„Ihr Ziel ist, alle Christen zu vernichten“
Interview mit dem Parlamentarier John Je Yaw Wu zur Situation in Kachin
John Je Yaw Wu glaubt, die Armee Myanmars wolle die Christen im Bundesstaat Kachin vernichten. Der Parlamentarier hat sich entschlossen zu reden, obwohl Kritik am Militärregime gefährlich ist.
Wie ist die aktuelle Situation im Kachin-State?
John Je Yaw Wu: Das Militär benutzt gegenwärtig die Luftwaffe und Bodentruppen, um gegen die "Kachin Independence Army" (KIA) vorzugehen und die ethnische Minderheit im Kachin State auszulöschen, nicht unbedingt in den Städten wie Myitkyina, aber außerhalb. Sie töten und erschießen Menschen und sagen dann, die KIA hätte es getan. Sie legen Landminen und beschuldigen dann die KIA, sie gelegt zu haben.
Berichten die Medien in Myanmar darüber?
Die staatliche Kontrolle über die Medien wurde erst vor einem halben Jahr gelockert. Die Journalisten gehen nach Myitkyina, aber sie kommen nicht in die gesperrten Gebiete.
Was wissen Sie über die Kämpfe?
Die Männer werden entführt. Dann plündert die Armee die Häuser und zündet sie an, damit die Menschen nicht mehr in ihre Dörfer zurückkehren können und die KIA dort keine Unterstützung mehr hat. Die Frauen werden vergewaltigt oder getötet. Unsere Leute werden als menschliche Schutzschilde missbraucht. Sie nehmen Jungen, Männer und sogar alte Männer gefangen. Sie fesseln sie an den Handgelenken, und sie müssen Waffen und Munition tragen. Dann müssen sie die Landminen räumen und ihnen den Weg zu den KIA-Camps zeigen. Diese Männer werden auch in militärische Uniformen gesteckt, sind aber in Wirklichkeit keine Soldaten. Unsere Leute aber meinen, sie wären Feinde. Daher sind sie die ersten, die erschossen werden.
Wie stark sind die Truppen in der Region?
Schätzungen zufolge sind es 120.000 Regierungssoldaten, fast ein Drittel der Soldaten von ganz Myanmar – und laut KIA 8.000 KIA-Kämpfer. Ich vermute, es sind bis zu 20.000.
Welches Ansehen genießt die KIA in der Bevölkerung?
Die Menschen haben Angst vor den burmesischen Soldaten, nicht vor der KIA. Die KIA-Kämpfer kaufen ihnen Waren ab und helfen ihnen. Sie sind Christen wie die Leute hier.
Welches Ziel verfolgt die Armee?
Die burmesischen Truppen sind Buddhisten, sie sind Burma. Sie gehören anderen Stämmen und anderen Religionen an. Daher denken sie, dass es gut sei, ethnische Säuberungen durchzuführen. Sie töten, wenn keiner es sieht. Zum Beispiel, wenn jemand von der Feldarbeit nach Hause kommt und niemand sonst da ist. Ihr Ziel ist, möglichst alle Christen in diesem Staat zu vernichten. Es geht auch um die Vorherrschaft des Buddhismus.
Und wer unterstützt die KIA? Woher bekommt sie ihre Waffen?
Sie haben natürliche Ressourcen: Jade, Rubine, Goldminen.
Kommt die KIA auf legalem Weg an diese natürlichen Ressourcen oder unterdrücken sie deswegen die Menschen?
Nein, sie fördern sie selbst. Und sie kaufen in China ein.
Was kaufen sie in China?
Waffen und Munition. Auch die burmesische Armee hat in China eingekauft. Unser Land ist zu einem Schlachtfeld geworden, ein Testgebiet für chinesische Waffen, die von beiden Konfliktparteien in China eingekauft wurden. Die Waffenfabriken der chinesischen Armee haben große Profite gemacht.
Wie unterstützt die Bevölkerung die KIA?
Die Leute zahlen „Warfund“, das ist ein Beitrag der gesamten Bevölkerung an die KIA.
Ist das eine Art Steuer, die jeder entrichten muss?
Ja, jeder Haushalt muss im Durchschnitt 10.000 Kyat pro Jahr zahlen (etwa acht Euro), plus einen oder zwei Eimer Reis. Wir haben hier auch illegale Abholzungen. Früher, während des Waffenstillstandes, gingen alle burmesischen Holztransporte durch die KIA-Region. So haben sie diese Abholzungen besteuertet. Auch diese Beleuchtung (zeigt auf die Lampe im Büro) kommt von KIA-Leuten. Hier steht: Unterstützt von KIAs.
Ganz Myitkyina war vom 24. Dezember 2012 bis zum 3. Februar 2013 ohne Strom. Wer hat die Leitungen beschädigt?
Die Regierung hat das Leitungssystem beschädigt, die KIA hat es repariert. Es war Heiliger Abend. Auf diese Weise hat die burmesische Regierung auch die Kommunikation und die Lebensmittelversorgung unterbrochen.
Besteht das Ziel der burmesischen Armee darin, den Kachin-Staat zu schwächen beziehungsweise die Menschen zu demoralisieren?
Ihr Ziel ist, wenn möglich alle Christen in diesem Staat zu eliminieren, sie zu vernichten. Diejenigen, die nahe der Grenze leben, wurden verjagt, nach China, Indien oder Thailand, so dass sie Burmesen hierher in die christlichen Bundesstaaten bringen können. Das ist ihre Politik. Sie fechten zweierlei Kriege aus: In dem einen geht es darum, die Menschen hier zu eliminieren, im einen geht es darum, den Buddhismus dominieren zu lassen. Wenn es einem burmesischen Soldaten gelingt, eine einheimische Frau zu vergewaltigen, dann erhält er eine Prämie. Sie töten Männer, Frauen, Babys... Kürzlich haben sie viele Geiseln genommen und sie beschuldigt, sie gehörten der KIA an oder seien mit deren Angehörigen verwandt. Mehr als 1.000 Menschen wurden gefangen genommen, und viele sind verschwunden. „Verschwunden“ bedeutet, dass sie getötet worden sind, nachdem sie schwer gefoltert wurden.
Was wissen Sie über diese Folterungen?
Die Soldaten und Sondereinheiten foltern Menschen, Christen. Sie werden zu homosexuellen Handlungen gezwungen. Und sie sagen: Ihr seid Christen! Sterbt wie Jesus! Sterbt wie euer Erlöser! Dann hängen sie ihre Opfer vier bis fünf Stunden an ein Kreuz. Wenn sie ohnmächtig geworden sind, töten sie sie.
Woher haben Sie diese Informationen?
Wir haben schriftliche Aufzeichnungen von Frauen, die ihre Ehemänner im Gefängnis besucht haben. Diese Männer haben ihre Frauen gebeten, eine Petition beim Staatspräsidenten einzureichen. Die Ehefrauen und auch die Männer haben im Gefängnis unterzeichnet. Wir haben unserem Staatspräsidenten die Petition vorgelegt. Einige Gefangene wurden wahrscheinlich bereits getötet, weil man Angst hatte, dass Berichte über die Folterungen veröffentlicht werden könnten. Als die Frauen wieder ins Gefängnis kamen, hieß es: „Die Männer wurden in andere Gefängnisse verlegt.“ Als Frauen um die Adresse baten, antworteten sie: „Wir haben sie an weit entfernte Orte gebracht.“ Das bedeutet, dass sie bereits getötet worden sind. Es gibt keine Hoffnung mehr.
Sie haben sich selbst an den Staatspräsidenten gewandt. Wie hat er reagiert?
Er schweigt – seit fast einem Jahr. Dieser Staatschef ist ein ehemaliger General. Daher schützt er die Taten und Verbrechen der Soldaten, er deckt sie. Wissen Sie, sie haben alles sehr gut arrangiert: Sie haben die gesamte Justiz ausgewechselt, Richter, Staatsanwälte, Anwälte durch ehemalige Soldaten, und Generäle ersetzt, selbst Polizeistationen werden mit ehemaligen Soldaten besetzt. Die sind sehr grausam, sie wissen, wie man Menschen foltert. Sie verstoßen gegen Menschenrechte. Sie verbergen ihre Verbrechen, sie helfen einander. Solange es die UN oder die Öffentlichkeit beziehungsweise Personen des öffentlichen Lebens nicht wissen...
Haben Sie keine Möglichkeit, diese Verbrechen anzuprangern?
Ich habe es versucht. Ich habe an Hillary Clinton geschrieben, weil ich sie im Parlament getroffen habe. Wir haben eine Viertelstunde lang miteinander gesprochen. Ich habe auch unserem Heiligen Vater einen Bittbrief geschickt. Und ich habe begonnen, im Parlament zu sprechen, weil dies der einzige Weg ist, das Parlament und das ganze Land über die wahre Situation hier in Kenntnis zu setzen, über die Unterdrückung durch die Soldaten und Richter. Ich habe auch über die Vergewaltigungen gesprochen, nicht nur durch burmesische Truppen, sondern auch durch KIA-Soldaten. Bewaffnete Gruppen tun das immer, habe ich in etwa gesagt. Ich muss auch diplomatisch sein.
Geht es im Kachin State auch um wirtschaftliche Interessen?
Burmesische und chinesische Firmen wollen hier Wasserkraftwerke bauen. Zuerst war die Rede von neun großen Dämmen. Dann haben sie 30 Dämme gebaut. Chinesische Unternehmen betreiben im Kachin State viele Gold- und Jademinen, sie bauen Zinn, Kupfer, Wolfram, Uran ab. Naypyidaw, die neue militärische Hauptstadt Myanmars, wurde mit chinesischer Hilfe gebaut. Aber die Firmen müssen doppelt Steuern zahlen: an die Regierung und an die KIA. Unsere Teak-Wälder werden von burmesischen und chinesischen Joint Ventures ausgebeutet. Diese Unternehmen gehören ehemaligen Generälen, die eng mit den Drogenbossen verbunden sind. Der frühere Staatschef, General Than Shwe, kontrolliert aus dem Hintergrund immer noch. Falls die KIA diese Kämpfe übersteht, würden sie ihre Minen verlieren und ihre Ländereien. Das ist der einzige Grund, weshalb die burmesische Regierung die KIAs und die Christen beseitigen will. Denn der Kachin-State ist in unserem Land am reichsten mit natürlichen Ressourcen, gesegnet.
Gibt es eine Chance auf Frieden?
Ich leite die Kampagne, um die Dämme zu stoppen. Ich habe im Parlament gesprochen. Und ich habe ein 26 Seiten starkes Dokument verfasst, das ich unserem Staatspräsidenten vorgelegt habe. Kaum hatte ich es geschrieben, begannen die Leute, sich zu bewegen. Wenn alle Menschen berührt werden, wenn die europäischen Länder und die internationale Gemeinschaft einschreiten würden, dann wird, so hoffe ich, der Friede eine Chance haben. Es wird Zeiten geben, um die Stimme zu erheben gegenüber der übrigen Welt. Ich habe begonnen zu sprechen, denn wir sind Christen, wir sind eine Familie.
Das Interview führte Beatrix Gramlich.
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