Rückkehr der ChristenDie Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) scheint bald Geschichte, die Städte und Dörfer
der Ninive-Ebene im Irak sind befreit. Jetzt hoffen die wenigen verbliebenen Christen auf einen Neuanfang.
Nach der Flucht wollen sie ihr Leben wieder aufbauen. Es ist vielleicht der letzte Versuch. |
Text: Christian Selbherr
Foto: Fritz Stark
Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben: Der syrisch-orthodoxe Priester Daniel Behnam wendet sich um und zeigt in den Altarraum seiner Pfarrkirche. „Schauen Sie“, sagt er, „hier stecken noch die Kugeln in der Wand. Und hier haben sie sogar das Altarbild zerstört.“ Dann bleibt er vor der Eingangstüre stehen und erzählt von dem Augenblick, an dem er hätte sterben können. Es war bei seiner Rückkehr in die kleine Stadt Bashiqa im Norden des Irak. Er war zum ersten Mal wieder da, seit er und seine Gemeinde vor den Schergen des „Islamischen Staates“ hatten fliehen müssen. Fliehen oder sterben: Das war ihre Wahl gewesen. Pfarrer Daniel und die Seinen gingen, wie es die Christen in der Region schon so oft hatten tun müssen. Doch dann, nach drei langen Jahren, kamen endlich gute Nachrichten: „Der IS ist weg, sie haben sich zurückgezogen.“ Die Christen wollten die Rückkehr wagen. Vorsichtig näherte sich Pfarrer Behnam der verlassenen Pfarrkirche von Bashiqa, öffnete die eiserne Tür und trat in den Kirchenraum. Da entdeckte er einen Plastikstuhl, ganz nahe am Eingang, und etwas, das darauf lag. Er wusste, was es war, und erschrak: ein Gürtel, befüllt mit Sprengstoff. Jemand musste ihn dort hingelegt haben. Damit er explodierte, sobald sich die Kirchentüre öffnete, und möglichst viele mit in den Tod gerissen würden.
Es war pures Glück, dass der Sprengsatz nicht in die Luft ging. Pfarrer Behnam lebt und mit ihm die Hoffnung auf einen Neuanfang in den Städten und Dörfern der Ninive-Ebene. Orte wie Bashiqa sind nur rund 20, 30 Kilometer entfernt von Mossul, der früheren Millionenstadt, die heute zu weiten Teilen in Trümmern liegt. Die Ninive-Ebene im heutigen Irak liegt im Ursprungsland der Christen. Deren Sprache, das Aramäische, ist die Sprache Jesu, die assyrische Schrift uralt. Im nahen Mossul war Anfang Juli 2014, zu Beginn des Fastenmonats Ramadan, IS-Führer Abu Bakr al-Bagh-dadi vor seine Anhänger in der Großen Moschee getreten und hatte ein Kalifat mit ihm an der Spitze ausgerufen. An einem weiteren Freitag tönte es aus den Lautsprechern der vom IS besetzten Moscheen. „Christen müssen Moslems werden, eine Kopfsteuer bezahlen oder sie müssen die Stadt verlassen.“ Ihre Häuser wurden mit einem arabischen Buchstaben beschmiert: Eine Abkürzung für „Nasrani“ wie „Nazarener“, also „Christ“. Drei Tage hätten sie Zeit, dann würden sie getötet.
Drei Tage Zeit zu fliehen
Bald setzte sich ein Flüchtlingszug in Bewegung, zu Fuß, mit Autos, auf LKW. In der Hoffnung auf eine baldige Heimkehr suchten die Menschen zunächst Schutz in den kleinen Städten nahe Mossul. Andere zogen weiter in Städte wie Dohuk und Erbil, die zur autonomen Kurdenregion gehören.
„Innerhalb von wenigen Tagen kamen 100000 Flüchtlinge zu uns“, erinnert sich Stephen Rasche. Der US-Amerikaner arbeitet für die chaldäisch-katholische Erzdiözese in Erbil, der Hauptstadt der Region Kurdistan. Die Kirche war es, die die Neuankömmlinge mit dem Nötigsten versorgte. Die Menschen schliefen in Kirchengebäuden und Gemeindesälen oder zelteten auf offenem Feld. Andere kamen bei Verwandten unter. „Dann mieteten wir mehrere Apartments für sie“, sagt Rasche. Für etwa 30000 dieser Flüchtlinge zahlte die Kirche die Unterkunft. Im christlich geprägten Stadtviertel Ankawa entstand außerdem ein großes Flüchtlingslager.
Die Kirche hilft zu überleben
„Ohne die Hilfe der Kirche hätten diese Menschen nicht überlebt“, sagt Rasche, und er übertreibt nicht. Denn in den Wirren des Eroberungszuges durch den IS waren internationale Organisationen wie die UNO mit der großen Zahl an Hilfesuchenden schlichtweg überfordert. Vor dem IS flohen Muslime genauso wie Christen und Jesiden.
Hat der Westen zu lange unterschätzt, in welcher Gefahr sich besonders die christliche Minderheit im Irak befand? Man wollte niemanden bevorzugen, muslimische und christliche Flüchtlinge nicht gegeneinander ausspielen, und vor allem nicht der IS-Propaganda nützlich sein und als „Feinde des Islam“ gelten.Während sich Politiker wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban offen dafür aussprachen, in erster Linie die Christen im Nahen Osten zu unterstützen, wollte den sunnitischen Flüchtlingen kaum jemand helfen. Eine eigens eingerichtete Behörde in Budapest bekam ein Startbudget von mehr als drei Millionen US-Dollar. Die USA kündigten an, die UNO zu umgehen und den christlichen Kirchenoberhäuptern des Nahen Ostens gezielt Wiederaufbauhilfe zukommen zu lassen.In der Tat sind die Kirchenoberhäupter wichtige Identifikationsfiguren. „Wenn die Menschen sehen, dass ich wieder zurückgehe, dann tun sie das auch“, sagt Gregorius Saliba Shamoun, der frühere syrisch-orthodoxe Bischof von Mossul. Auch er musste vor dem IS fliehen. Sein Wohnort Karakosch, zwischen Erbil und Mossul gelegen, ist die größte noch verbliebene Stadt des Irak, deren Bevölkerung mehrheitlich Christen waren. Noch ist offen, wie viele die Rückkehr wagen werden. „Ich sehe die Chancen bei 50 zu 50“, sagt Stephen Rasche aus Erbil.
IS-Parolen im Bischofshaus
Bischof Gregorius kann es kaum fassen, wie die Schergen des IS in seinem Haus gewütet haben. „Alles haben sie
geraubt“, sagt der 86-Jährige. Die Möbel sind weg, die Bücher aus den Regalen gerissen und vermutlich verbrannt. Die Wände haben die Eindringlinge beschmiert. „Lang lebe das Kalifat!“ – „Lang lebe unser Kalif!“ Sogar die Umrisse der IS-Flagge haben sie an eine Wand gekritzelt. Samer Sajed ist mit seiner Familie gerade wieder nach Bashiqa gezogen. Der Vater von zwei Kindern erinnert sich: „Fast alles, was wir hatten, war geplündert.“ Sie besaßen ein kleines Haus nahe der Pfarrkirche, er arbeitete als Wachmann. Nur knapp haben sie überlebt – und man sieht ihnen die Erleichterung an. Farah Salah, die Mutter, hält den kleinen Sohn Mathias auf dem Arm und sagt: „Unsere Nachbarn waren Jesiden. Auch sie mussten fliehen. Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist.“ Kirchenvertreter wollen die Hoffnung auf einen neuen Anfang nach der Katastrophe unter allen Umständen am Leben erhalten.
In der einstigen IS-Hochburg Mossul werden zwar vermutlich keine Christen mehr leben können, heißt es. Die Hasspredigten der Islamisten hätten zu tiefe Spuren hinterlassen, zu groß sei das Misstrauen zwischen Christen und Muslimen. Aber die Kirche will ihre Präsenz dort nicht aufgeben. Vielleicht ein Priester irgendwo, in einer kleinen Kirche. Zeugnis ablegen, bis zuletzt. „Nicht nur wir Christen brauchen den Irak“, sagt der assyrische Erzdiakon Emanuel Youkhana. Er ist überzeugt: „Mehr denn je braucht der Irak uns Christen!“ Youkhana leitet die christliche Hilfsorganisation CAPNI („Christian Aid Program Northern Iraq“), die er schon zu Zeiten von Saddam Hussein in den 1990er-Jahren gegründet hat. CAPNI hat bereits mehrere Hundert Häuser in der Ninive-Ebene wieder aufgebaut. Die Organisation betreibt Kindergärten, Schulen und kümmert sich auch um die medizinische Versorgung der Menschen. Davon profitieren alle, nicht nur die Christen.
Sind die Christen sicher?
Youkhana weiß: Wer geflohen ist und wieder in die Heimat zurück möchte, hat ganz konkrete Fragen, von denen seine Entscheidung abhängt: Gibt es Arbeit, kann ich Geld verdienen? Können meine Kinder in die Schule gehen? Was mache ich, wenn jemand krank wird? „Und“, sagt Emanuel Youkhana, „sie fragen immer wieder: ‚Werden wir in Sicherheit leben können?‘“ In Teleskof waren sie bereits auf einem guten Weg. Die kleine Stadt liegt etwas weiter nördlich, auch sie wurde vom IS besetzt und bei der Rückeroberung in Trümmer gelegt. Aber ab Sommer 2017 kehrte das Leben zurück. Männer trafen sich in Straßencafés zum Kartenspiel, Bauarbeiter schleppten den Schutt beiseite und besserten die maroden Straßen aus, Ladenbesitzer öffneten ihre Geschäfte wieder, Mütter brachten ihre Kinder zur Schule. „Alle schienen irgendwie glücklich“, sagt Emanuel Youkhana. „Fast so, als ob sie ihre schlimmen Erlebnisse endlich vergessen konnten.“ Aber dann kam der nächste Rückschlag.
Bei einem Referendum im September 2017 stimmte die Region Kurdistan für die Unabhängigkeit, aber die Zentralregierung in Bagdad machte schnell klar, dass sie dieses Ergebnis nicht akzeptieren würde. Bagdad verlangte die Kontrolle über die Ninive-Ebene zurück. Während sich anderswo die Kurden sofort zurückzogen und kampflos an die irakische Armee übergaben, geriet Teleskof unter Beschuss. Eilig verließen mehr als 400 Familien erneut ihre Stadt, in die sie sich gerade erst zurückgewagt hatten. Das sei ein großer Fehler der Regierung in Bagdad gewesen, meint Youkhana. „Sie müssen doch wissen, dass hier keine ehemaligen IS-Kämpfer leben, sondern dass wir Opfer des IS waren“, sagt der Erzdiakon. Die Menschen bräuchten ein klares Signal ihrer Regierung: Wir schützen euch, wir garantieren eure Sicherheit. Youkhana sagt: „Ich befürchte, dass die Menschen sonst für immer wegbleiben.“ Dass sie nicht noch einmal aufbauen, sondern vielleicht für immer Flüchtlinge im eigenen Land bleiben – oder nach Europa, Kanada, in die USA auswandern, wie es schon so viele ihrer Landsleute getan haben.
Spenden von Flüchtlingen
„Viele unserer Leute sind jetzt in Deutschland“, sagt auch Rasche in Erbil. Gerade hat er ein Schreiben bekommen: Eine chaldäische Familie bestätigt, dass sie bis auf Weiteres in Deutschland bleiben werde. Deshalb dürfe die Kirche ihr Grundstück und Haus übernehmen, das sie zurücklassen musste. „Wir können das Haus also einer anderen Familie zur Verfügung stellen,“ erklärt Rasche.
Immer mehr Menschen wollen die Rückkehr wagen – auch die Brüder Nader und Nadim Elia mit ihrer Mutter. Ihre wenigen Habseligkeiten haben sie in Koffer und Taschen gepackt. Am nächsten Morgen um vier Uhr wird ein Kleinlaster kommen und sie aufladen, zusammen mit einigen anderen Rückkehrern. Dann geht die Fahrt vorbei an den schwer bewaffneten Kontrollposten der kurdischen Peschmerga und der irakischen Armee, bis sie ihr altes Heimatdorf Karamles erreichen werden. „Endlich!“, sagt die Mutter, während durchs Fenster das Lachen gut gelaunter Kinder zu hören ist.
Nach drei Jahren in der Fremde wissen viele Jungen und Mädchen nicht mehr so viel von zu Hause. Einige von ihnen sitzen im Kreis am Boden, klatschen in die Hände und stimmen ein fröhliches Lied an. Sie haben es hier in der Kirche gelernt, der Refrain ist ganz einfach: „Karamles ist frei. Wir gehen wieder heim.“ Niemand kann vorhersagen, was die Zukunft für die irakischen Christen bringt. „Es sind einfach zu viele Akteure im Spiel“, erklärt Erzdiakon Youkhana. „Welche Rolle spielt der Iran? Wie geht der Syrienkrieg aus? Was hat die Türkei vor?“ Aber die Hoffnung bleibt. Youkhana sagt: „Solange es auch nur eine christliche Familie gibt, die hier leben will, bleiben wir bei ihnen.“
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