Schriftsteller Rafik Schami. Foto: Hassiepen |
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Interview mit Rafik Schami
„Ein Grenzgänger leidet nicht immer”
Rafik Schami, 70, zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Er ist aramäischer Christ, wuchs in Damaskus auf und arbeitete ab dem 17. Lebensjahr im Untergrund gegen die Diktatur. 1971 kam er mit dem Chemie-Diplom und einem Koffer voller Manuskripte nach Deutschland. Seine Stelle als Chemiker gab er 1982 zugunsten der Schriftstellerei auf. Sein Werk umfasst Romane, Kinderbücher, Essays und Hörspiele und ist in 29 Sprachen erschienen. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Schami lebt mit seiner Familie in Marnheim in der Pfalz.
Herr Schami, Sie haben Raureif einmal „das schönste Wort der Welt“ genannt. Was gefällt Ihnen so daran?
Rafik Schami:Nicht nur der Klang. Das spüren Sie, wenn Sie das Wort langsam und leise aussprechen. Auch mein Erlebnis damit. Es war im März 1971, als ich zum ersten Mal in Heidelberg aufwachte und vom Fenster aus etwas gesehen habe, was ich in Syrien nie erlebt habe: Raureif überzog die Bäume wie Zuckerguss.
Zugunsten der Schriftstellerei haben Sie eine gute Stelle als promovierter Chemiker aufgegeben. Was bedeutet Schreiben für Sie?
Erzählen ist für mich ein Traum gewesen, und für die Realisierung eines Traumes muss man Mut zum Risiko haben. Erzählen ist für mich der höchste Genuss, den eine Sprache bereiten kann.
Woher beziehen Sie Ihren Stoff? Ist der Koffer voll orientalischer Geschichten, den Sie bei Ihrer Einreise mitgebracht haben, nicht langsam aufgebraucht?
Nein, es gibt noch viele Fragmente, die sich weigern, eine Geschichte zu werden. Aber meine Quelle ist die Zunge der anderen. Ich höre gerne zu, und manchmal kommt eine unauffällige Anregung zu einer Geschichte, manchmal zu einem Roman. Aber sehr oft scheitern die Ideen im Verlauf der Recherche oder Formulierung. Das ist das tägliche Brot meiner Zunft.
Was bedeutet Ihr Künstlername Rafik Schami?
Nichts anderes als das, was ich bin: ein Freund (Rafik) aus Damaskus (Schami).
Warum haben Sie Ihre Heimat Syrien verlassen?
Weil ich durch die Zensur der Diktatur kurz vor dem Ersticken war. Und weil ich nach meinem Studium den Militärdienst von mehr als zwei Jahren leisten sollte. Ich aber lehne jedweden Krieg ab. Eine gescheiterte Liebe war der letzte Stoß, der mich ins kalte Wasser des Exils springen ließ.
Wie gelingt es, Poesie in einer fremden Sprache zu schreiben?
Ich habe lange auf Arabisch geschrieben, aber meine Romane wurden alle abgelehnt (auch die späteren Welterfolge), weil ich in den meisten arabischen Ländern auf der schwarzen Liste stand. Da habe ich angefangen, literarisches Deutsch zu lernen und ganze Romane abgeschrieben, um zu begreifen, welche Unterschiede es zum Arabischen gibt. Das war die beste Methode.
Als Christ gehörten Sie in Syrien zu einer Minderheit. Jetzt leben Sie seit 45 Jahren in Deutschland. Wie fühlt man sich als Grenzgänger?
Als Angehöriger einer historischen Minderheit verinnerlicht man von Kindesbeinen an die jahrtausendealte Übung und Erfahrung seiner Vorfahren. Daher war es für mich keine Schwierigkeit, hier einer Minderheit anzugehören. Ein Grenzgänger leidet nicht immer. Ich lache mich kaputt über die Kleinkariertheit auf beiden Seiten der Grenze.
Ihre Geschichten erzählen von Armen, Ausgegrenzten, von Menschen, die nicht ins System passen. Eine versteckte Regimekritiker?
Nein, eine offene, und das Regime versteht sie. Ein Mitarbeiter des Kultusministers erzählte mir, sein Chef habe „Die dunkle Seite der Liebe“ gelesen und ihm vertraulich gesagt: „Diesen Schami hätte ich allein für diesen Roman hinter Gitter gebracht: lebenslänglich!“
Wie sehen Sie die Zukunft Syriens
Ohne Hilfe von außen sehr düster. Ein wenig Hoffnung macht mir der Gedanke, dass Europäer und Amerikaner irgendwann verstehen werden, dass der Zustand in Syrien auch eine Bedrohung für sie ist, wenn sie weiter zuschauen und Waffen liefern, um billig Erdöl zu kaufen. Assad und die verbrecherische Spitze, deren Hände mit dem Blut ihres Volkes besudelt sind, müssen abtreten. Eine Übergangsregierung aus allen Fraktionen der Gesellschaft und mit Beteiligung der Alawiten könnte eine Phase leiten, in der die Menschen das Land aufbauen, Parteien entstehen und die Flüchtlinge zurückkehren. Erst dann kann man langsam zu einer Demokratisierung übergehen. Die Syrer müssen den Hauptanteil der Aufbauarbeit übernehmen und an erster Stelle eine bittere Pille schlucken: Verzeihen und Versöhnen lernen.
Ihre ersten Leser fanden Sie als 20-Jähriger mit einer Wandzeitung. Welche Rolle spielt Journalismus für Sie?
Eine sehr große. Journalismus ist das Gewissen eines Volkes.
Was vermissen Sie in Deutschland?
Gelassenheit.
Hat Deutschland Sie verändert?
Ja, sehr. Ich wäre ohne Deutschland nie Rafik Schami geworden. Deshalb liebe ich das Land. Es schenkte mir Frieden, Freiheit und eine wunderbare Sprache.
Wie erleben Sie den Umgang mit Flüchtlingen in Europa?
Die Deutschen haben mich fasziniert mit ihrem Mut. Von der Regierung und Intellektuellen im Stich gelassen, handelten sie sehr solidarisch. Die Europäer haben dagegen eine beschämende Haltung eingenommen – vor allem Franzosen und Briten, die als Kolonialherren die Katastrophe mitverantworten. Und was für ein Theater führt die EU vor! 700 Millionen Europäer geraten wegen zwei bis drei Millionen Flüchtlingen in eine vermeintliche Krise. Jordanien und der Libanon haben zusammen elf Millionen Einwohner und mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
Im März haben Sie Erwartungen an Flüchtlinge formuliert. Was hat Sie dazu veranlasst?
Diese zehn Ratschläge habe ich auf meiner Lesereise mit dem Roman „Sophia“ durch 104 Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz entwickelt. Ich beobachtete die Flüchtlinge und sah die Fundamentalisten, die sie umschwärmten, um sie zu missbrauchen. Ich sprach mit vielen Flüchtlingen, spürte ihre Ängste und hörte, welche Illusionen sie hatten. Deshalb musste ich diese nicht gerade sanften Ratschläge aussprechen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Beatrix Grämlich.
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