Politik auf urprotestantische Art
Für manche ist sie die mächtigste Frau der Welt: die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Andere finden die 57-Jährige als Mensch schwer fassbar. Wer Merkel verstehen will, muss einen Blick in ihre Vergangenheit werfen – und auf ihren Umgang mit der CDU.
Merkel zum Thema Glauben: „Ich habe mich am Anfang schwer mit der Frage getan, wie weit ich meinen Glauben in die Politik mit hineinnehme.“ ©: Sternsinger
Am liebsten verbringt die Bundeskanzlerin ihre freie Zeit allein mit ihrem Mann Joachim Sauer in ihrem Ferienhaus in der Uckermark. Völlig abgeschieden. Nur mit einem kleinen See nebenan. Die Datsche, wie die Berliner liebevoll sagen, hat sie schon gut 20 Jahre. Und die Nachbarn wissen zu berichten, die Merkel habe sich die Zeit über kaum verändert. Nur laufe jetzt mehr Polizei durchs Dorf. Angela Merkel regiert seit über sechs Jahren in Deutschland; die mächtigste Frau der Welt wird sie genannt. Seit gut zehn Jahren ist die 57-Jährige die Vorsitzende der CDU, davor, unter Helmut Kohl, war sie schon Ministerin. Jetzt in der Eurokrise halten sie manche für die Königin des Kontinents – andere für die Diktatorin. Die Kanzlerin hat als Krisenmanagerin den Zenit ihrer Macht erreicht. Und doch ist sie die untypische Politikerin geblieben.
Sie, die auf europäischer Ebene zu den „alten Hasen“ gehört, die mit allen machtpolitischen Wassern gewaschen ist, entzieht sich immer wieder gern den Mechanismen und Gepflogenheiten des Politikbetriebs. Weder den Glamour bedient sie in der Art, wie das etwa Karl-Theodor zu Guttenberg gemacht hat, noch nutzt sie das Berliner Parkett zur permanenten Selbstdarstellung. Sie bleibt bisweilen furchtbar spröde – und manche warten auf eine große emotionale Rede schon lange vergeblich. Nur eins hat sie mit vielen gemeinsam, sie will erfolgreich sein. Und ist es auch.
Distanz: ihre größte Schwäche – und Stärke
Wer Angela Merkel verstehen will, muss sich auch ihr unpolitisches Vorleben anschauen. Ihr Aufstieg ist so unwahrscheinlich wie ungewöhnlich. Als die Mauer fiel, war sie 35 Jahre alt, hatte in Leipzig und Ostberlin studiert und in Physik promoviert, ihre erste Ehe war geschieden worden. Mit Politik hatte sie noch nichts zu tun gehabt. Sie arbeitete in einem Forschungsinstitut am Rande Berlins – und langweilte sich. Angela Merkel interessierte sich für Konzerte und Theater. Bei der FDJ, der Jugendorganisation des DDR-Regimes, wurde sie auf der Ebene des Uni-Instituts als Sekretärin für Agitation und Propaganda geführt. Dadurch kam sie an Karten, die für sie sonst nicht zu haben waren. „Ich habe das unfreie System im Osten gehasst“, so sagt sie. Doch sie habe im gewissen Umfang mitgespielt, um nicht unterzugehen. Die Diktaturerfahrung und der Systemwechsel bleibt erhalten – ein Leben lang. Sie wahrt Distanz. Es ist ihre größte Stärke und größte Schwäche zugleich. Ein Wegbegleiter hat einmal gesagt: „Für mich ist die CDU wie eine Familie, für Merkel ist es nur eine Partei.“ Inzwischen kennt Merkel die emotionalen Bedürfnisse ihrer Parteifreunde und bedient sie bisweilen auf Parteitagen. Aber nie wird die ewige Seiteneinsteigerin ein CDU-Eigengewächs werden. Ihr Aufstieg in der Partei war der tiefen Krise im Spendenskandal geschuldet. Nach Kohl und Schäuble sollte das unverbrauchte Gesicht die Partei retten. Damals dachten die Parteigranden, Merkel sei eine Übergangslösung. Da haben sie sich getäuscht. Sie hat die Partei umgekrempelt. Dieser von ihr als Modernisierungskurs verstandene Weg ist nicht ihre Erfindung. Viele in der Partei wollten nach der Kohl-Ära den Aufbruch und Neuanfang, aber wohl kaum ein anderer hätte ihn so radikal vollzogen.
Integrationspolitik ist Sache der Chefin
Die Merkel-CDU hat in zentralen politischen Fragen in den zurückliegenden zehn Jahren völlig neue Wege eingeschlagen. Die Abkehr von der Atomenergie ist der vielleicht radikalste Schritt. Was früher Ausländerpolitik hieß, hat Merkel als Integrationspolitik zur Chefsache gemacht. In der Familienpolitik hat die Union sich heute in vielen Punkten an die frühere Linie der Sozialdemokraten angelehnt. Für Merkel ist das Problemlösen. Es fällt ihr auch nicht so schwer, weil sie in einzelne Positionen nicht so viel Gefühl legt. Wie etwa bei der Abschaffung der Wehrpflicht oder der Einführung von Mindestlöhnen – da meinten einige, dies rühre am Tafelsilber der CDU. Merkel kann da nur müde lachen. Zum Kernbestand der CDU gehört an vorderster Stelle das „C“. Wie aber ist es nun um das Christliche bestellt in der Union? Woran misst sich so etwas? Angela Merkel musste immer wieder als Beleg für die These herhalten, dass das „C“ verblasse. Etwa wegen ihrer Haltung zur embryonalen Stammzellforschung oder zur Abtreibung. Vor allem auch die als Papstkritik bezeichnete Äußerung der Kanzlerin 2009 zum Umgang des Vatikans mit dem Holocaustleugner Richard Williamson, der den Pius-Brüdern angehört, sorgte für einen Aufschrei in bestimmten kirchlichen Kreisen. Die Papstkritik bot endlich einen konkreten Angriffspunkt für Merkel-Kritiker. Es mangele ihr an Respekt gegenüber den Kirchen und vor allem an Kenntnis der katholischen Kirche, so der Vorwurf. Merkels Distanz zum Religiösen, jetzt werde sie offenbar.
Merkel hat die Union pragmatischer und wendiger gemacht. Man kann das Ent-Ideologisierung nennen, man kann darin auch eine Abkehr von Altem und Tradiertem erkennen. Dass es immer eine Abkehr vom Christlichen wäre, ist kaum belegbar. Die Kirche erkennt an, dass in der Integrationsfrage oder in der Menschenrechtspolitik die CDU sich ihren Positionen angenähert habe. Der Vorwurf, die unchristliche Merkel befördere eine unchristliche Union ist ein Zirkelschluss. Dennoch gibt es Unzufriedenheit und Widerspruch zu ihrer Politik gerade auch aus einem christlichen Kontext heraus. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Debatte um die Finanzmarkttransaktionssteuer. Der Jesuit Jörg Alt hat die Kampagne für eine „Steuer gegen Armut“ ins Leben gerufen und viele Unterstützer gefunden. Dass Merkel einmal dazu gehören könnte, schien unwahrscheinlich. Nun hat sie beim jüngsten Weltwirtschaftsforum in Davos für dieses Anliegen geworben. Dort hat Merkel einen starken Akzent auf die internationale Zusammenarbeit gelegt. „Wenn wir uns einmal fragen, welche Lektion wir denn nun eigentlich aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gelernt haben, und ob das, was wir gelernt haben, schon ausreicht, dann glaube ich, auch in diesem Jahr sagen zu müssen: Es reicht noch nicht aus. Wenn es um ganz neues Denken geht, dann sind wir sicherlich noch nicht am Ende.“ Das Scheitern internationaler Abkommen beim Handel und beim Klimaschutz hat sie außerdem beklagt.
Wie christlich ist nun Merkel? Sie ist vor allem nicht katholisch, was in der alten CDU doch für viele gewöhnungsbedürftig war. Die selbstverständliche Katholizität eines Helmut Kohl war eben doch für viele maßgebend. Der versteckte Glaube der evangelischen Pfarrerstochter hingegen schien vielen suspekt. „Für mich ist der Glaube in der Tat eine sehr persönliche Sache“, sagt Merkel. Und sie räumt ein: „Ich habe mich am Anfang schwer mit der Frage getan, wie weit ich meinen Glauben in die Politik mit hineinnehme.“ Wahrscheinlich jedoch ist Merkel bibelfester – dafür hat der strenge Vater gesorgt – als Kohl und die anderen Vorgänger im Kanzleramt. Nur merkt man es kaum.
„Bitte die Lutherbibel verwenden“
Es ist die Anekdote überliefert, dass ein Redenschreiber Merkel ein Bibelzitat in eine Ansprache schrieb. Bei der Durchsicht fügte die Kanzlerin am Rand einen Korrekturhinweis an: „Bitte Lutherbibel verwenden, nicht die Einheitsübersetzung.“ Den Unterschied muss man erst mal kennen. Ihre öffentliche Zurückhaltung in Glaubensdingen mag viele Ursachen haben, auch die DDR-Sozialisation als Tochter eines recht prominenten Pfarrers. Aber diese defensive Art ist eben auch urprotestantisch. Merkel scheint mehr so etwas wie eine preußische Protestantin als eine ostdeutsche Physikerin zu sein.
Von Volker Resing
Sie sind an kontinente interessiert? Bestellen Sie hier Ihr kostenloses Probeabo.