Bischof em. Joachim Wanke war bis 2012 Bischof der Diözese Erfurt. Für 2016 hat Papst Franziskus ein Heiliges „Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Foto: Bistum Erfurt |
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Spiritualität
Können wir uns Barmherzigkeit leisten?
Das Schlüsselwort des gesellschaftlichen Grundgefühls lautet: Gerechtigkeit. „Ich muss meine Rechte einfordern!“, oder: „Das steht mir gesetzlich zu!“ Nichts gegen Gesetze! Es ist gut, wenn die Grundrechte der Menschen gesichert werden. Es ist gut, wenn man sich vor Gerichten gegen Willkür und Benachteiligungen wehren kann. Aber: Allein durch Paragraphen wird unsere Welt nicht besser.
Neben der Gerechtigkeit braucht es das Erbarmen und die Liebe, die dem Nächsten einfach gut sein will –auch wenn dafür keine Belohnung ausgesetzt ist und keine gesetzliche Strafandrohung dies erzwingt. Wie kostbar Erbarmen ist, kann jeder für sich durchbuchstabieren, wenn er sich vorstellt, einem unbarmherzigen Menschen ausgeliefert zu sein. Und in einer Gesellschaft, in der jeder nur an seine eigenen Rechte denkt, möchte ich auf Dauer nicht leben.
Die Bereitschaft, selbst anderen gegenüber barmherzig zu handeln, hat dort eine Chance, wo ich selbst am eigenen Leibe einmal Barmherzigkeit erfahren habe. Barmherzigkeit erlernt man nicht, man erfährt sie – und verliert so nach und nach die Angst, durch Verzicht auf eigene Ansprüche selbst zu kurz zu kommen.
Die Urerfahrung des an Gott glaubenden Menschen ist die an Jesus ablesbare Gewissheit, dass Gott mehr liebt als wir ihm zutrauen. Gottes unfassbare Barmherzigkeit uns gegenüber, für die Jesu Lebenshingabe in den Tod steht, ist die unerschöpfliche Quelle menschlicher Barmherzigkeit. Barmherzigkeit hat über die Zeiten unterschiedliche Ausprägungen gehabt.
In einer Welt ohne Bestattungsinstitute war es ein Werk der Barmherzigkeit, Tote zu begraben – heute eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Angesichts der hohen Kosten einer Beerdigung ist es schon wieder barmherzig, auch Hartz-IV-Empfängern ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen.
Die „Sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit“ bleiben zeitlos in Geltung: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Tote bestatten. Oder die „Sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit“ wie belehren, raten, trösten und zurechtweisen.
Wie könnte Barmherzigkeit heute konkret aussehen, in einer Gesellschaft, in der die soziale Grundabsicherung weithin vom Staat garantiert wird? Wenn unser aller Leben einmal endgültig bewertet wird, werden manche „Große“ sehr klein aussehen, und manche „Kleine“, etwa jene, die ehrenamtlich in einer Suppenküche mitarbeiten, die Gemeindedienste übernehmen, die Kranke besuchen, die alte Eltern pflegen, die Flüchtlinge aufnehmen – eben: die „Barmherzigen“, sie werden groß dastehen.
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