„Die Leute haben Angst vor ihrem Körper”Patricia Cane, 77, hat uraltes Heilwissen aus aller Welt zusammengetragen und daraus Capacitar entwickelt:
ein Programm, das Menschen mit einfachen Übungen hilft, ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren
und krankheits-, trauma- und stressbedingte Beschwerden zu lösen. |
Die US-Amerikanerin und ehemalige Ordensfrau Patricia Cane ist Diplom-Psychologin und hat in interkultureller Gesundheitserziehung promoviert. Capacitar, sagt sie, bringe die Menschen in Kontakt mit dem Heiligen.
Frau Cane, was bedeutet der Begriff Capacitar?
Capacitar ist spanisch und bedeutet „jemanden stärken“ oder „sich gegenseitig zum Leben erwecken“. Ich habe den
Begriff in den 1980er-Jahren gelernt, als ich während der Contra-Kriege in Nicaragua mit der Arbeit begonnen habe.
Worum geht es dabei?
Viele Menschen leiden unter Stress, Schmerzen, traumatischen Erlebnissen. Viele haben mit Herausforderungen zu kämpfen – ob sie in einem Kriegsgebiet leben oder sich um ein Familienmitglied kümmern, das im Sterben liegt. Capacitar zeigt ihnen, wie sie sich von ihren Beschwerden befreien und ihr inneres Gleichgewicht finden können.
Wie funktioniert Ihr Programm?
Mit einfachen Praktiken wie Atemübungen, Körperbewegungen, Meditation, Akupressur, Fingerhaltungen. Viele Menschen lernen nie, in schwierigen Situationen mit ihren Gefühlen umzugehen. Babys lutschen am Daumen, wenn sie traurig sind. Erwachsene unterdrücken ihre Tränen. In allen Kulturen sprechen Männer ungern über ihre Gefühle. Aber Gefühle stauen sich an. Die Folge sind Anspannungen, Schmerzen im Brustraum, andere Symptome. Durch jeden Finger verläuft eine
Energiebahn, die mit unseren Organen und Gefühlen verbunden ist. Mit Fingerhaltungen können wir die blockierte Energie bewegen und ausgleichen.
Kann das Skeptiker überzeugen?
Die Skeptiker gehören zu meinen Lieblingsgruppen. Bei ihnen werde ich Frau Doktor Cane. Ich habe darüber promoviert, unsere Praktiken zu validieren. Studien belegen: Tai Chi, das es seit 3000 Jahren gibt, senkt den Blutdruck, Akupressur genauso. Bei einer Menge Symptome, gegen die die Menschen Medikamente nehmen, bräuchten sie keine. Man kann bestimmte Punkte drücken, und der Schmerz verschwindet. Ich sage immer: „Lasst es uns ausprobieren!“ Das, wovor die Leute Angst haben, ist, mit ihrem Körper in Kontakt zu treten.
Warum tun wir uns im Westen so schwer damit?
Die westliche Psychologie repräsentiert eine sehr intellektualisierte Form der Heilung. Kulturen wie in Lateinamerika oder Afrika sind viel mehr auf den Körper konzentriert. Hier hilft es nicht, nur über das Problem zu sprechen.
Passt Ihr Angebot zu Menschen unterschiedlichster Kulturen?
Wir arbeiten mit Christen, Moslems, Juden, Drusen, Hindus, Buddhisten. Heilung und eine enge Beziehung zum menschlichen Körper sind Bestandteil aller Weltreligionen. In einem Flüchtlingslager für Palästinenser sagte einmal ein Mann zu mir: „Oh, die Fingerhaltungen. Das erinnert mich an das, was wir tun, bevor wir in die Moschee gehen.“ Die Muslime reinigen ihre Gefühle, damit sie würdig sind, zu Gott zu beten. Im Deutschen haben Heilung und Heil dieselbe Wurzel.'
Gehört für Sie beides zusammen?
Jeder von uns weiß in seinem tiefsten Inneren, dass wir so viel mehr sind. Wenn wir in Kontakt mit dem Innersten unseres Herzens und unserer Seele treten, bedeutet das, ein Teil Gottes, ein Teil des Heiligen zu sein. Wir versuchen, das mit einfachen Praktiken bewusst zu machen. Zum Beispiel mit Switchen: Überkreuzen der Knöchel, Zusammenlegen der Finger und Berühren des Herzens. Wenn man Menschen zu dieser Körperhaltung ermutigt, kommen sie in einen Zustand, der sie in Kontakt mit dem Heiligen bringt, und sie erkennen das Heilige an sich. Unsere Arbeit ist sehr spirituell.
Erleben Sie ein Bedürfnis nach Spiritualität?
Die Menschen sehnen sich danach. Es liegt uns in den Genen. Ich beobachte das auch dort, wo die Einwohner die führenden Köpfe einer Religion nicht akzeptieren oder ablehnen. Tief in ihren Herzen und in ihrer Seele haben sie eine große Sehnsucht nach Gott und nach einer Beziehung zum Heiligen Geist.
Was unterscheidet Capacitar von anderen Methoden?
Wenn jemand Tai Chi lernen möchte, dauert das sehr lange. Vor allem Frauen weist der männliche Leiter oft zurecht. Mir ist es egal, wie die Übungen aussehen. Es gibt Bewegungen, die 2000, 3000 Jahre alt sind. Sie sind einfach und immer gleich. Schon nach 20 Minuten fühlen sich die Menschen besser. Der Schmerz in ihrem Körper ist verschwunden.
Sie sagen sich: „Oh, ich kann das.“ Ich stärke die Menschen und sage nicht, dass sie etwas besser machen müssen.
Mit wem arbeiten Sie?
Wir werden eingeladen – häufig von Menschenrechtsorganisationen. Nach dem Tsunami und dem Erdbeben 2011 waren wir in Japan. Capacitar kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Nach Katastrophen entwickelt man oft ein Körper-Gedächtnis. Viele Frauen erinnerten sich auf einmal an Inzest, Vergewaltigungen und Gender-Gewalt, die sie selbst oder ihre
Mütter und Großmütter erlebt haben. Eine sagte: „Wir mussten nicht über unsere Erlebnisse sprechen, aber die Übungen haben uns geholfen.“ Wir arbeiten in Afghanistan. Wir haben in Ruanda Hilfe geleistet, um den Völkermord aufzuarbeiten. Seit Kurzem sind wir auch im Kongo tätig.
Kann Ihre Methode auch ein Ansatz für pastorale Arbeit sein?
Körperbezogene Heilung ist das, was auch Jesus gemacht hat. Jesus berührte Menschen, und sie wurden gesund. Er nutzte seinen Körper. Viele Priester, Schwestern und Pastoralarbeiter, die unsere Übungen erlernen, verstehen, dass sie damit eine Sprache zur Verfügung haben, die Menschen einen anderen Zugang zum Glauben ermöglicht.
Interview: Beatrix Gramlich
Foto: Gudrun Petersen
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