Das Ausmaß der Not überfordert alleTote, Obdachlose, Zerstörung - die Bilder der Flutkatastrophe im Ahrtal sind unvergessen.
Notfallseelsorger Wolfgang Henn war von Tag eins mitten drin im Flutgebiet und ist es
bis heute. Im kontinente-Interview erzählt er bewegend von seinen Eindrücken. |
Herr Henn, Sie waren direkt am Morgen nach der Flut im Ahrtal im Einsatz. Welche Bilder haben Sie noch im Kopf?
Zuerst habe ich bei der Betreuung der Flutopfer geholfen, die evakuiert worden waren. Da kommen Busse voll Menschen an. Wir haben ihnen gesagt, dass sie sich registrieren lassen müssen, wo es Essen gibt. Dann kam der Auftrag, mit drei anderen nach Dernau zu fahren und bei der Evakuierung zu helfen, möglicherweise auch bei der Bergung von Toten. Wir sind durch den Ort gegangen, haben mit Betroffenen gesprochen und Menschen betreut, die mit dem Bundeswehr Unimog gerettet wurden. Irgendwann hieß es: „Können Sie mal die Leute abschirmen? Wir holen jetzt die Toten aus den Häusern.“ Zu sehen, wie Menschen in einer Baggerschaufel liegen, schlammverschmiert, verkrampft – das ist furchtbar. Man sieht, die haben noch versucht, sich zu retten. Das geht unter die Haut.
Was war für die unmittelbar Betroffenen am Schlimmsten?
Das Schlimmste, sagen die Menschen, war die absolute Dunkelheit. Es gab ja keinen Strom mehr. Es war total finster. Und dann die Geräusche, wenn ein Baumstamm ans Haus schlägt oder ein Auto. Dazu die Angst: Wie hoch steigt das Wasser? Eine Familie hat mir erzählt: „Wir sind in den zweiten Stock und wussten, das ist unsere Falle, weil da kein Fenster ist.“ Schließlich die Ohnmacht, von einem Moment auf den anderen die Kontrolle verloren zu haben. Und natürlich die Trauer, wenn sie wussten: Die Eltern haben es nicht mehr geschafft, weil sie Warnungen nicht gehört haben oder im Schlaf überrascht wurden.
Was bedeutet es, wenn der Tod mitten ins Leben einbricht?
Es macht sprachlos, fassungslos. Die Menschen sind geschockt. Dann gibt es die einen, die erzählen und erzählen – quasi ihr ganzes Leben. Damit sie sicher sind, dass sie es noch haben. Andere verstummen. Unsere Aufgabe als Seelsorger ist es, diejenigen, die verstummen, zu schützen. Denn wer verstummt, ist womöglich in größerer Not.
In welchen Situationen werden Sie als Notfallseelsorger gerufen?
Ich überbringe Todesnachrichten. Ich gehe mit der Polizei zu den Angehörigen und sage: „Ihr Mann ist tödlich verunglückt oder auf dem Campingplatz verstorben.“ Die Polizisten geben die sachliche Information und gehen dann wieder. Wir Notfallseelsorger bleiben, solange die Angehörigen uns brauchen.
Diesmal ist Ihre Aufgabe anders...
Notfallseelsorge ist für den Akutfall. Unsere Arbeit endete am Tag nach der Flut, als klar war, das ist eine Katastrophenlage und die Leitung geht vom Kreis Ahrweiler auf das Land über. Für mich hieß das: Jetzt beginnt die Seelsorge vor Ort.
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Wie sieht Ihre Arbeit jetzt aus?
Ich habe mit meinen Kollegen verschiedene Formen von Seelsorge entwickelt, zum Beispiel da, wo die Menschen zusammenkommen. Hier in Sinzig ist ein Büro zu einem Treffpunkt geworden. Da gibt es Mahlzeiten, aber auch Informationen. Wer Bautrockner braucht, wer etwas sucht, kann sich dahin wenden. Außerdem haben wir ein System aufsuchender Seelsorge aufgebaut. Wir gehen durch die Straßen und fragen die Leute – nicht, wie es ihnen geht, sondern: „Wie ist Ihre Lage?“ |
Die können sie schildern, persönlich oder allgemein. Die zweite Frage ist: „Wissen Sie, wohin Sie sich wenden können, wenn Sie Gesprächsbedarf haben oder Hilfe brauchen?“ Und drittens: „Was ist Ihr dringendstes Problem?“ Das sammeln wir und überlegen: Wer kann weiterhelfen? Was wir jetzt machen, ist eigentlich normale Seelsorge. Aber sie ist trotzdem nicht normal, weil die ganze Situation unnormal ist.
Werden Sie konkret für die Opfer tätig?
Nein. Wenn ich etwas für die Betroffenen tue, mache ich sie wieder zum Opfer. Es ist aber auch meine Aufgabe, sie aus ihrer Ohnmacht, aus dem Gefühl „ich kann nichts machen“ herauszuholen. Ich versuche, mit ihnen zu handeln und sie dadurch zu aktivieren.
Stoßen Sie auch an eigene Grenzen?
Ich merke, dass ich die Fülle der Aufgaben nicht mehr so gut bewältigen kann. Dass ich mich manchmal nicht mehr an Leute erinnere, die mich wegen etwas angesprochen haben. Zu meiner Arbeit gehört ja auch, die Arbeit der anderen Seelsorger und Helfer zu koordinieren. Das Ausmaß der Not überfordert alle.
Wie verkraften Sie das alles?
Ich kann sehr intensiv bei den Menschen sein, sodass sie das Gefühl haben: Der versteht mich. Aber wenn ich weggehe, bringe ich das ins Gebet und stelle die Leute vor Gott. Dann kann ich abgeben.
Wie antworten Sie auf die Frage, warum Gott eine solche Katastrophe zulässt?
Das ist zwar eine menschliche Frage, aber auch eine unangemessene, weil ich damit wissen will, was nur Gott weiß. Für mich bleibt Gott ein Geheimnis. Meine Frage lautet: Wo ist Gott in den Helfenden? Hier ist zum Beispiel eine Gruppe von Syrern, die kommen für eine Woche oder ein paar Tage und packen einfach an. Sie sagen: Wir sind Deutschland so dankbar, dass sie uns geholfen haben. Wir wollen etwas zurückgeben.
Warum haben Sie sich entschieden, Notfallseelsorger zu werden?
Weil ich dachte: Der Glaube muss auch in diesen Situationen tragen. Was nützt es, wenn wir schöne Reden halten, aber in schwierigen Situationen nicht für die Menschen da sind? Kirche ist vielfach eine Kirche geworden, die erwartet, dass die Leute zu ihr kommen. Ich erlebe jetzt, dass wir Leute erreichen, die wir sonst nicht erreichen – durch unsere Gesprächsbereitschaft und weil sie sich ernst genommen fühlen in ihrer Not. Ich trage weiter diese lila Weste, obwohl das jetzt eigentlich keine Notfallseelsorge mehr ist. Aber so bin ich erkennbar, und die Leute sprechen mich an. Auch wenn Kirche vielfach keinen guten Ruf mehr hat – Seelsorge hat ihn. Ich zeige den Menschen den mitfühlenden, mitgehenden Gott, ohne dass ich ihn ausdrücklich verkündige.
Interview: Beatrix Gramlich; Fotos: Gudrun Petersen
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Zur Person
Wolfgang Henn, 68, ist Notfallseelsorger und seit der Flut im Ahrtal im Einsatz. 37 Jahre war er dort Pastoralreferent und ist im Ruhestand weiterhin ehrenamtlich in der Notfallseelsorge tätig. Er selbst blieb von dem verheerenden Hochwasser am 14. Juli 2021 verschont. Die Betreuung der Flutopfer aber bringt auch ihn an Grenzen. |
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