„Gehorchen kann man nur aus freiem Willen“Der Schriftsteller und Autor Navid Kermani zählt zu den wichtigsten Stimmen
in Deutschland, wenn es um den Dialog der Religionen und Kulturen geht. |
Interview: Beatrix Gramlich; Foto: Meyer
Als er 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam, rief Navid Kermani die Gäste auf, für Pater Jacques Mourad und die 200 Christen seiner syrischen Gemeinde zu beten, die der IS entführt hatte. Der muslimische Schriftsteller und Autor zählt zu den wichtigsten Stimmen in Deutschland, wenn es um den Dialog der Religionen und Kulturen geht. Kermani, 49, wuchs als vierter Sohn einer iranischen Arztfamilie in Siegen auf und habilitierte in Orientalistik. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Kermani lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Köln.
Sie haben einmal gesagt: „Wem an Religion etwas liegt, der kann eigentlich nur Säkularist sein.“ Können Sie das erklären?
Man sieht doch, dass Menschen überall dort, wo Religion in Politik eindringt, von der Religion entfremdet werden. Die Ansprüche der Religion gehen eigentlich über das Menschenmögliche hinaus. Das Maß an Aufopferung, an Radikalität: Das sind Dinge, die ein Einzelner befolgen kann. Aber wenn sie Menschen politisch aufgezwungen werden, werden sie gewalttätig.
Also geht es im Grunde um die Freiheit des Menschen?
Ja. Man kann nur gehorchen, wenn man es aus freiem Willen tut. Dass die, die sich niederwerfen, erst einmal stehen müssen, ist auch der katholischen Kirche nicht immer bewusst. Sobald Zwang hineinkommt, wird das, was Menschen zum Großartigsten leiten kann, zum Fürchterlichsten.
Kann Religion die Welt denn nicht friedlicher machen?
Vielleicht werden Religionen in einer Zeit, da ihre Äußerlichkeiten so wichtig werden, umso gefährlicher. Worauf es für mich ankommt, sind nicht die Formen, die Kleider, die Traditionen: der ganze Reichtum der Religionen, den zu verlieren schrecklich wäre. Äußerlichkeiten sind relativ leicht herzustellen und zu kopieren. Aber im Kern ein Mensch zu sein, der seinen Feind oder Nächsten liebt, der die Barmherzigkeit verinnerlicht, ist viel schwieriger.
Wollen die Menschen lieber einfache Botschaften hören?
Ich habe den Eindruck, Fundamentalismus steht dafür, dass Religion auf Äußerlichkeiten reduziert wird. Dann wird sie eine Hülle, die dafür da ist, mich von anderen zu unterscheiden – obwohl die Religionen im Kern eine ähnliche Botschaft haben.
Wieso ist die Terrormiliz IS mit dieser Strategie so erfolgreich?
Der IS ist nicht der Beginn, sondern der Endpunkt einer langen und fürchterlichen Entwicklung. Fundamentalismus war eine Reaktion auf die Moderne. Er ist nicht aus der Tradition, sondern eher aus der Traditionslosigkeit, dem Verlust der eigenen Identität entstanden. Das sieht man an den Biographien der heutigen Dschihadisten, die so gut wie nie aus traditionellen, frommen Milieus kommen, sondern aus genau der säkularisierten Welt, die sie bekämpfen.
Wie passt das zusammen?
Die islamische Kultur hatte gegenüber der westlichen immer das Gefühl der Überlegenheit. Sie war zivilisatorisch in vielem weiter. Aber plötzlich, im 19. Jahrhundert, war der Westen durch den Kolonialismus haushoch überlegen. Der Grund, den er vermittelte, war: Ihr seid rückständig, weil ihr Muslime seid. Die Eliten, die Teil dieser Debatte waren, etwa weil sie im Westen studiert hatten oder die europäischen Schriften lasen, haben dieses Denken übernommen, aber gesagt: Nicht die Religion ist Ursache unserer Rückständigkeit, sondern dass wir unsere wahre Religion verloren haben. Das war der Ursprung des modernen Fundamentalismus.
In Ihrer Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels haben Sie zum Gebet aufgerufen. Was bedeutet Beten für Sie?
Das persische Wort für Beten, das vom Arabischen „Do’a“ kommt, bedeutet eher „einladen“, als dass, wie im Deutschen, die „Bitte“ mitschwingt. Auch ich bitte, dass mir Dinge gelingen. Aber einen Menschen zu lieben, diese Welt, die Gott geschaffen hat, in ihrer Vollkommenheit wahrzunehmen – das ist für mich der Kern des Gebets: Aufnehmen, sich verlieren und dabei reicher werden, weil die Welt einen erfüllt.
Das klingt beinahe mystisch. Ihr Fachgebiet ist islamische Mystik. Was fasziniert Sie daran?
Zunächst einmal die Literatur. Ein Großteil der persischen und arabischen Literatur, die mich begeistert, ist im Kern mystisch. Aber auch, dass Religion kein Lehrgebäude ist, sondern etwas Erlebtes und sehr Subjektives.
Vom Islam gewinnt man gegenwärtig ein anderes Bild ...
Der Islam wird sehr stark auf Gesetze reduziert. Aber das entspricht nicht überall der Realität. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein und an vielen Orten der Welt, etwa in Asien, ist der mystische Islam noch heute der dominante.
Wie kann das Miteinander von Christen und Muslimen gelingen?
Dialog entsteht in der Beschäftigung. Für mich heißt Dialog, dass ich Bücher lese, dass ich meine eigene Welt weite. Ganz wichtig ist der persönliche Kontakt. Je natürlicher der ist durch Einkaufen, Schule, Sportvereine, desto weniger anfällig sind die Menschen für Feindbilder. In dem Moment, wo man einen Ali kennt oder eine Sonja, und die sind anders als das Bild von den Alis und Sonjas, kann man nicht mehr so einfach pauschalisieren.
Worüber staunen Sie beim Christentum am meisten?
Über die Feindesliebe und über Menschen, die sie leben – wie Pater Jacques: Menschen, die durchdrungen sind von der Liebe Jesu Christi. Das macht einem Mut. Die Kirche müsste viel mehr auf diese Kraft achten. Manchmal erscheint sie nur noch wie eine Behörde, die den Betrieb organisiert, Sozialleistungen, Bildungsarbeit oder Lobbyarbeit betreibt. Aber man spürt das Wichtigste nicht – das, was das Christentum ausmacht: die brennende Liebe zu den Menschen, zu allen Lebewesen, zur Schöpfung, die bis in jedes Atom göttlich und also kostbar ist.
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