaum. Die Gassen sind so schmal, dass sich die Bretterverschläge fast berühren. Durch die dünnen Bambuswände in den Hütten dringt jedes Geräusch. Im Sommer wird es unter den Wellblechdächern brütend heiß, im Winter schneidend kalt. Die Menschen versuchen, ihrenAlltag so gut es geht zu organisieren. Draußen stapeln sie Feuerholz, jemand hat einen Quadratmeter Erde umzäunt und zieht Tomaten. Etwas abseits hockt ein alter Mann am Boden und flicht Bambuskörbe. Jeder hat seine eigene Methode, die Zeit totzuschlagen. Zu Hause würden sie jetzt auf ihren Feldern arbeiten. Hier im Lager sind sie zum Nichtstun verurteilt. Noch schlimmer jedoch als die Langeweile ist die nagende Ungewissheit, ist ihre unstillbare Sehnsucht nach Hause.
Minderheit zwischen den Fronten
„Unser Köper ist hier. Aber unsere Seele ist in unserem Dorf“, sagt Hpung Gan La Seng. Mit seiner Familie hat er sich in der Hütte notdürftig eingerichtet. Ein Zuhause wird sie nie werden. Drei Stühle, ein Regal mit ein paar Blechtöpfen, an der Stirnseite ein liebevoll geschmückter Hausaltar mit Kreuz und Marienbild. Der Glaube gibt ihnen Kraft. Wie die meisten Flüchtlinge gehört die Familie zur Volksgruppe der Kachin. Die Kachin sind zu 90 Prozent Christen und damit im buddhistisch-burmesischen Myanmar nicht nur eine ethnische, sondern auch eine religiöse Minderheit. Und sie leben in einer begehrten Gegend.
Mit seinen Tropenhölzern, Gold- und Edelsteinminen ist der Kachin State das ressourcenreichste Bundesland Myanmars. Die KIA verdient nicht nur an der Kontrolle der Schmugglerpfade. Sie beutet auch selber Minen aus und fordert Abgaben von den Rohstoff fördernden Unternehmen im Kachin State. Die überwiegend chinesischen Firmen kommt das teuer zu stehen: Denn neben der Rebellenarmee treibt zugleich der Staat Steuern ein. Auch jede Kachin-Familie muss an die KIA zahlen. Dennoch betrachten die Menschen die Milizen als jemand, der für sie und ihre Rechte kämpft. Auf der anderen Seite sehen sie die Regierungsarmee, die ihre Offensiven vor allem zur Saat- und Erntezeit startet, ihre Dörfer zerstört und eine Spur der Verwüstung durchs Land zieht.
Hpung Gan La Sengs Frau war im sechsten Monat schwanger und mit ihren Kindern allein, als sie fliehen musste. Ihr Mann arbeitete in einer der Goldminen in der Nähe der Staudämme – wie viele Familienväter es tun, wenn die Erntezeit vorbei ist. Morgens um drei schreckte die junge Frau aus dem Schlaf. Durch die Nacht peitschten Schüsse, das dumpfe Donnern einschlagender Bomben kam immer näher. Hpaudut Lu Aung war sofort hellwach. Ihr Blick fiel auf die schwarze Kiste, in der sie ihre Kleider aufbewahrten: Die einzige Möglichkeit, sich zu verstecken. Zitternd kroch sie mit den Kindern hinein und harrte dort stundenlang regungslos aus, bis die Gefechte nachließen. Dann packte sie ihre beiden kleinen Töchter und rannte los: Die eine auf dem Arm, die andere an der Hand, auf dem Kopf einen Korb voll Reis, in den sie geistesgegenwärtig noch ein paar Kleider gestopft hatte. „Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe“, sagt sie heute. Angst kann schier übermenschliche Kräfte mobilisieren. Verzweifelt kämpfte sie sich durch die Nacht, bis sie endlich ihre Felder erreichte. Wie die meisten Bauern hatten auch sie hier eine Hütte, in der die Männer übernachteten, wenn es draußen viel zu tun gab. Hier versteckten sie sich zwei Tage lang. Dann organisierten sie mit ihren Nachbarn die Flucht: Zu acht auf einem Tricycle, einem dieser erstaunlichen Fahrzeuge auf drei Rädern, deren Ladefläche sich mit wachsender Fahrgastzahl wie Gummi zu dehnen scheint.
Noel Naw Lat hört aufmerksam zu. Die Flüchtlinge sprechen selten über das, was sie erlebt haben – als wollten sie die Erinnerungen und ihr mühsam unterdrücktes Heimweh nicht unbedacht aufscheuchen. Niemand weiß, ob sie jemals wieder nach Hause zu rückkehren können. Denn Myanmars Generäle verfolgen eine Politik der verbrannten Erde. Ihre Soldaten vergewaltigen, plündern, töten das Vieh, setzen die Dörfer in Brand. Wer fliehen kann, erreicht mit Glück die Städte Banmaw oder Myitkyina. Viele aber schaffen es nur in eines der Urwaldcamps an der chinesischen Grenze, zu denen die Armee internationalen Hilfsorganisationen jeden Zutritt verweigert. Noel Nwa Lat und seine Leute machen sich regelmäßig auf den Weg in die improvisierten Lager und sind meist die einzigen Helfer vor Ort. Aber die Fahrt durch die unwegsamen Bergwälder ist gefährlich und schon das Notwendigste für die Menschen dort schwer zu organisieren. Die Flüchtlinge im Kachin State werden noch lange Geduld haben müssen. Was bleibt, ist ihre Sehnsucht nach früher, die Sehnsucht nach ihrem „alten“ Leben – das es so wohl nie wieder geben wird.
Nachtrag zur Reportage:
Am 30. Mai 2013 vereinbarten die Freiheitskämpfer der „Kachin Independence Army“ (KIA) und Vertreter der Militärregierung Myanmars einen vorläufigen Waffenstillstand. Das Sieben-Punkte-Abkommen, auf sich beide Seiten einigten, sieht weitere Friedensgespräche, den Abzug der Kampftruppen von der Front sowie die Rückführung Zehntausender Flüchtlinge vor. Verhandlungen über die politischen Forderungen der KIA sollen folgen. An den dreitägigen Beratungen in Myitkyina hatten auch UN-Sonderberater Vijay Nambiar, Repräsentanten anderer ethnischer Minderheiten und Beobachter aus China teilgenommen. Vertreter der Kirche beurteilen die Ergebnisse nach acht Verhandlungsrunden in den vergangenen eineinhalb Jahren „vorsichtig optimistisch“.
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Fürsorge: Die Großfamilie hält zusammen. Viele Kinder haben im Krieg oder auf der Flucht ihre Eltern verloren.
Ein alter Mann flicht Körbe aus Bambus. Jeder seine eigene Methode, die Zeit totzuschlagen.
Alltag: Ihr Essen im Blechgeschirr machen sich die Flüchtlingskinder auf den Weg in die Schule.
Kontrolle: Das Militär ist allgegenwärtig. Myanmar mag sich öffnen, eine Diktatur ist es immer noch.
Ansprechpartner: Katechist Nga Brang Awng.
Verantwortung: Katechist Nga Brang Awng konnte seine Familie in letzter Minute vor den Bomben retten.
Frauen sieben Reis. Die Familien kochen in ihren Hütten auf Holzkohlefeuer.
Kirche und Caritas kümmern sich um die Verteilung der Hilfsgüter im Camp.
Hpaudut Lu Aung erzählt dem Priester von ihrer Flucht mitten in der Nacht.
Langeweile: Daheim wären sie auf ihren Feldern, im Lager sind die Flüchtlinge zum Nichtstun verurteilt.
Abwechslung: Kinder vergnügen sich beim Wasserholen. Der Ziehbrunnen ist ein beliebter Treffpunkt.
Erste Hilfe: Die Krankenschwestern im Camp sind selber Flüchtlinge. Die meisten ihrer Patienten leiden unter Malaria, Tuberkulose, Grippe und Hautkrankheiten.
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