"Mit einer Faust kann man nicht säen"
Während der Diktatur in Argentinien wurde Adolfo Pérez Esquivel von den Militärs verhaftet. Die Nominierung für den Friedensnobelpreis rettete ihn 1978 vor dem Tod. Bis heute setzt sich der katholische Rebell unermüdlich für Menschenrechte ein. Ende November wird er 80.
„Wenn man einmal die Kraft des Evangeliums entdeckt hat, hat man den Weg der Befreiung gefunden.“ © getty Images
Sie arbeiten tagein, tagaus für die Rechte der Kinder, der Indigenas, der Arbeiter, der Armen – an allen Fronten.
Adolfo Pérez Esquivel: Ja, alles steht in Verbindung miteinander. Dabei sprechen wir immer von den Menschenrechten in ihrer Ganzheit. Einfach erklärt: Ein Tropfen Wasser macht einen ganzen Fluss aus und ein Fluss ist in einem einzigen Wassertropfen enthalten. Wir sind alles und gleichzeitig Teil von allem. Weswegen ich mich nicht nur in Argentinien, sondern auch im Nahosten, in Afrika und Asien für die Menschenrechte einsetze. Wenn man sich nur den lokalen Problemen widmet, verliert man den Blick fürs Ganze.
Welches Erlebnis in Ihrem Leben war entscheidend für diesen stetigen Kampf?
Adolfo Pérez Esquivel: Seit eh und je setze ich mich für Menschen in marginalen Situationen ein. Als Heranwachsender zuerst im Kleinen, etwa in meiner Nachbarschaft. Grundlage dafür war und ist mein christlicher Glaube. Meist genießt man als junger Mensch zunächst eine konventionelle christliche Erziehung. Man nähert sich dem Glauben aus Tradition, etwa durch die Familie. Wenn man aber einmal die Kraft des Evangeliums entdeckt hat, hat man den Weg der Befreiung gefunden. Das Evangelium befreit oder es ist nicht das Evangelium. Es ist keine Schrift der Vergangenheit, sondern eine Schrift, die unsere Gegenwart erleuchtet. Mit der Zeit versteht man außerdem die Bedeutung und den Sinn des gewaltfreien Kampfes. So wie ihn Mahatma Gandhi und Martin Luther King geführt haben. Bestimmt ist auch meine Herkunft ein Grund für meinen steten Kampf: Ich komme aus einer sehr armen Familie.
Wie haben Sie die Zeit der Militärdiktaturen im Südamerika erlebt?
Adolfo Pérez Esquivel: Ich wurde auf meinen Arbeitsreisen durch den Kontinent in verschiedenen Ländern verhaftet, in Uruguay, Chile, Brasilien. In Ecuador nahm man mich 1976 mit 21 Bischöfen in Riobamba fest und wies mich später aus. In Buenos Aires verschleppten mich die Militärs 1977 und sperrten mich in ein Geheimgefängnis. Ich blieb 14 Monate in Haft, bis Mai 1978.
In dieser Zeit wurden Sie gefoltert. Wie hat die Gefangenschaft ihr Leben verändert?
Adolfo Pérez Esquivel: Es war ein schmerzhaftes Erlebnis. Die ersten Tage verbrachte ich in einer Zelle, die etwa so groß wie ein Schreibtisch war. Dennoch: Wenn man es als Mensch schafft, so etwas zu überleben und zu verarbeiten, ist das eine enorme Erfahrung. Viele Regimegegner wurden allerdings völlig zerstört. Bis heute leben sie mit schweren physischen und psychischen Problemen, sie konnten sich nicht mehr ins soziale Leben eingliedern. In Gefangenschaft habe ich gelernt, ein freier Mensch zu sein. Die Militärs hatten zwar Macht über meinen Körper, aber nicht über meinen Geist und meine innere Standfestigkeit, diese extreme Situation überleben zu wollen.
Hat Ihnen der Glaube dabei geholfen?
Adolfo Pérez Esquivel: An einem Tag öffneten die Militärs meine Zellentür, damit ich auf die Toilette gehen konnte. Ich sah an einer Wand mit Blut geschrieben: Gott tötet nicht. Ein gefolterter Gefangener hatte diese Worte mit seinem eigenen Blut geschrieben. Das ist für mich der größte Glaubensakt, den ich kenne. Das hat sich mir für immer eingeprägt.
Tausende politische Gefangene wurden ermordet. Wie überlebten Sie?
Adolfo Pérez Esquivel: In Argentinien stürzten die Militärs Regimegegner aus Flugzeugen in den Fluss Río de la Plata. Auch mich haben sie gefesselt in ein Flugzeug geladen. In der Luft bekamen die Militärs plötzlich den Befehl, mich nicht herunterzustoßen. Sie flogen zur nächsten Militärbasis, luden mich ab und ließen mich dort warten. Ich betete. Dann kam ein Offizier und sagte: „Sie haben Glück, wir bringen Sie in ein öffentliches Gefängnis.“ Und so wurde aus mir ein gesetzlich anerkannter Häftling, bis man mich schließlich frei ließ. Ich wurde nicht umgebracht, weil 1978 meine Nominierung für den Friedensnobelpreis bekannt gegeben wurde und wegen des internationalen Drucks.
Wurde Ihr Kampf danach vehementer?
Adolfo Pérez Esquivel: Nach einem solchen Erlebnis ist einem bewusster, was die wichtigen Dinge im Leben sind. Bereits im Gefängnis dachte ich, wenn ich hier lebend raus komme, ist es meine Pflicht weiterzukämpfen. Alleine schon für alle Mitstreiter, alle Compañeros, die ihr Leben während dieser Zeit verloren haben.
Und heute: Ist Südamerika erwachsener, demokratischer?
Adolfo Pérez Esquivel: Es beginnt eigene Ideen zu haben. Bisher ließen wir uns mental kolonialisieren und unterdrücken. Nun aber hat Südamerika eigene Gedanken, eine eigene Stimme und trifft politische Entscheidungen selber. Argentinien etwa hat in Richtung Demokratie viele Fortschritte gemacht. Heute werden hier Gerichtsverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur geführt. Früher wäre das unvorstellbar gewesen. Es gibt sicher noch vieles zu tun. Vor allem in den Provinzen Argentiniens werden die Rechte der Indigenas oft noch mit Füßen getreten.
Wofür setzen Sie sich heute besonders ein?
Adolfo Pérez Esquivel: Unsere Organisation Serpaj hat zum Beispiel Programme gegen die Armut erarbeitet. In der Peripherie von Buenos Aires haben wir etwa zwei Ausbildungszentren errichtet, wo Straßenkinder einen Beruf erlernen können. Die Menschen werden zunehmend vom Land durch multinationale Konzerne vertrieben. Die legen riesige Soja-Plantagen an und zerstören damit auch die biologische Vielfalt. Dies alles sind schwere Menschenrechtsverletzungen.
Welchen Traum gibt es für Sie noch zu erfüllen?
Adolfo Pérez Esquivel: Mit 80 Jahren hat man schon einen großen Teil des Lebensweges hinter sich. Bis Gott mir sagt: „Jetzt besuchen wir einen anderen Ort“ – werde ich weiter gehen. Solange man jedoch im Diesseits reist, sollte man es mit offenen Händen tun. Mit einer Faust kann man nicht säen. Für mich ist jedes Kind, dem ich helfen kann, das Leben anzulachen, ein erfüllter Traum.
Das Interview führte Camilla Landbø.
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