Jede Geburt ist göttliches WirkenMechthild Groß gilt als Pionierin in ihrer Wissenschaft: Deutschlands erste habilitierte Hebammebegann vor 30 Jahren ihre Karriere an der Universitätsfrauenklinik Tübingen. Heute setzt sich für eine verbesserte Hebammenausbildung ein - auch in Afrika. |
Sind Geburten für Sie überhaupt noch emotionale Ereignisse?
Ja! Einmal pro Woche bin ich im Kreißsaal. Ich habe das Privileg, mich aus der Routineversorgung herausnehmen zu dürfen, bin aber regelmäßig in der Praxis. Genau dadurch kann ich es mir auch leisten, etwas emotionaler zu sein und verschiedene Situationen nachzuempfinden. Fast jeder hat mindestens einmal im Leben mit einer Hebamme Kontakt – auch wenn er sich daran nicht erinnern kann. Von einer Hebamme wird man zum ersten Mal im Leben berührt. Erst die zweiten Hände sind die der Mutter. Männer und Frauen erinnern sich an eine Geburt ein Leben lang. Geboren werden ist in meinen Augen das emotionalste Ereignis, das passieren kann. Manchmal können nicht alle Menschen diese Emotion zulassen. Für mich ist die Geburt etwas Spirituelles.
Warum sind Sie Hebamme geworden?
Ich wusste lange nicht, was ich werden wollte. Mich hat das Gesunde immer sehr interessiert – nicht so sehr das Kranke. Außerdem war mir das Soziale immer wichtig. In der Ausbildung zur Krankenschwester machte ich ein Praktikum, das zufällig in dem Kreißsaal stattfand, in dem ich selbst geboren wurde. Dort habe ich erlebt, dass Frauen ihr Leben in der Art erzählen, wie sie ein Kind zur Welt bringen. Das fand ich super. Da wollte ich unbedingt Hebamme werden.
„Da ist Europa ein Entwicklungsland“
Wie war die erste Geburt?
Die erste Geburt habe ich 1983 in Afrika erlebt. Zu meiner Familie gehört die Ordensfrau Therese Vogel, die mehr als 60 Jahre als Hebamme in Afrika gewirkt hat. Als 19-Jährige bin ich zu ihr an den Viktoriasee nach Kenia gereist. Damals war es noch so, dass die Frauen in Afrika ihre Kinder meist zu Hause bekamen. Als Schwesternhelferin, die gerade mal Blutdruck messen konnte, musste ich plötzlich und ganz allein einer gebärenden Frau helfen. Die Erwartung war, dass ich das als weiße Frau schon mache. Es ist nach einigen Manövern zum Glück auch gelungen, das Kind gesund auf die Welt zu bringen. Damals – in der Zeit kam gerade Aids auf – ist mir klar geworden, was man von den Afrikanern lernen kann. Sie behalten trotz aller Sorgen eine gewisse Lebensfreude bei. Im Jetzt leben, die Lebensumstände annehmen, wie sie sind, das können sie besser als die Europäer. Sie können ihre Emotionen besser leben. Da ist Europa ein Entwicklungsland.
Gibt es auch Männer als „Hebamme“?
Ja, in Deutschland gibt es einige wenige männliche Kollegen. In den Niederlanden gibt es wesentlich mehr männliche Kollegen. Nach dem neuen Hebammengesetz heißen seit 2019 auch die Männer in diesem Beruf Hebamme. Zuvor wurden sie einige Jahre „Entbindungspfleger“ genannt.
Sind werdende Väter im Kreißsaal aus Sicht der Hebamme eine Hilfe oder ein Graus?
Die normale Situation heute ist, dass werdende Väter bei der Geburt dabei sind. Die Gebärende zu unterstützen, ist gut und wichtig. Als Hebamme spüren wir recht schnell, ob ein werdender Vater eher hilft oder hilflos ist. Da müssen wir sehr pragmatisch reagieren. Die Gebärende zu unterstützen, ist gut und wichtig. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Es gibt immer mehr Männer, leider auch Frauen, die angesichts des Schmerzes bei einer Geburt sehr viel Angst bekommen. Die Fälle, in denen Frauen sagen, dass sie bewusst ohne Ehemann kommen, sind hingegen in Europa selten geworden.
In Afrika sind Männer in der Regel nicht bei der Geburt dabei? Wäre es besser?
Aktuelle Ergebnisse unserer Afrika-Studie weisen darauf hin, dass eher weibliche Personen die Frau begleiten. Die traditionelle Weise ist: Die werdende Mutter wird zur Klinik gebracht – samt Essen und Geld, manchmal auch mit der Schwiegermutter, die je nach Persönlichkeit das Ganze gelegentlich kritisch beaufsichtigt.
Wir werden hier ein komplexes Trainingsmodul entwickeln, das den verschiedenen Gegebenheiten Rechnung tragen soll. Die Antwort auf Ihre Frage werde ich deshalb erst in ungefähr zwei Jahren geben können.
Hausgeburt oder Geburt in der Klinik?
Es gibt eine große britische Studie dazu: Bei Frauen, die das zweite Kind bekommen, ist eine Hausgeburt gut möglich, sofern keine medizinischen Gründe dagegensprechen. Beim ersten Kind geht das auch, aber man sollte wissen: In ungefähr einem Viertel der Fälle werden die Frauen verlegt, kommen also am Ende doch noch in die Klinik. Die Geburt des ersten Kindes dauert in der Regel länger als die nachfolgenden Geburten. Diese Ergebnisse kann man nicht auf die Situation in Afrika übertragen, wo es im häuslichen Bereich keine Hebammen gibt.
„Natürlich geborene Kinder haben weniger Probleme“
Planbarer Kaiserschnitt oder natürliche Geburt?
Kinder werden geboren. Natürlich geborene Kinder haben im Leben nachweisbar weniger Probleme im Vergleich zu denen, die ohne medizinischen Grund einen Kaiserschnitt erhielten. Es scheint sich gelegentlich ein Bewusstsein breit zu machen, es wäre legitim, einen Kaiserschnitt bei unzureichender medizinischer Begründung planen zu können. Da er mit langdauernden Risiken vor allem für das Kind verbunden sein kann und viele Materialien und Medikamente benötigt werden, ist dies gerade mit Blick auf den afrikanischen Kontext keine Alternative. Ein Kaiserschnitt sollte nur durchgeführt werden, wenn es dafür gewichtige medizinische Gründe gibt.
Ist es egal, wie alt eine Mutter bei der ersten Geburt ist?
Man sollte sein erstes Kind bekommen, wenn der Körper sich gut darauf einrichten kann. Das Alter spielt keine große Rolle, wenn Kinder sozusagen vom Himmel fallen. Am allerwichtigsten ist, ob das Kind in eine Familie kommt, in der es gewollt ist. Das wünscht man auch Schwangeren, die auf die 40 zugehen. Mit etwa 45 Jahren zieht sich der weibliche Körper in seiner Reproduktionsfreudigkeit zurück. Die Natur ist nicht dumm, die hat sich etwas dabei überlegt. Ob es noch gut ist, dann über Jahre zu versuchen, künstlich eine mit Risiken verbundene Schwangerschaft herbeizuführen, ist eine andere, viel schwierigere Frage.
Die Medizinische Hochschule Hannover ist am EU-Forschungsprogramm ALERT* beteiligt. Mit welchem Ziel?
Die Europäische Union hat ein Forschungsprojekt aufgelegt, mit dem Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in armen Ländern unterstützt werden. Unsere Forschung findet in Benin, Malawi, Tansania und Uganda statt. Wir arbeiten offiziell seit dem 1. Januar 2020 mit schwedischen und belgischen Partnern an dem Projekt. Ziel ist, mit Trainingsmodulen die Betreuung während der Geburten zu verbessern. Derzeit entwickeln wir drei Module. Sie betreffen die drei Themen: Wie werden Schwangere in den Kliniken aufgenommen? Wie sollen sie während der Geburt sozial begleitet werden? Wie soll kurz vor der Geburt der kindliche Kopf betreut werden? Insgesamt soll das Projekt die Hebammenarbeit und die Anerkennung der Hebammen verbessern helfen. Letztlich geht es darum, die Sterblichkeitsrate während der Geburtsphase zu verringern.
Die Kindersterblichkeit in vielen afrikanischen Ländern geht zurück…
Das ist sicher auch ein Verdienst der Hebammen. Aber es hat eine Verschiebung gegeben: Frauen bleiben zur Geburt nicht mehr zu Hause, sondern gehen in eine Klinik. Die Qualität der teils kleinen Hospitäler ist sehr unterschiedlich. Leider hat sich jüngst eine Entwicklung gezeigt, die sich wie eine Pandemie verbreitet: Hochschwangere Frauen werden in den vollen Kliniken nicht immer respektvoll behandelt. Wer ein Kind bekommt, ist hilflos und ausgeliefert. Das kann ausgenutzt werden: Manchmal werden Gebärende angeschrien, sogar geschlagen oder sie werden allein gelassen. Den Frauen kann in dieser Situation die Würde genommen werden.
„Hebammen in Afrika sind sehr gut ausgebildet“
Wie viele Hebammen gibt es denn in Afrika?
Das ist schwierig zu beantworten, weil der Begriff der Hebamme nicht einheitlich verwendet wird. Die WHO, Weltgesundheitsorganisation, spricht zum Beispiel sehr allgemein von Gesundheitspersonal (Gesundheitsarbeiter = health care workers). Die Begrifflichkeiten sind noch ein ungelöstes Problem. Aber natürlich braucht Afrika mehr Hebammen.
Helfen gut ausgebildete Hebammen, die Rolle der Frau in der afrikanischen Gesellschaft zu verbessern?
Es geht um das Frauenbild in der Gesellschaft. Hebammen in Afrika sind sehr gut ausgebildet. Die Berufsgruppe muss sich – wie auch in vielen anderen Ländern auf der Welt – allerdings noch mehr zu einer Lobby formieren. Dieses Thema kennen wir: Dass der Arzt, wenn er plötzlich erscheint, wichtiger ist als die Hebamme, das geschieht manchmal auch bei uns. Dass es immer mehr Kaiserschnitte gibt, ist auch ein Trend in Afrika. Da gleichen sich die Welten sehr schnell an.
Spielen Geburtsmythen noch eine Rolle?
Es gibt noch genügend Mythen, die wir abarbeiten müssen. Himbeerblättertee leitet die Geburt nicht schneller ein. Der Mond spielt auch keine Rolle bei Geburten. Solche Mythen sind wissenschaftlich widerlegt. Viel schwieriger ist die Frage, was in und mit Familien geschieht, wenn Babys mit Fehlbildungen geboren werden. Das kann Familien lähmen. Die Hebamme Dr. Effie Chipeta vom College of Medicine in Malawi berichtet, dass Geburtsmythen in den ländlichen Gegenden immer noch eine große Rolle spielen. So wird es gerne gesehen, wenn das erste Kind zu Hause geboren wird – ohne Hebamme, dafür mit der traditionellen Geburtsbegleiterin des Stammes. Jegliche Art von Erschwernis, etwa eine lange Geburt, wird als Beleg gewertet, dass das Kind von einem anderen Mann sein könnte. Wenn aber Frauen zu Hause bleiben, entstehen bei langen Geburten sehr leicht schwere Komplikationen.
Weibliche Genitalverstümmelung kann zu Komplikationen bei der Geburt führen. Wie gut müssen sich Hebammen mit diesem Thema auskennen?
Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Beschneidungen bei Frauen. Es gibt darunter Formen, die eine natürliche Geburt verunmöglichen. Hebammen müssen wissen, was in welchem Fall zu tun ist. Aber der Schwerpunkt bei diesem Thema liegt in der Bildung, die dazu beitragen sollte, dass Beschneidungen von jungen Frauen verhindert werden.
Gibt es eine optimale Anzahl von Kindern, die eine Frau bekommen sollte?
Menschen aus bildungsnäheren Schichten verhalten sich in dieser Frage häufig angemessen. Vernünftig ist, Kinder dann in die Welt zu setzen, wenn man es verantworten kann, wenn man sie ernähren und ihnen Bildung geben kann. Oft spielt aber die Annahme noch eine Rolle, dass eine höhere Kinderzahl auch eine bessere Altersversorgung bedeutet. Diese Frage stellt sich allerdings nicht nur in Afrika, sie stellt sich auch bei uns, nicht nur in Familien, die aus einem anderen Kulturkreis kommen. Oft hängt es auch von der Religion der Eltern ab, wie viele Kinder sie sich wünschen.
„Religionen sollten sich aus der Familienplanung heraushalten“
Kann Religion ein Hindernis für eine vernünftige Familienplanung sein?
Schlüsselfaktor in der Familienplanung bleibt die Bildung. Religion wird von allen praktiziert – von Gebildeten und weniger Gebildeten. Werdende Eltern machen sich mehr Gedanken, wenn sie aufgrund ihrer Vorbildung ihre Planung aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten können. Religionen sollten sich grundsätzlich aus der Familienplanung heraushalten.
Warum wollen Sie die Hebammenausbildung stärker akademisieren?
Deutschland macht endlich etwas, was viele afrikanische Länder schon lange machen: die Öffnung der Hebammenausbildung für die tertiäre Bildung, also die Bildung an Hochschulen, an denen man seinen Doktor machen kann. Akademisierung schafft Kapazität: Es schafft Ressourcen und Stellen. Hebammenausbildung ist jetzt nicht mehr allein im Schul-, sondern auch im Wissenschaftsministerium angesiedelt. Das verbessert zwar die Betreuung der Gebärenden nicht direkt, aber die Qualität der Ausbildung mittel- und langfristig erheblich. In Europa ist Deutschland übrigens das letzte Land, das die Hebammenausbildung akademisiert. Die Niederlande haben diesen Schritt bereits 2005 vollzogen.
Was können Europäer von Afrika lernen?
Bei afrikanischen Kolleginnen merke ich: Sie haben viel mehr Emotionalität. Gefühl spielt eine viel selbstverständlichere Rolle im Alltag und auch im Beruf. Wir sind nicht nur Kolleginnen, sondern auch Freundinnen. Afrikanerinnen gehen mit großer Freude und auch Dankbarkeit an die Arbeit. Als ich Dr. Effie Chipeta von unserem geplanten Interview berichtete, war sie sogleich bereit, auch am Wochenende Fragen zu den Geburtsmythen zu beantworten. Dies ist auch eine Geste der Dankbarkeit für jahrzehntelange Unterstützung aus Europa. Vielen Afrikanerinnen ist bewusst, dass der Zugang zu Bildung ihre Goldmine ist. In allem sehen sie göttliches Wirken - in jeder Geburt und jedem neugeborenen Kind.
Interview: Franz Jussen; Fotos: Friedrich Stark
Zurück zur Nachrichtenübersicht September/Oktober 2021
Lesen Sie weitere Interviews aus kontinente:
Von unechten Klöstern halte ich nichts
Ich mag die Flammenzungen zur Pfingstnacht - Lyrikerin Nora Gomringer
Unser Wohlstand geht auf Kosten der Armen - Entwicklungsminister Gerd Müller
Missbrauchte Ordensfrauen fürchten Rache - Steyler Schwester und Juristin Julie George
Wir brauchen eine spirituelle Revolution - Bischof Heiner Wilmer
Das Böse traut sich nicht zur Liebe hin - Regisseurin Mo Asumang
SUCHE |
PROBEHEFT GRATIS BESTELLEN | |
Eine Welt. Ein Magazin. Entdecken Sie kontinente und bestellen Sie hier Ihr kostenloses Probeheft. |
WORTWECHSEL | |
|
DIE KONTINENTE-HERAUSGEBER | |
|
VIDEO |
Der Film erzählt von Schwester Marie Catherine im Niger, die zur Versöhnung von Muslimen und Christen im ärmsten Land der Welt beiträgt. |
Unterwegs in ... | |
|
Kontakt | FAQ | Sitemap | Datenschutz | Impressum |