„Kirche ist so steif geworden“
Die Fenster der Kirche weit aufmachen wollte das Zweite Vatikanum vor 50 Jahren. Papst Benedikt XVI. würdigt das Konzil mit einem Jahr, das den Glauben erneuern soll. „Zuerst muss Kirche sich selber erneuern“, sagt der Generalobere der Kapuziner, Mauro Jöhri.
Bescheiden: Mauro Jöhri nennt sich wie alle Kapuziner "Bruder". Der Orden legt keinen Wert auf Hierarchie. Foto: Br. Wronski/Kapuziner
Bruder Mauro, in einem Interview mit dem Züricher Tagesanzeiger haben Sie gesagt, es sei eine Religion auf dem Vormarsch, die sehr bequem ist. Was meinen Sie damit?
Ich meine eine starke Individualisierung, die wir mit dem Wohlstand in Europa erreicht haben. Auch in Bezug auf den Glauben wird mehr oder weniger in Anspruch genommen, was einem passt.
Das heißt, jeder bastelt sich seinen Glauben, wie es für ihn bequem ist?
Ja, heute kann man durchaus Christen begegnen, für die die Reinkarnation eine Option ist, die damit liebäugeln, die sagen: Ja, das ist interessant, das gibt mir Perspektiven. Es geht nicht mehr um die Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten, sondern um die Frage: Was bringt mir das? Diese Haltung stellt den Glauben in vielen Teilen in Frage. Und sie begegnet einem nicht nur im Glauben, sondern auch in vielen anderen Bereichen des Lebens.
Was betrachten Sie als die wesentlichen Elemente des Glaubens?
Ich bin jetzt seit sechs Jahren der Hauptverantwortliche für über 10 000 Brüder auf der ganzen Welt. Und da gilt es immer wieder zu präzisieren: Was ist das Charisma eines Ordens? Was ist der Hauptinhalt? Ich glaube, der Hauptinhalt ist nicht durch Sätze gegeben, sondern durch eine Haltung, die das ganze Leben trägt. Für einen Ordensmann ist es ganz bestimmt die Haltung der Hingabe seiner selbst. Man setzt sich für jemanden, für etwas ein, und wenn dieser Einsatz nicht mehr vorhanden ist, dann wird das Leben sehr fad. Im Glauben geht es vor allem um eine Entdeckung, eine Begegnung. Es ist die Begegnung mit einer Person, sicher einer Person der Vergangenheit, Jesus Christus, aber einer Person, die wir als lebendig bekennen. Wenn diese Begegnung nicht stattfindet und nicht bereichernd ist für den Einzelnen, dann wird es problematisch. Ich glaube, dass wir in einem Übergang stehen.
Sie spielen auf früher an?
Ja. Früher gab es eine soziale Kontrolle im Dorf: Man musste mitmachen, man musste dabeisein. Es gab eine sehr starke Kontrolle der Kirche, auch im moralischen Bereich. Ob da wirklich Begegnung stattgefunden hat und der Glaube auch bereichernd war, kann ich nicht sagen. Aber ich glaube schon: Beim Glauben der Kirche geht es um eine lebendige Begegnung, die mein Leben bereichert, die meinem Leben Sinn gibt, aber die mich herausfordert. Glaube ist nicht nur eine Versicherung. Wir sind in allen Bereichen versichert heutzutage – es kann uns nichts passieren. Ist etwas passiert, dann kassieren wir Geld. Aber es gibt Bereiche, in denen wir diese Gewissheit nicht haben. Ich sage nicht, dass der Glaube dort einsetzen soll, wo keine Antworten mehr vorhanden sind. Aber der Glaube sollte den ganzen Bereich, die ganze Fülle des Lebens, was mir bekannt ist und was mir unbekannt ist, umspannen.
Brauchen wir also eine Erneuerung des Glaubens – vor allem in den westlichen Ländern, wie der Heilige Vater sie fordert, oder vielmehr weltweit?
Aus meiner Sicht – der Sicht eines Ordensoberen, ich reise jetzt sehr viel, bin viel unterwegs von Kontinent zu Kontinent – muss ich sagen: Die Erneuerung des Glaubens sollte wirklich überall stattfinden. Natürlich sind die Voraussetzungen unterschiedlich. In Europa war die Geschichte praktisch zwei Jahrtausende vom christlichen Glauben geprägt. In Lateinamerika ist er seit 500 Jahren vorhanden – wie auch immer, aber er prägt die Leute. In Afrika ist er kaum 100 Jahre alt, und das spürt man. Es braucht Zeit, damit der Glaube tiefe Wurzeln schlagen kann, damit auch eine Kultur entsteht, die vom Glauben geprägt ist. Eine Kultur der Öffnung, in der die Bereitschaft vorhanden ist, sich für die anderen einzusetzen und nicht nur für die Mitglieder der eigenen ethnischen Gruppe. Manche Gesellschaften sind stark von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beeinflusst. Also: Ich bin verpflichtet, den Leuten meiner Gruppe zu helfen, aber außerhalb habe ich nicht dasselbe Empfinden. Der christliche Glaube hat genau die Kraft zu sagen: Nein! Alle sind deine Brüder und Schwestern! Bezeichnend für das Christentum ist doch: Das Wichtigste ist die Not des Menschen. Also: Wer ist mein Nächster? Mein Nächster ist derjenige, der in Not ist, unabhängig davon, ob er zu mir gehört oder nicht, ob er meinen Glauben teilt oder nicht, unabhängig von der Hautfarbe, von der Nationalität. Er ist Mitmensch, und ich habe mich zum Nächsten zu machen. Das ist diese universalisierende Kraft des Evangeliums. Aber diese Öffnung findet noch nicht überall statt. Ich kann sonntags in die Kirche gehen und doch noch sehr stark von meiner Kultur geprägt bleiben. Darum glaube ich: Die Glaubenserneuerung hat auf verschiedenen Stufen, mit ganz verschiedenen Akzentuierungen überall stattzufinden.
Heißt das, dass unsere Zivilgesellschaft in Europa auf das Christentum zurückgeht?
Absolut! Wenn Sie irgendwo jemanden schwer verletzt finden, und sie verweigern Hilfe: Dann ist das strafbar. Das kommt aus dem christlichen Glauben. Das ist Lukas 10!
Wie kann eine Erneuerung des Glaubens gelingen? Papst Benedikt hat in seinem apostolischen Schreiben dazu drei Elemente genannt: den Katechismus zu überarbeiten, das päpstliche Lehramt und die Volksfrömmigkeit zu stärken. Teilen Sie diese Einschätzung?
Als Generaloberer werde ich an der Synode zur Neuevangelisierung im Oktober teilnehmen – wenn meine Mitbrüder mich wieder wählen. Ich habe begonnen, die Lineamenta, die Arbeitspapiere, dazu zu lesen. Der Anfang ist stark geprägt von „Glauben als Begegnung“. Glaube ist Begegnung. Um ihn zu beleben, braucht es vor allem Menschen, die ihn im Alltag vorleben. Der Katechismus legt fest, was die wichtigsten Inhalte sind, aber Glaube ist in erster Linie eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus, zu Gott. Sicher, auch Inhalte sind nicht unwichtig, aber allein für wahr zu halten, was im Katechismus steht, bedeutet für mich noch nicht lebendiger Glaube.
Und die anderen beiden Punkte?
Auch für das kirchliche Lehramt habe ich Verständnis. Es muss jemand da sein, der sagt, wo die Grenzen sind, wann ich noch zur Gemeinschaft gehöre und wann nicht mehr. In jeder menschlichen Gruppierung gibt es irgendwelche Grenzen oder Regeln. Was die Volksfrömmigkeit angeht: Ich glaube, Rituale helfen, das Unbestimmte, das Ungeordnete in eine gewisse Ordnung zu bringen. Aber ich kann mir vorstellen, dass auch neue Formen entstehen. Wenn unsere Klöster zum Beispiel Fastenwochen anbieten, kommen Leute, die vielleicht längst aus der Kirche ausgetreten sind und durch eine konkrete Praxis wieder Zugang finden – nicht zum Glauben, aber zu Menschen, die glauben. Was sich daraus ergibt, weiß ich nicht, aber ich bin offen.
Was kann jeder Einzelne als Christ zu einer Glaubenserneuerung beitragen, was eine Synode oder ein Jahr des Glaubens?
Diese Großereignisse haben vielleicht eine gewisse Wirkung: dass die Leute, dass die Gemeinden sich mit der Frage des Glaubens und der Glaubensübertragung auseinandersetzen. Aber wenn der Glaube stirbt, dann auch, weil er in der Familie nicht mehr weitergegeben wird. Die ersten Zeugen des Glaubens sind die Eltern, die Großeltern, das ist mein Umfeld. Ich persönlich habe von meinen Eltern etwas mitbekommen. Als ich ins Kloster ging, war das wie selbstverständlich.
Was war Ihre Motivation, in den Orden einzutreten?
Die Kapuziner kamen zur Aushilfe in unsere Schule. Sie waren für mich die ersten Mönche, die ich konkret erlebt habe. Ich hatte wirklich den Eindruck: Das sind vor allem gute Leute. Die Güte, die Bereitschaft, sich mit uns Kindern auseinanderzusetzen – da war keine Distanz. Es war die Begegnung mit Menschen, die etwas vorlebten, das mir imponierte. Und dann, als junger Knabe, habe ich gedacht: „Ich will werden so wie die.“ Das war für mich die Motivation, diesen Weg zu gehen.
Haben Sie das schon früh für sich entschieden?
Ja, zehnjährig. Mit zwölf bin ich ins kleine Seminar eingetreten, mit 17 ins Noviziat. Mit 21 habe ich ewige Profess abgelegt. Das waren andere Zeiten. Ich will nichts verherrlichen, ich sage nur: „Das war mein Weg.“
Noch mal zurück zur Ausgangsfrage: Was kann jeder einzelne als Christ zur Erneuerung des Glaubens beitragen?
Wenn ich als Kapuziner komme und sage, ich bin Christ und glaube, dann nehmen mir die Leute das sicher ab, dann heißt es: „Ja, du bist ein Profi, das gehört zu deinem Beruf.“ Aber wenn ein Mitmensch, vielleicht an seinem Arbeitsort oder im Urlaub sagt: „Ich gehe jetzt in die Kirche“, also offen sagt, was er macht, wo er steht, dann hat das sicher seine Wirkung.
Gilt es nicht dort anzusetzen und die Christen zu ermutigen, ihren Glauben offen zu leben?
Ja. Man müsste den Einzelnen wirklich stärken und sagen: „Steh doch zu deinem Glauben, hab keine Angst, deinen Glauben zu bezeugen!“ Aber dann ist es auch wichtig, dass wir dem Einzelnen die Möglichkeit geben, sich in kleinen Gruppen mit anderen, mit Gleichgläubigen, zu treffen und sich mit dem Wort Gottes auseinanderzusetzen. Aber ich glaube, das erste, was in der Kirche geschehen sollte, ist, dass die Kirche selber sich evangelisieren lässt …
Das müssen Sie erläutern!
Es gibt im Evangelium so viele Dinge, die erfrischend, die überraschend sind. In der Kirche jedoch stelle ich eine starke Bürokratisierung fest, etwas Hierarchisches. Kirche ist so – wie soll ich sagen – so steif geworden. Dagegen zeugt die Frische, wie Jesus sich auf Leute einlässt, wie er niemanden ausschließt, zu Tische sitzt mit allen, und sei es mit seinen Gegnern, von einem Vertrauen, dass Gottes Reich unterwegs ist – trotz allem unterwegs ist. Ich möchte, dass diese Atmosphäre auch unsere Kirche prägt. Insofern glaube ich, und das sagt auch der Papst, dass wir als erstes die Frische des Evangeliums zur Erneuerung benötigen. Wenn die Kirche sich nicht erneuern lässt, wird sie größte Mühe haben, das Evangelium glaubwürdig weiterzugeben.
Und wer könnte diesen frischen Geist an die kirchliche Basis tragen?
Die Ortsbischöfe. Synode, „synodos“ heißt ja: miteinander Weg sein. Aber oft entsteht am Ende ein Dokument, das so geschrieben ist, dass sich die meisten nach einer Seite langweilen – und dann geschieht praktisch nichts. Früher hat man bei Synoden gesagt: Wie können wir die Leute motivieren, selber eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu wagen?
Trotzdem fragen sich viele, wieso 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil mit einer Bischofssynode und einem Jahr des Glaubens gefeiert werden. Das Motto, das Papst Johannes XXIII. ausgegeben hatte, lautete: Macht die Fenster der Kirche weit auf! Ist das Fenster wirklich aufgegangen, oder könnte es nochmal einen Schubs vertragen?
Ich glaube, wir müssen auch sehen, was in diesen 50 Jahren geschehen ist. In diesen 50 Jahren sind die Entwicklungen viel schneller vor sich gegangen, als man erwartet hatte – die Individualisierung in der Gesellschaft, Werte, die praktisch über den Haufen geworfen worden sind. Zum Beispiel: Ist Treue noch ein Wert? Es gibt durchaus Leute, die sagen: „Nein. Nutze alle Möglichkeiten, die dir das Leben bietet.“ Ich glaube beim jetzigen Papst spüren zu können, dass er sehr besorgt um diese Entwicklungen in der Gesellschaft ist. Und wahrscheinlich ist seine Meinung: „Jetzt geht es um wesentliche Dinge.“ Wenn er ein Jahr des Glaubens ausruft, geht es nicht nur um den Einzelnen mit seinem Glauben. Es geht darum, wo der Glaube gelebt wird, nämlich in der konkreten Gemeinde. Die Weitergabe des Glaubens geschieht in erster Linie durch das Zeugnis der Eltern, das Zeugnis der Laien, der einfachen Leute. Ich könnte mir vorstellen, aus einem Jahr des Glaubens etwas zu machen, das diese Aufbrüche des Konzils vergegenwärtigt. Denn ohne die Laien kann die Kirche nicht bestehen.
Mit dem Zweiten Vatikanum verbindet man vor allem die Liturgiereform, eine Stärkung der Laien und der Ortskirchen. Heute haben viele das Gefühl, es ist gar nicht gewollt, dass sie mitreden – auf Gemeindeebene, bei der Besetzung von Ämtern, beim Diakonat der Frau. Meinen Sie, da könnte sich etwas bewegen?
Ich glaube durchaus, dass auch in der katholischen Kirche etwas zu bewegen wäre. Aber gewisse Veränderungen gehen sehr sehr langsam vor sich oder man hat den Eindruck, dass sie auf der Strecke bleiben. Ja, ich denke zum Beispiel: Wie geht die Kirche mit der Weihe von „viri probati“ um? Auch Bischöfe haben sich schon dafür stark gemacht, aber bis jetzt wurde nichts daraus. Man hat gesagt, auch das Diakonat für die Frauen, hänge damit zusammen. Wir im Orden haben ein anderes Problem: Wir möchten, dass unsere Mitbrüder, die nicht Priester sind, Zugang zu allen Ämtern im Orden haben. Das ist bisher nicht möglich, weil gesagt wird, wo Priester sind, da muss ein Priester die Verantwortung übernehmen. Ich habe mit dem Papst persönlich darüber gesprochen, aber ich bin nur ein Glied in einer langen Kette. Meine Vorgänger im Amt und andere, wir setzen uns seit Jahrzehnten dafür ein. Aber bisher hieß es immer: Das wird studiert. Wir haben uns gefragt: Mit welcher Haltung wollen wir das weiter tragen? Es ist nicht in unserem Sinne zu sagen, wir hätten ein Recht auf derartige Veränderungen. Aber wir bitten um die Gnade, das leben zu dürfen, was uns der Heilige Franziskus von Assisi hinterlassen hat. Wir gehen nicht gegen die Kirche vor, aber wir werden immer wieder bitten, unser Anliegen immer auf den Tisch legen.
Wer könnte über solche Veränderungen im Orden überhaupt entscheiden?
Das kann der Papst entscheiden. Klar hat das wahrscheinlich gewisse Konsequenzen in anderen Bereichen. Und das begründet die Zurückhaltung.
Haben Sie regelmäßig Gespräche mit dem Papst?
Nein, nein! Es ist nicht so leicht, an den Papst heranzukommen. Ich hatte ein einziges Mal die Möglichkeit, mich mit ihm zu unterhalten, ungefähr 20 Minuten lang. Ich bin ihm schon ein paar Mal begegnet bei, wenn er auf Besuch war in Assisi oder bei franziskanischen Großereignissen. Aber ich glaube, es gibt durchaus auch Bischöfe und viele Priester, die es verstehen, einen ganz einfachen, unmittelbaren Umgang mit den Leuten zu pflegen. Doch es gibt auch eine starke Tendenz zur Unnahbarkeit.
Meinen Sie, dass sich der Klerus zu sehr vom Volk entfernt hat?
Mir scheint wichtig, dass sich auch die Kleriker mal von der anderen Seite zeigen, nämlich mit dem, was sie tatsächlich glauben. Sonst kann man leicht zu einem Administrator, einem Beamten des Glaubens, werden. Es müsste Möglichkeiten geben, dass sich Laien und Kleriker auf derselben Ebene begegnen. Denn keiner ist mehr als getauft. Die Gefahr ist, mit Angst an die Dinge heranzugehen. Angst, man würde mit Fragen konfrontiert, denen man lieber ausweichen möchte, auf die man keine Antwort hat, oder bei denen ich mich exponieren muss und dann von der Hierarchie keine Rückendeckung mehr habe. Und dann ist natürlich noch die Frage der Bischofsernennung: Werden Leute gesucht, die vor allem Kontinuität gewährleisten, oder werden auch Leute gesucht, die fähig und kommunikativ sind, die Hörende sind und sich auf das Wort Gottes einlassen können?
Welche Rolle sollten die Bischöfe spielen – zum Beispiel wenn es um den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen geht?
Die Bischöfe müssten sich viel stärker exponieren und die Not der Menschen sehen. Treue ist nach wie vor ein Wert. Aber wann sind die Bedingungen gegeben, dass jemand wirklich Treue leben kann? Wir haben sofort die Antwort: alles frei geben. Aber mir scheint nicht, dass das eine gute Antwort ist. Wir müssten lernen, viel mehr Fragen aufzuwerfen, auch genau dort, wo man den Eindruck hat: Wir kommen nicht weiter.
Sollten sich die Bischöfe stärker engagieren und untereinander vernetzen, um eine gemeinsame Linie zu finden?
Ich bin nicht Bischof. Aber die Aufgabe eines Bischofs ist es, als Hirte für seine Herde einzustehen und gleichzeitig die Sorgen oder die Sicht des Zentrums wieder in die Peripherie zu tragen. In vielen Ländern haben die Verantwortlichen jedoch offenbar den Eindruck: „Auf uns wird nicht gehört“, „unsere Sorgen spielen in Rom keine Rolle“ oder: „Rom hat uns bereits fallen gelassen, weil sie hoffen, das Christentum wächst jetzt im Süden, und dann geht’s dort weiter.“ Aber ich glaube, die Bischöfe sind ein ganz wichtiges Bindeglied innerhalb der Kirche – für die Ortskirchen untereinander und mit dem Papst und um den Papst herum bilden sie die Hierarchie der Kirche. Das Volk Gottes ist hierarchisch strukturiert. Das ist so.
Und diese Hierarchie sollte auch bestehen bleiben?
Ich glaube schon. Die Hierarchie hat uns immerhin geholfen, durch 2000 Jahre hindurch zu gehen. Die Leitungsstrukturen in der Kirche sind vorgegeben. Die Frage ist: Wie wird sie geführt, wie wird sie gelebt? Und wenn das Heil der Seelen das Wichtigste ist, also im Mittelpunkt steht, dann sollten wir vielmehr fragen: Muss das so sein? Wodurch kann man das begründen? Wie werden wir dem gerecht?
Also ein Plädoyer für eine dialogorientierte Kirche?
Viel stärker, ja. Viel stärker. Dialog ist eine Frage, die ich mittrage, die wirklich bohrend ist!
Sollte Kirche also eine suchende bleiben?
Ja, und vor allem offen für das Gespräch mit den anderen christlichen Kirchen. Man kann keine Evangelisierung betreiben, die nicht zugleich die Ökumene voranbringt. Es gibt gewisse klerikale Kreise, die meinen: Du musst alles von A bis Z annehmen, sonst bist du kein Christ. Aber Jesus hat gesagt „Kommt, lernt von mir, denn ich bin milde und demütig“. Diese Güte darf nicht verloren gehen.
Wo steht Kirche Ihrer Einschätzung nach heute?
Dabei scheint mir wichtig, von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land zu differenzieren. Ich glaube, dass die Kirche in den nördlichen Ländern Europas eher auf Rückzug ist, dass sie durch die Fälle von sexuellem Missbrauch an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Auch die Tatsache, dass Priester-und Ordensnachwuchs sehr spärlich geworden sind, ist ein Zeichen, dass die Form des Christentums, so wie es war, tief in der Krise steckt. In anderen Länder, zum Beispiel in Indien, ist es genau umgekehrt: Dort sind die Christen zwar prozentual eine kleine, aber doch starke Gruppe, in der sehr viele junge Leute den Priester- oder Ordensberuf wählen. Es gibt also durchaus Kontinente, wo der christliche Glaube wächst. Damit ist noch nichts über die Qualität, über die Echtheit, die Tiefe ausgesagt. Denn zum Teil bedeutet, den christlichen Glauben anzunehmen, auch teilzuhaben an der westlichen Welt. In Tansania, habe ich gehört, gibt es viele Leute, die sich als Christen ausgeben, obwohl sie nicht mal getauft sind. Aber sie wollen zu dieser Welt gehören.
Was ist für Sie eine Kirche in der Welt, die authentisch ist?
Vielfach wird die Kirche als Partei der Neinsager wahrgenommen. Aber das ist nur eine Dimension. Ich spreche immer wieder als Franziskaner oder als Bruder: Unsere Welt hat sich unheimlich entwickelt. Im Makrokosmos und Mikrokosmos haben wir riesige Schritte getan, aber im Umgang mit den Mitmenschen, in der Gestaltung der Gesellschaft, im Umgang mit dem Fremden, dem Andersdenkenden, dem Andersgläubigen, sind wir nicht viel weiter gekommen. Da gibt es keine eklatanten Fortschritte. Die Kirche, die Orden haben, wie ich finde, einen Beitrag zu leisten, die Welt menschlicher zu machen. Sie können ein Beispiel geben, wie man Konflikte überwindet, wie man geschwisterlich miteinander umgeht. Ich glaube, auch die Evangelisierung muss selbstlos geschehen. Ich gebe etwas weiter, was mir viel bedeutet. Dann bin ich natürlich gespannt, was der andere daraus macht. Aber ich habe kein Recht, ihm etwas vorzuschreiben. Ich kann es nur anbieten. Wenn Evangelisierung bedeutet, dass wir die Vormachtstellung, die wir einmal hatten, zurückerobern wollen, dann geht’s schief.
Und wie sieht Ihre Vision von Kirche aus?
Mir gefällt das Bild von Kirche, das Olivier Clément, ein französischer Theologe, der zum orthodoxen Glauben übergetreten ist, entworfen hat. Er schreibt, wir wissen, wo die Mitte der Kirche liegt – das ist die Eucharistie – aber nicht, bis wohin ihre Ausstrahlung reicht. Wir hätten gerne, dass das immer genau bestimmbar wäre, aber das ist es eben nicht. Wir müssen lernen, mit viel mehr Fragen zu leben, viel mehr Fragen aufzuwerfen. Meine Hoffnung ist, dass der Glaube als lebendige Beziehung zu Gott weiterlebt. Viele Formen der Macht, viele Privilegien werden wegfallen. Aber die Fülle des Evangeliums hält noch manche Überraschung bereit.
Das Interview führte Beatrix Gramlich.
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