Vor Ort: Kapuziner Andreas Waltermann lebt in Albanien und kennt das Gesetz der Rache. |
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Interview mit Pater Andreas Waltermann
„Die Menschen nehmen das Recht selbst in die Hand“
Pater Waltermann, warum ist Blutrache in Albanien bis heute so weit verbreitet?
Kapuzinerpater Andreas Waltermann: Das Gewohnheitsrecht der Albaner, der Kanun scheint ein Ausdruck – wenn auch zweifelhafter – albanischer Identität zu sein. Albaner lieben es, sich bewaffnet fotografieren zu lassen. Die Helden des Landes sind, abgesehen von Mutter Teresa, meistens Kämpfer. Das Fehlen staatlicher Gesetze und das häufige Ausbleiben von gesetzlichen Sanktionen führen dazu, dass die Menschen das Recht oft selbst in die Hand nehmen.
Reichen die rechtsstaatlichen Mittel nicht?
Zumindest machen sie Blutrache nicht unmöglich. Ohne verstärktes Engagement von Staat, Gesellschaft, Religionsgemeinschaften und den Menschen selber wird sich wenig tun. Die Europäische Union sollte die Beibehaltung der Blutrache zum Ausschlusskriterium für die Aufnahme Albaniens machen.
Welche Auswirkungen hat Blutrache auf betroffene Familien, auf die Gesellschaft?
Blutrache ist eine leidvolle Geschichte für alle Betroffenen. Einer Versöhnung steht oft die Wiederherstellung der Ehre entgegen. Ich habe erlebt, dass Familien ihre Dörfer verlassen mussten und versteckt in der Peripherie von Tirana oder Durres leben, jeden Tag mit der Angst, aufgespürt zu werden. Die Erträge des eigenen Grund und Bodens können nicht mehr geerntet werden, häufig ist auch der Verlust der Arbeitsstelle die Folge.
Wie ließe sich Blutrache verhindern?
Durch präventive Maßnahmen zur Konfliktvereitelung und -bewältigung. Die Auseinandersetzungen beginnen ja häufig viel früher. Gründe sind Streitigkeiten um Grund und Boden, Schulden, außereheliche Verhältnisse. Nötig wären eine klare Gesetzgebung und Sanktionierung von Straftaten, entschiedene Vermittlertätigkeit der Religionsgemeinschaften, des Staates oder anderer Institutionen und die Sensibilisierung für das Recht auf Leben und Unversehrtheit.
Wie engagieren sich Kirche und Ordensleute gegen Blutrache?
Seit Jahrhunderten haben sich Ordensleute als Vermittler bei Blutrachefällen eingesetzt und nicht selten Versöhnung erreicht. 2012 haben die Bischöfe der drei nordalbanischen Bistümer ein Dekret erlassen, wonach alle, die einen Mord als Vergeltung planen, durchführen oder bei der Durchführung helfen aus der Kirche ausgeschlossen werden und an deren sakramentalem Leben nicht mehr teilnehmen können. Erst durch einen längeren öffentlichen Versöhnungsprozess wird eine Rehabilitierung möglich. Ich begrüße diese Initiative, weil sie die Haltung der katholischen Kirche klar ausdrückt und auf Versöhnung zielt.
Das Interview führte Beatrix Gramlich.
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