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Kathrin Oltmann, Palliativmedizinerin @ Roman Pawlowski

„Ster­ben ist ein sehr in­di­vi­du­el­ler We­g“

Pal­lia­tiv­me­di­zi­ne­rin Ka­rin Olt­mann er­lebt täg­lich die Mög­lich­kei­ten, aber auch die Gren­zen
der mo­der­nen Me­di­zin. Sie be­fürch­tet, dass die Für­sor­ge für chro­nisch und schwer
kran­ke Men­schen durch ei­ne ver­b­rei­te­te Ster­be­hil­fe ab­ge­baut wer­den könn­te.

In Deut­sch­land wird oft ge­sagt: Kein Pa­ti­ent muss Sch­mer­zen lei­den. Stimmt das?

Das ist ei­ne Aus­sa­ge, die so nicht halt­bar ist. Das weiß je­der, der sich mit chro­ni­schen Sch­mer­zen be­fasst. Und im Grun­de wis­sen das auch al­le Men­schen, die chro­ni­sche Sch­mer­zen ha­ben. Wir ha­ben ne­ben di­ver­sen Me­di­ka­men­ten vie­le wei­te­re Mög­lich­kei­ten – von Phy­sio­the­ra­pie über Psy­cho­the­ra­pie bis zur Seel­sor­ge und spe­zi­fi­schen me­di­zi­ni­schen Ein­grif­fen – da­mit Kran­ke bes­ser mit ih­ren Be­schwer­den zu­recht­kom­men. Im bes­ten Fall kann man sie lin­dern. Aber das er­for­dert ei­ne er­heb­li­che Mit­ar­beit des Pa­ti­en­ten und der Fa­mi­lie. Wenn An­ge­hö­ri­ge al­le zwei Mi­nu­ten fra­gen: „Ist es denn jetzt bes­ser mit dem Sch­merz? Tut dein Bein noch weh?“, dann ist das ei­ne Zen­trie­rung auf das Pro­b­lem. Das hilft den Be­trof­fe­nen nicht wei­ter. Man muss ge­mein­sam schau­en, wel­che Mög­lich­kei­ten es gibt, die Be­schwer­den zu lin­dern, und da­zu ge­hört auch ei­ne Hal­tung.

Was kön­nen An­ge­hö­ri­ge tun, um Men­schen zu un­ter­stüt­zen, die Sch­mer­zen lei­den?

Das ist sehr in­di­vi­du­ell und pau­schal nicht zu be­ant­wor­ten. Aber wich­tig ist: kei­ne to­ta­le Kon­zen­t­ra­ti­on auf das Leid. Die Fra­ge ist: Ver­sch­lim­me­re ich es, in­dem ich es stän­dig in den Mit­tel­punkt stel­le oder rea­gie­re ich zum Bei­spiel auch mal ganz prag­ma­tisch und sa­ge: „Okay, dein Bein tut weh, dann la­ge­re ich dich mal an­der­s“? Er­le­ben wir auch Mo­men­te zu­sam­men, in de­nen das Leid nicht im Mit­tel­punkt steht? Das be­deu­tet nicht, dass es ver­schwin­det, wenn man nicht da­ran denkt Der Sch­merz ist im­mer real. Aber zu den Mög­lich­kei­ten, ihn zu lin­dern, ge­hört auch die Hal­tung der Um­ge­bung.

Wor­un­ter lei­den Men­schen? Es ist ja nicht im­mer nur der kör­per­li­che Sch­merz...

Es gibt in der Pal­lia­tiv­me­di­zin den Aus­druck von „to­tal pai­n“, des to­ta­len Sch­mer­zes, und der be­in­hal­tet auch das See­len­leid. Man weiß, dass see­li­scher Sch­merz kör­per­li­che Symp­to­me ver­sch­lim­mert. Zum „to­tal pai­n“ trägt zum Bei­spiel auch das Lei­den an dys­funk­tio­na­len Fa­mi­li­en bei – wenn kein Kon­takt mehr zu Kin­dern, El­tern oder Ge­schwis­tern be­steht, weil die Be­trof­fe­nen es nicht ge­schafft ha­ben, ei­nen Vor­fall, der sie entz­weit, mit­ein­an­der zu klä­ren. Das sind Ge­schich­ten, bei de­nen das Leid am En­de des Le­bens rie­sig ist. Ich se­he ganz vie­le Fa­mi­li­en, bei de­nen ich den­ke: „Mensch, warum re­den die ei­gent­lich nicht mehr mit­ein­an­der?“ Das ist im­mer ein gro­ßes Pro­b­lem, weil es am En­de im­mer um trag­fähi­ge Be­zie­hun­gen geht. Und wenn die feh­len, ist al­les viel sch­lim­mer. Gott­ver­trau­en ist in un­se­rer Ge­sell­schaft kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit mehr. Man merkt, dass die Spi­ri­tua­li­tät ei­ne an­de­re ist und nicht mehr so trägt wie früh­er, als man ver­trau­te, dass es der lie­be Gott am En­de doch gut mit uns meint.

Kön­nen Glau­be oder Spi­ri­tua­li­tät Men­schen das Ster­ben er­leich­tern?

Wir be­o­b­ach­ten, dass Men­schen oh­ne Spi­ri­tua­li­tät es schwe­rer ha­ben, ver­zwei­fel­ter sind. In un­se­rem Kopf pas­sie­ren ja vie­le Din­ge, die wir sehr schwer er­klä­ren kön­nen: et­wa das neu­ro­na­le Zu­sam­men­spiel von Emo­tio­nen in so ei­nem al­ten Hirn­ge­biet wie dem Tha­la­mus, das sehr eng ver­schal­tet ist mit dem Sch­merza­real. Sie ken­nen das sel­ber: Wenn Sie in sch­lech­ter Ver­fas­sung sind, weil Sie ge­ra­de ei­nen hef­ti­gen St­reit mit je­man­dem ha­ben, und Ih­nen fällt ei­ne Tas­se auf den Fuß, dann könn­ten Sie heu­len. Wenn Ih­nen sonst ei­ne Tas­se auf den Fuß fällt, den­ken sie bloß: Okay, die konn­te ich so­wie­so noch nie lei­den. Beim Sch­mer­z­emp­fin­den kommt im­mer auch dar­auf an, wel­che Din­ge un­se­re emo­tio­na­len Struk­tu­ren be­schäf­ti­gen.

Ve­r­än­dert sich et­was im Au­gen­blick des To­des?

Na­tür­lich ent­span­nen sich die Ge­sichts­zü­ge, aber je­der Ana­tom wür­de sa­gen: Das pas­siert, weil der Mus­kel­to­nus nach­lässt. Un­ter den vie­len, vie­len To­ten, die ich ge­se­hen ha­be, wa­ren vi­el­leicht zwei, die ein an­ge­spann­tes Ge­sicht hat­ten. Aber al­le an­de­ren sa­hen sehr fried­lich aus.

Als Pal­lia­tiv­me­di­zi­ne­rin er­le­ben Sie Men­schen in ei­ner Ex­t­rem­si­tua­ti­on. Kom­men Sie Ih­ren Pa­ti­en­ten da­durch be­son­ders nah?

Das darf ich nicht, sonst kann ich nicht pro­fes­sio­nell han­deln. Ich brau­che die pro­fes­sio­nel­le Di­s­tanz. Wür­de ich mir das gan­ze Leid auf die Schul­tern la­den, könn­te ich nicht mehr ar­bei­ten.

Sie sa­gen: „Wenn je­mand ge­s­tor­ben ist, zün­de ich ei­ne Ker­ze an und ma­che das Fens­ter auf, da­mit die See­le hin­aus­f­lie­gen kann.“ Was bringt Sie da­zu?

Wahr­schein­lich mei­ne christ­li­che Er­zie­hung. Ich bin evan­ge­lisch-lu­the­risch, und dar­auf, auf das Lu­the­ri­sche, bin ich stolz. Ich ha­be ei­ne christ­lich ge­präg­te Spi­ri­tua­li­tät. „So fall‘ ich denn in Got­tes Hän­de“ – das ist et­was, das ich be­ja­hen kann.

Ist es hu­man, Men­schen beim Ster­ben zu hel­fen?

Das gan­ze The­ma ist so kom­plex, dass man sich hü­ten muss, ab­so­lu­te Aus­sa­gen zu ma­chen. Aber ich fürch­te, dass die Für­sor­ge für chro­nisch und schwer kran­ke Men­schen ab­ge­baut wird, wenn Ster­be­hil­fe bei uns so um sich greift wie in den Nie­der­lan­den und Bel­gi­en. Dort wird in­zwi­schen für Kin­der mit of­fe­nem Rü­cken, die bei uns im Roll­stuhl sit­zen, ak­ti­ve Ster­be­hil­fe als Op­ti­on ge­han­delt. Ich ken­ne Kin­der, die mit die­ser Be­ein­träch­ti­gung ein gu­tes Le­ben füh­ren. Ein Le­ben mit Er­kran­kung ist ja auch mög­lich, nicht nur ein Le­ben oh­ne. Ich glau­be, dass es in 20, 30 Jah­ren für vie­le Men­schen, die dau­er­haft Hil­fe be­nö­t­i­gen, kei­ne As­sis­tenz mehr ge­ben wird. Denn Be­hin­der­ten­werk­stät­ten, Ta­ges­k­li­ni­ken, In­k­lu­si­on, De­menz­be­t­reu­ung: All das kos­tet viel Geld. Es wird dann wie­der dar­über ge­re­det wer­den, ob sich das lohnt. Ich glau­be, dass sich die Ein­stel­lung zu ei­nem Le­ben mit Krank­heit ins­ge­s­amt wan­delt. Es wird ei­ne Hal­tungs­än­de­rung ge­ben. Und da­vor ha­be ich Angst.

Wie sehr kann die Me­di­zin das Ster­ben leich­ter ma­chen?

Es gibt Leu­te, die ster­ben wir­k­lich schwer und ha­ben ei­ne Viel­zahl von Symp­to­men. Aber wenn wir an­fan­gen, dann ak­ti­ve Ster­be­hil­fe als Lö­sung zu se­hen, lan­den wir da, wo wir al­le nicht lan­den wol­len. Des­we­gen brau­chen wir den Aus­bau der Pal­lia­tiv­me­di­zin. Wir ha­ben ei­ne gu­te Ver­sor­gung in Deut­sch­land. Wir ha­ben Ho­spi­ze, Pal­lia­tiv­sta­tio­nen, Pal­lia­tiv-Ca­re-Teams. Wenn es tat­säch­lich da­zu kommt, dass die Symp­to­me ei­nes Pa­ti­en­ten wir­k­lich nur noch sehr sch­lecht zu kon­trol­lie­ren sind, dann hat die Pal­lia­tiv­me­di­zin auch noch die Mög­lich­keit der pal­lia­ti­ven Se­die­rung. Das be­deu­tet, wenn es an­ders nicht geht, die Symp­to­me durch Schlaf zu kon­trol­lie­ren. Die Pa­ti­en­ten be­fin­den sich dann in ei­nem Däm­mer­zu­stand. Im Ideal­fall kann man kann sie auf­we­cken, sie kön­nen kom­mu­ni­zie­ren, aber ih­re Symp­to­me – Sch­merz, Luft­not, Er­b­re­chen – sind deut­lich ge­lin­dert. Doch Men­schen rea­gie­ren un­ter­schied­lich. Man kann das nicht so re­geln wie ei­ne Hei­zung. An­ge­hö­ri­ge sa­gen oft: Stel­len Sie die Me­di­ka­ti­on doch mal so ein, dass er nachts schläft, und tags­über wie­der der Al­te ist. Aber das geht nicht – ei­nen Zau­ber­stab ha­ben wir auch nicht.

Letzt­lich geht es doch um das Ein­ge­ständ­nis, dass Ster­ben zum Le­ben ge­hört. Wir nei­gen aber da­zu, den Tod aus­zu­klam­mern...

Ich den­ke manch­mal: Vi­el­leicht be­kommt das Leid ei­nes Pa­ti­en­ten auch da­durch Sinn, dass An­ge­hö­ri­ge sei­nen Tod als Er­lö­sung emp­fin­den und sie das in ih­rem Sch­merz trös­tet. Vi­el­leicht kön­nen sie ihn dann bes­ser ge­hen las­sen.

Hilft da­bei auch der Glau­be, dass der Ab­schied nicht für im­mer ist? Dass wir in Gott ge­bor­gen sind?

Ja, aber un­ser Glau­be ist uns auch häu­fig im Weg, weil wir Ster­ben im­mer mit gro­ßem Leid ver­bin­den. So sind wir ja in un­se­rem christ­li­chen Abend­land auf­ge­wach­sen: mit Je­sus am Kreuz, mit sei­nem Lei­den und Ster­ben. Wor­te wie To­des­kampf prä­gen un­se­re Vor­stel­lung da­von, wie das sein kann. Aber Ster­ben ist ein sehr in­di­vi­du­el­ler Weg ist – so wie auch je­de Ge­burt an­ders ist.

In­ter­view: Bea­trix Gram­lich; Fo­to: Ro­man Paw­low­ski

Zur Per­son

Ka­rin Olt­mann, 60, ist An­äst­he­sis­tin, Pal­lia­tiv­me­di­zi­ne­rin und ärzt­li­che Lei­te­rin des am­bu­lan­ten „Pal­lia­tiv­teams Ho­he
Wei­de“ in Ham­burg.


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