Als Bauernsohn sollte Jakob – gespielt von Jan Dieter Schneider – die Eltern unterstützen. Stattdessen liest er und träumt von Südamerika. Foto: Lüdeke |
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Auswanderer waren begehrt
Interview mit Jan Dieter Schneider
Jan Dieter Schneider ergatterte als Laiendarsteller die Hauptrolle im Kinofilm „Die andere Heimat“. Als Jakob träumt er sich darin vom harten Leben im kargen Hunsrück des 19. Jahrhunderts nach Brasilien. Ein Film mit großer Aktualität, meint der junge Schauspieler. Im Rahmen der Berlinale 2014 hat Edgar Reitz für "Die andere Heimat" vom Verband der deutschen Filmkritik den Preis für den "besten Film des Jahres 2013" sowie Kameramann Gernot Roll für die "beste Kameraarbeit" erhalten.
„Er war der Beste, der Begabteste.“ Mit einfachen Worten begründet Regisseur Edgar Reitz, warum er die Hauptrolle seines vierstündigen Kino-Epos’ „Die andere Heimat“ an den 23-jährigen Hunsrücker Jan Dieter Schneider vergeben hat. Etwa 800 Mitbewerber gab es, darunter natürlich auch professionelle Schauspieler. Reitz mag das Wort „Laie“ nicht. Die Leistung sei entscheidend, die Überzeugungskraft der Persönlichkeit. Der 81-jährige Regisseur hat in Jan Schneider den Protagonisten Jakob Simon gesehen, die tragende Figur seines Films. Dieser steht im Zentrum der Geschichte, die im 19. Jahrhundert in der Mittelgebirgslandschaft des Hunsrücks spielt. Das Leben damals ist äußert hart, die Menschen kämpfen gegen Missernten und Krankheiten. Vielen erscheint das Angebot verlockend, das entbehrungsreiche Leben in der Heimat aufzugeben und in Brasilien neu anzufangen. Ganze Familienverbände gehen aus dem Hunsrück fort. Die Wagenkolonnen der Auswanderer prägen das Landschaftsbild, lassen die Angehörigen zurück – für immer. Auch der durch Schneider verkörperte Jakob sehnt sich nach einem besseren Leben. Die Lektüre über Indianerstämme im fernen Südamerika beflügelt seine Phantasie, er lernt die fremde Sprache, träumt sich in Gedanken in die andere Welt. Doch das Leben geht seinen eigenwilligen Gang. Am Ende brechen zwar einige Mitglieder von Jakobs Familie nach Brasilien auf, er selbst aber bleibt zurück.
Herr Schneider, war es schwierig, in die Rolle des Jakob zu schlüpfen?
Ich habe zwei Monate lang mit einer Schauspiellehrerin in München zusammengearbeitet. Sie arbeitet nach der so genannten Method Acting Methode. Danach soll man nicht spielen, sondern man selbst sein. Bei ihr habe ich gelernt, Leute zu beobachten und auch mich selbst zu beobachten. Und dann das zu beschreiben und in einem nächsten Schritt zu erklären. Vor dieser Frau habe ich mich entblößt. Wir haben zunächst mein Leben bis ins Detail analysiert, alle Höhen und Tiefen. Dann haben wir uns Jakob vorgenommen und geschaut, welche Parallelen und Unterschiede es zu Jan gibt. Es war sehr psychologisch. Wir haben zusammen gestritten und geweint. Das war ein schmerzhafter Prozess, aber auch ein notwendiger, denn ich habe ja keine Schauspielschule besucht. Durch die intensive Arbeit an der Rolle habe ich mich selbst besser kennen gelernt. Und manche Lösung fiel uns wie von selbst zu.
Zum Beispiel?
Was den Jakob ausmacht, ist die Sehnsucht. Aber wie spielt man die? Ich hatte keine Ahnung, da meinte meine Lehrerin: „Guck einfach.“ Also guckte ich und das war’s!
Hatten Sie als Hunsrücker einen Bonus für die Rolle des Hauptdarstellers?
Ich glaube, für Reitz war das der wertvollste Bonus. Er ist ein Regisseur, der sehr auf Authentizität aus ist und weiß, wie die Leute sind, die hier groß geworden sind. Irgendwie hat der Hunsrücker ja doch eine gewisse Eigenart und ich glaube, dass er etwas „Hunsrückerisches“ in mir gesehen hat. Meine Großeltern sind aus dem Hunsrück, ich kenne die Gegend, spreche den Dialekt. Das sind Dinge, die ihm wichtig waren.
Wie sehr prägte Jakob den Jan?
Die Rollenarbeit war so intensiv, dass ich mich während der Dreharbeiten wirklich wie Jakob fühlte, Jakob war. Mittlerweile habe ich der Rolle aber „Tschüss“ gesagt. Nachdem ich nun mehr über das Leben in der Mitte des 19. Jahrhunderts weiß, bin ich froh, heute zu leben und nicht zur damaligen Zeit. Dann wäre ich nämlich schon tot, gestorben an der „Seitenkrankheit“. Denn ich habe keinen Blinddarm mehr.
Welche Szene im Leben des Jakob hat Sie am meisten ergriffen?
Beim Drehbuchlesen die Bekanntmachung von Gustav in der Kirche, dass er mit Jettchen auswandert. Da hab ich meine Figur nicht verstanden, denn Jakob liebt Jettchen! Ich hab mich gefragt, warum Jakob nicht mit auswandert, er entscheidet sich ja dagegen. Solche Konflikte mit der Figur muss man irgendwie lösen. Am Ende habe ich Frieden mit Jakob geschlossen, weil ich denke, es ist das Beste, dass er im Hunsrück bleibt. Er ist keine Figur, der man zutraut, Wälder zu roden oder gegen wilde Tiere zu kämpfen. Ich bin mir nicht sicher, ob er den Anforderungen in Brasilien gewachsen gewesen wäre. Die Erkenntnis, dass es am besten ist, dass er zu Hause bleibt, kam mir nicht sofort, die kam irgendwann während der Dreharbeiten.
Es gibt viele Heimatschnulzen. Was ist anders bei „Die andere Heimat“?
Sie hat nichts mit Kitsch oder Heimatverherrlichung zu tun. Reitz und andere haben vor Jahrzehnten im „Oberhausener Manifest“ den „neuen deutschen Film“ begründet. Sie wollten andere Wege gehen, nicht die heile Welt darstellen wie es in der Nachkriegszeit üblich war. Dadurch haben sie den Begriff Heimat, der nicht nur positiv besetzt ist und zum Teil, etwa von Rechtsradikalen, missbraucht wird, wieder nutzbar gemacht.
Hat Sie das Drehbuch direkt gepackt?
Ja, ich habe es in einer Nacht gelesen.
War die Geschichte für Sie neu?
Als Papst Johannes Paul II. gestorben ist, hat der katholische Pfarrer meines Heimatortes an den Eingang zur Kirche ein großes Plakat aufgehängt mit allen Kardinälen der Welt. Darunter war auch Kardinal Hummes. Er ist ein Kardinal in Brasilien, dessen Vorfahren aus meinem Nachbarort Buch kommen. Damals bin ich zum ersten Mal auf die Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert gestoßen worden. Das war mein erster Kontakt damit. In der Schule habe ich darüber nichts gelernt. Im Drehbuch war trotzdem vieles für mich neu.
Worin liegt für Sie die Aktualität des Films?
Er ist ein Appell dafür, zu sehen, dass der Schatz der Menschheit auch in den stillen, introvertierten Menschen liegt, die oft übersehen werden. Dabei sind sie die wahren Helden des Alltags. Mit Jakob stellt der Film solch eine Figur in den Mittelpunkt. Von ihm gibt es viele, auch heutzutage. Die genaue Darstellung des einfachen, entbehrungsreichen Lebens hat ebenfalls etwas Allgemeingültiges. Sie zeigt Parallelen zu ähnlichen Lebenssituationen in ganz anderen Regionen der Welt. Es ist verrückt, aber eine Japanerin dankte Reitz dafür, dass er die Geschichte ihrer Oma dargestellt hätte. Sie hat sie im Film wiedererkannt.
Gibt es Parallelen zwischen der Situation der Flüchtlinge damals und heute?
Ich glaube, solche Vergleiche sind schwierig. Die Auswanderer, die im 19. Jahrhundert aus Europa nach Brasilien aufbrachen, waren dort sehr begehrt. Als Bauern und Handwerker sollten sie das Land voranbringen. Heutige Flüchtlinge sind leider meist illegal und häufig unerwünscht. Die Gründe der Auswanderung – große wirtschaftliche Not und mangelnde Lebensperspektiven – sind aber ähnlich. Auch in dem Moment, die Wurzeln auszureißen, alles hinter sich zu lassen und woanders völlig neu zu beginnen, dürfte es Parallelen geben. Vielleicht kann der Film zu einer gewissen Sensibilität gegenüber Einwanderern beitragen, indem er zeigt, dass unsere Vorfahren selbst einmal große Not gelitten haben und ausgewandert sind.
Für den Film haben Sie eine eigene Indianer-Sprache entwickelt. Wie kam es dazu?
Während eines Pflegepraktikums in Arizona 2011 lebte ich in der Nähe des Reservates der Apachen. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie Kontakt zu Indianern. Aber da fing ich an, mich für sie zu interessieren und mehr über ihr Leben zu erfahren. Und ein Jahr später kam dann das Angebot, den Jakob zu spielen, der so begeistert ist von Indianern. Das war echt ein Zufall. Und dann fragte Reitz mich, ob ich nicht meine eigene Indianersprache erfinden wollte. Das war ein Geschenk für mich! Die ganze Cayucachua-Sprache, die im Film vorkommt, ist von mir. Ich habe die Wörter und Grammatik erfunden. Dieses Kreativ-Sein, das ist toll!
Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirche im Film?
Der Hauptkonflikt ist noch der Generation meiner Eltern bewusst: dass die Protestanten und die Katholiken nicht miteinander konnten. Der Hass zwischen ihnen wird im Film authentisch dargestellt. Jakobs Schwester heiratet einen Katholiken, sein Vater kann sich bis zum Schluss nicht mit dem Mann seiner Tochter versöhnen. Die Menschen hatten damals ein sehr einfaches Leben, in der Kirche haben sie Rückhalt und teilweise auch Antworten gefunden. Aber die Kirche wird auch hinterfragt im Kontext der Missernten oder der vielen Todesfälle von Kindern. Die Kirche wird im Film so dargestellt, wie sie damals war. Mittelpunkt im Dorf, Leitfaden für die Menschen.
Heimat und Fremde, das sind zwei große Pole. Sicherheit, Geborgenheit, vielleicht auch Stillstand auf der einen Seite. Und das andere ist das Abenteuer, das Hinausgehen und Sich-selbst-Erfinden. Wie viel von beidem braucht der Mensch?
Oh, ich glaube, der braucht von beidem etwas. Für mich sind beide Pole wichtig.
Für die einen ist Heimat ein Ort, für andere der Partner oder die Religion. Ist Heimat tatsächlich ein so umfassender Begriff?
Ich liebe Reitz’ Aussage: „Heimat ist eine Zuflucht vor der globalisierten Welt.“ Die Menschen sehnen sich danach, einen sicheren Halt zu haben in dem immer schnelleren, flexibleren und mobileren Leben, das wir haben. Und dann ist es eigentlich egal, ob man die Heimat hat, in die man hinein geboren ist oder die, die man sich selbst ausgesucht hat.
Was bedeutet „Heimat“ für Sie?
Heimat ist für mich der Ort, wo ich mich wohlfühle und wo meine Familie ist. Die Gegend, wo ich herkomme, verändert sich gerade sehr. Überall schießen Windräder hoch. Und wenn man woanders wohnt, findet auch eine gewisse Entfremdung statt. Die Wahrnehmung ist auf einmal eine andere und dann weiß man plötzlich nicht mehr so genau: Ist das noch die Heimat?
Hat die Arbeit am Film Ihnen den Hunsrück näher gebracht?
Oh ja! Wo wir gedreht haben, ist es wild und romantisch. Es gibt entlegene Orte und tolle Landschaften. Interessant war, wie das alles auf die bayerischen oder französischen Schauspieler gewirkt hat. Manche haben sich in den Hunsrück verliebt, andere geflucht: „Hier gibt’s ja nichts!“
Sie haben den Film an unterschiedlichen Orten gesehen. Was waren die Zuschauerreaktionen?
Wir wurden alle während des Filmfestivals in Venedig ins kalte Wasser geschmissen. Keiner der Schauspieler hatte den Film vorher gesehen. Das italienische Publikum war toll, hat während des Films gelacht, geklatscht und war sehr dankbar. Das Pariser Publikum war sehr kritisch. Es gab Räuspern, nur wenig Gelächter. Und die Münchner habe ich als unruhig empfunden. Es war interessant zu sehen, wie der Film an jedem Ort eine ganz andere Atmosphäre schafft.
Sie studieren Medizin im sechsten Semester. Der „Jakob“ war Ihre erste Rolle als Schauspieler. Welchen Weg verfolgen Sie weiter?
Die Schauspielerei ist schon sehr interessant. Ich kann mir aber kaum vorstellen, jemals eine bessere Rolle als den Jakob zu bekommen. Abgründige Charaktere würden mich auch sehr interessieren. Im Studium lernt man viel über Inhalte, bei dem Filmprojekt habe ich viel über mich selbst gelernt, über Emotionen. Obwohl... ich kenne mich immer noch nicht gut. Sagen wir mal so, ich hab mich besser kennen gelernt. Wohin die Reise in Zukunft geht, mal sehen.
Im Film ist Brasilien der Sehnsuchtsort, die Wahlheimat. Haben Sie auch eine?
Ich hab’s bisher nur bis nach Mainz geschafft, aber das ist eigentlich auch Hunsrück (lacht). Ich kann mir schon vorstellen in Zukunft mal weiter weg zu wohnen, aber konkrete Vorstellungen gibt es noch nicht. Der Wunsch, weiter zu kommen ist vielleicht auch eine Parallele zu Jakob im Film.
Das Interview führte Eva-Maria Werner.
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