„Ich war ein Hexenkind“„Sie haben mir gesagt: ‚Du bist ein Hexenkind‘ – immer wieder,
bis ich es selber geglaubt habe.” Heritier Tshibanda, 13 Jahre, lebt
im Kongo. In kontinente erzählt er seine Geschichte.
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Woher kommst Du?
Heritier: Ich komme aus La Rwashi, das ist ein Dorf, ungefähr zehn Kilometer von Lubumbashi entfernt.
Wie sah dein Zuhause aus?
Ich habe einen großen Bruder und eine kleine Schwester. Mein Vater hat in der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft gearbeitet. Meine Mutter hat sich um den Haushalt gekümmert. Wir hatten nicht viel Geld, aber wir waren nicht wirklich arm und hatten ein kleines Haus.
Was ist dann passiert?
Als ich elf Jahre alt war, ist mein Vater gestorben. Meine kleine Schwester war damals acht. Wir wären gerne bei unserer Mutter geblieben. Aber nach dem Tod meines Vaters hat seine Familie sie aus dem Haus gejagt. Meine Schwester und ich wurden zu meinen Großeltern und der Tante geschickt, die mit ihnen zusammenlebt.
Und da wurde es schwierig?
Als wir ankamen, ging es direkt los mit den Problemen. Meine Tante, Großmutter und Großvater haben uns nicht wie Kinder behandelt. Sie haben uns ständig beschimpft. Und wir wurden für alles Mögliche bestraft.
Wofür haben sie dich bestraft?
Zum Beispiel, wenn ich keine Lust hatte, Wasser aus dem Brunnen zu holen und mich geweigert habe. Dann bekam ich Schläge. Wenn ich mich angeblich schlecht benommen hatte, hieß es: „Das ist Hexerei. Das hast du von deiner Mutter geerbt.“
Glaubst du an Hexerei?
Sie haben mir immer wieder gesagt: „Du bist ein Hexenkind.” Immer wieder, bis ich es selber geglaubt habe.
Was bedeutet es, ein Hexenkind zu sein?
Das ist eine Person, die schuld daran ist, wenn andere leiden und für andere Leid verursacht. Deshalb bin ich geflohen. Damit andere Menschen nicht mehr meinetwegen leiden müssen.
Wie lange hast du bei deiner Tante und den Großeltern gelebt?
Zwei Jahre, von 2013 bis 2015.
Bist du zur Schule gegangen?
Ja, bis zur fünften Klasse. Dann bin ich abgehauen.
Und deine Geschwister?
Mein Bruder lebte bei anderen Verwandten, meine kleine Schwester war tot. Sie ist an einer Krankheit gestorben. An welcher, weiß ich nicht.
Wohin bist du geflüchtet?
Nach Lubumbashi. Da in der Stadt habe ich ein Jahr auf der Straße gelebt.
Wie hast du es geschafft, dich auf der Straße durchzuschlagen?
Ich war in Katuba, einem Stadtteil von Lubumbashi. In der Nähe der Gemeindeverwaltung standen alte, aufgegebene Autos herum. In denen habe ich nachts geschlafen.
Hattest Du keine Angst?
Bei den Verwaltungsgebäuden laufen viele Polizisten herum. Dadurch war ich sicher.
Haben die Polizisten die Straßenkinder verjagt?
Nein, sie haben uns nicht verjagt. Ich habe bei den Polizisten um Essen gebettelt. Manche haben uns Straßenkindern etwas gegeben. Meistens habe ich Maniok (Spinat-ähnliches Gemüse) und Foufou (Hirsebrei) gegessen, morgens und abends. Aber ich hatte oft Hunger.
Welche Probleme gab es auf der Straße?
Wir hatten nichts anzuziehen, nur das, was wir auf dem Leib trugen. Nachts wurde es kalt, aber wir hatten keine Decken. Es gab nirgendwo Toiletten. Gewaschen habe ich mich an den Wasserhähnen auf der Straße.
Was hast du tagsüber gemacht?
Nichts. Manchmal für die Polizisten Wäsche gewaschen oder Wasser geholt.
Wie haben die Leute euch Straßenkinder behandelt?
Viele haben gefragt: „Wo ist deine Familie?“ Aber sie haben uns nicht wie die anderen Kinder behandelt.
Kannst du das beschreiben?
Schweigt, senkt den Blick.
Wie bist du in das Zentrum für Straßenkinder gekommen?
Der Verwaltungschef von Katuba hat mich vor einem Jahr hierher gebracht.
Wie haben sie dir hier geholfen?
Beim Lernen. Sie zahlen die Schulgebühren für mich. Und ich konnte mein Verhalten ändern. Als ich ankam, habe ich geglaubt, dass ich ein Hexenkind bin. Die Mitarbeiter hier haben mir gesagt, dass das nicht stimmt. Langsam habe ich angefangen das zu begreifen. Ich bin ein neuer Mensch geworden.
Was wünschst du dir?
Ich will weiter zur Schule gehen, damit ich später eine Arbeit finde und anderen Kindern, die leiden, helfen kann.
Interview: Beatrix Gramlich/Foto: Hartmut Schwarzbach