Horst Köhler: Der frühere Bundespräsident mahnt Europa, Afrika ein fairer Partner zu werden. Foto: KNA
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„Unser Lebensstil ist endlich!“
Interview mit Bundespräsident a.D. Horst Köhler
Unter Mitwirkung von Horst Köhler berät die UNO-Generalversammlung im September über die langfristige Ausrichtung der Entwicklungspolitik. Der frühere Bundespräsident im kontinente-Gespräch über globale Entwicklungsziele, das Versagen der Eliten und seine Liebe zu Afrika.
Herr Bundespräsident, was ist Ihre Vision von einer gerechten Welt?
Was Gerechtigkeit für uns alle bedeutet, das wurde schon 1948 in der einzigartigen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschrieben. Meine Vision ist, dass die Menschenrechte überall verwirklicht werden. Ich wünsche mir aber auch, dass ein Bewusstsein da ist für die Pflichten der Menschen, wie das in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“ von 1997 versucht wurde. Denn wir sind alle gefragt, an dieser gerechteren Welt mitzuwirken und Verantwortung zu übernehmen mit unserem eigenen Tun.
Wie nah sind wir bei dieser Vision – ist das Glas halbvoll oder halbleer?
Von diesem Zustand sind wir noch weit entfernt. Wir waren ihm aber auch noch nie so nah. Ich halte das für eine der positiven Folgen der Globalisierung. Mich stimmt auch zuversichtlich, wenn ich mit jungen Leuten bei uns in Deutschland und in der Welt zusammenkomme und sehe, wie viel Mut und Feuer da ist, an einer besseren Welt zu bauen.
Warum hat Afrika bei Ihnen einen so hohen Stellenwert? Gab es ein besonderes Ereignis oder eine Begegnung, das Ihre Zuneigung begründet hat?
In Afrika habe ich am direktesten die extreme Not und das Unrecht erlebt, unter dem Menschen in unserer Welt noch immer leiden müssen. Hier habe ich zugleich erlebt, wie Menschen ihre Würde trotz Armut und Gewalt nicht aufgeben. Besonders bewegt hat es mich immer, Mütter zu treffen, die ihren Kindern Hoffnung und Ermutigung geben.
Welches Bild von Afrika haben Sie, wie erleben Sie den „Schwarzen Kontinent“?
Afrika ist die Wiege der Menschheit. Auf diesem Kontinent werden im Jahr 2050 mehr als zwei Milliarden Menschen leben. Das sind 20 Prozent der Weltbevölkerung – in Europa werden wir nur noch sechs Prozent der Menschheit sein! Afrika ist heute ein Kosmos menschlicher und kultureller Vielfalt und natürlicher Ressourcen. Ich erlebe ein wachsendes Selbstbewusstsein der Afrikaner und die Suche nach eigener Identität, worüber ich mich freue. Der Kontinent ist im Aufbruch! Es liegt im Eigeninteresse Europas, endlich ein guter Nachbar Afrikas zu werden.
Afrika findet in der internationalen Politik weniger Beachtung als Asien und Südamerika – warum ist das so?
Afrikanische Länder waren über Jahrhunderte hinweg Objekt der Begierde fremder Mächte. Das änderte sich selbst mit der Unabhängigkeit in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht wirklich, auch weil die afrikanischen Eliten darin versagt haben, offene, demokratische und rechtsstaatliche Gemeinwesen zu schaffen. Folglich blieb Afrika wirtschaftlich und politisch unterentwickelt und damit nahezu ohne Einfluss auf der internationalen Bühne. Das wird nicht so bleiben; Afrika hat alle Chancen, ein neuer globaler Pol für Wirtschaftswachstum zu werden. Zudem wird die fortschreitende regionale Integration den Kontinent zunehmend mit einer Stimme sprechen lassen. Auch das wird Afrika größeres internationales Gewicht geben.
Eine Milliarde Menschen weltweit lebt in Armut – scheitert die Entwicklungspolitik?
Dass nach wie vor so viele Menschen in Armut leben, vor allem in Afrika, halte ich für eine menschengemachte Tragödie - und auch die Entwicklungspolitik ist nicht ganz unschuldig daran. Als gescheitert würde ich sie aber nicht bezeichnen. Den besten Beweis dafür liefern die Millennium-Entwicklungsziele. So unvollkommen sie auch sein mögen, sie haben viel bewirkt: Mehr Menschen können heute sauberes Wasser trinken, mehr Mädchen zur Schule gehen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Klar ist aber auch, es bleibt noch viel zu tun und die Entwicklungspolitik muss sich neuen Realitäten stellen. So müssen wir jetzt dringend Perspektiven – Jobs und Beteiligung – für die vielen jungen Menschen auf der Welt schaffen. Außerdem müssen wir auch endlich viel stärker die strukturellen Ursachen von Armut in den Blick nehmen. Entwicklungspolitik in diesem Sinne geht weit über die klassische Entwicklungshilfe hinaus!
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat Sie in das internationale Beratergremium berufen, das Vorschläge für die künftigen weltweiten Entwicklungsziele erarbeitet. Wo sehen Sie die wesentlichen Herausforderungen?
Wir brauchen eine wahrhaft globale Partnerschaft als Grundlage für die weitere Zusammenarbeit. Die frühere Trennung in Geber und Nehmer, in Industrie- und Entwicklungsländer ist nicht mehr zeitgemäß. Dazu kommt, dass Entwicklung und Nachhaltigkeit nicht mehr getrennt betrachtet werden können. Alle Länder müssen sich ihren Kräften entsprechend einbringen und ihren Beitrag leisten, international, aber jeweils auch im eigenen Land; im Rahmen von Entwicklungspolitik, aber auch über die Bereitstellung und den Schutz globaler öffentlicher Güter, wie etwa eines verlässlichen Finanzsystems oder eines stabilen Klimas. Bisher zielten die Millenniums-Entwicklungsziele nur in Richtung Entwicklungsländer, das reicht nicht mehr. Dringenden Veränderungsbedarf gibt es auch in den reicheren Staaten. Vor allem ihr Ressourcen- und Umweltverbrauch überlastet unseren Planeten. Und die furchtbaren Unglücke der letzten Zeit in Textilfabriken in Bangladesch haben gezeigt: Die „Geiz ist geil“-Mentalität der Konsumenten und rücksichtloses Renditestreben von internationalen Handelsunternehmen werden ausgelebt auf dem Rücken von Arbeiterinnen und Arbeitern in Billiglohnländern, oft Kindern. Das ist eine moralische Bankrotterklärung und kann auch wirtschaftlich nicht auf Dauer funktionieren! Die faktische Interdependenz des Geschehens auf der Erde verlangt einen neuen Geist der Partnerschaft und Kooperation. Wir brauchen ein gemeinsames Weltethos.
Mit dem ersten Millenniumsziel sollte die Armut auf der Welt bis 2015 halbiert werden, das scheint nicht zu gelingen. Wie kann Armut beseitigt werden?
Das stimmt nicht ganz. Das Ziel, den Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung zu halbieren, wird wohl bis 2015 erreicht. Allerdings fällt die Bilanz regional sehr unterschiedlich aus, und in manchen Regionen ist die absolute Zahl der in Armut lebenden Menschen sogar angestiegen. Entscheidend ist, Armut als vielschichtiges Problem zu begreifen. Sie zu bekämpfen, erfordert Veränderungen an vielen Enden: Bei der Bildung, im Gesundheitswesen, auch die Bekämpfung der Korruption oder Energiezugang sind wichtig, genauso wie die Teilhabe an Wirtschaft und Politik sowie die Aussicht, mit der eigenen Arbeit Einkommen zu schaffen. Es gibt also nicht die eine Antwort darauf, sondern viele Faktoren spielen eine Rolle. Umso wichtiger ist es, dass Staaten national und international die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, damit diese Faktoren auch greifen können.
Wenn sieben Milliarden Menschen auf unserem Planeten Wohlstand wollen, brauchen sie Ressourcen und belasten die Umwelt. Wie kann Entwicklung nachhaltig gelingen?
Das verlangt Bewusstseinswandel und eine strukturelle Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Ansatz hierfür ist die „Green Economy“. Und hier müssen die Industrieländer Führung durch Vorbild zeigen: wie sich Gesellschaften so umbauen lassen, dass einerseits alle Menschen in Würde leben können, aber andererseits kein weiterer Raubbau an der Natur betrieben wird. Ich sehe darin übrigens eine große Chance für die deutsche Wirtschaft.
Müssen wir in den reichen Ländern um unseren Lebensstandard fürchten?
Wenn wir weitermachen wie bisher - ja. Denn die Endlichkeit unseres jetzigen Lebensstils ist offensichtlich. Wie lange wir noch so weiterleben könnten, weiß niemand, vielleicht zwanzig, vielleicht auch fünfzig Jahre. Aber irgendwann sind Erde, Wasser, Luft und Klima endgültig überfordert. Und schon vorher wird es um diese Ressourcen Kriege und Konflikte geben, wenn wir nicht klüger damit umgehen. Ich würde die Frage deshalb umgekehrt beantworten: Gerade um im Wohlergehen der Menschen nicht irgendwann einen Totalabsturz zu erleben, müssen wir jetzt unser Konsumverhalten ändern. Wir müssen zu einer weniger materiell orientierten Wahrnehmung von Wohlstand und Wachstum kommen und unsere Gesellschaften in Richtung Nachhaltigkeit umbauen. Ich bin davon überzeugt, dass Demokratien das schaffen können.
Auf wen und auf was kommt es in den nächsten Jahren besonders an, damit Entwicklungsfortschritte erreicht werden?
Wir brauchen das Engagement aller Akteure. Staaten allein können es nicht richten, selbst wenn sie gemeinsam an einem Strang ziehen. Auch die Privatwirtschaft spielt für Entwicklung eine wichtige Rolle: indem sie zeigt, dass der ehrbare Kaufmann nicht nur eine literarische Erfindungen ist, und indem sie Innovationen vorantreibt und Arbeit schafft, gerade auch für junge Menschen. Und schließlich brauchen wir eine aktive Zivilgesellschaft, die sich kritisch und produktiv engagiert. Es kommt also entscheidend auf den Dreiklang von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an. Und natürlich sind auch Wissenschaft und Forschung gefordert!
Die reichen Nationen sind seit Jahren mit der Bewältigung der weltweiten Finanzkrise beschäftigt, besonders in den USA und Europa. Geraten die Entwicklungsländer noch mehr aus dem Blick?
Die weltweite Finanzkrise beeinträchtigt Volkswirtschaften in der ganzen Welt. Angesichts strapazierter Haushalte und der Notwendigkeit, Krisenländern wie Griechenland oder Portugal zu helfen, gerät auch die staatliche Entwicklungszusammenarbeit unter Rechtfertigungsdruck. Aber die globale Krise zeigt doch gerade auch: Entwicklungszusammenarbeit alleine kann die Situation in den Entwicklungsländern nicht verbessern. Wir brauchen auch ein faires Handelssystem und einen stabilen, regulierten Finanzmarkt. Schon heute fließt aus Afrika viel mehr Kapital illegal ab, als insgesamt an Entwicklungshilfe hereinkommt! Es ist eine Aufgabe sowohl für Entwicklungs- als auch Industrieländer, das zu bekämpfen. Und gerade jetzt sollte sich Europa mit ganzer Energie für den Abschluss der Doha-Runde, also für ein entwicklungsfreundliches internationales Handelssystem einsetzen. Das soll jedoch nicht unseren Beitrag für Entwicklungsfinanzierung in Frage stellen. Schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit wünschte ich mir, dass auch Deutschland an dem 0,7%-Ziel für die Entwicklungszusammenarbeit festhält.
Ihr Engagement in der Entwicklungsarbeit ist mit Erfolgen, aber auch Rückschlägen verbunden. Was motiviert Sie, nicht aufzugeben und weiterzumachen?
Ich glaube, wir leben in einer großen Zeit des Übergangs. Es ist möglich, eine bessere Welt zu schaffen. Und wie jeder Vater und Großvater wünsche natürlich auch ich mir, dass ich beitragen kann, eine gute Zukunft für die Generation meiner Kinder und Enkelkinder zu gestalten.
Welche Erwartungen haben Sie an die Kirchen und die Christen, die Herausforderungen zu bestehen?
Sie sollten sich an der notwendigen Diskussion mit Energie beteiligen und vor allem den Armen selber Gehör und Stimme geben. Ich glaube, dass es dafür auch dringend notwendig ist, mit einer Stimme zu sprechen und glaubwürdig zu bleiben – deshalb hoffe ich, dass unsere Kirchen weiter daran arbeiten, die eigenen Spaltungen zu überwinden und gemeinsam für eine österliche, geschwisterliche Welt einzutreten.
Das Interview führte Jobst Rüthers.
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