Der Arzt der ArmenGerhard Trabert ist seit Jahrzehnten als Arzt für benachteiligte Menschen in Deutschland und für Opfer von Naturkatastrophen, Kriegen und Armut weltweit im Einsatz. Die Linke stellte ihn als Kandidat bei der Wahl zum Bundespräsidenten auf. Gewonnen hat er nicht, seinem Herzensanliegen „soziale Gerechtigkeit“ aber konnte er zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen. |
Herr Trabert, was treibt Sie derzeit um?
So einiges. Ich fliege in wenigen Tagen nach Malta, um mit der Seenotorganisation RESQSHIP unterwegs zu sein. Im vergangenen Jahr war dieser Einsatz sehr belastend, weil wir Ertrinkende aus dem Wasser gezogen haben. Die Tatsache, dass Europa nicht in der Lage ist, das stille Sterben im Mittelmeer zu verhindern, macht mich traurig und wütend. Mich beschäftigen aber auch die Einsamkeit vieler wohnungsloser Menschen, die in der Corona-Zeit noch zugenommen hat und der aktuelle Armutsbericht vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Er dokumentiert, dass Armut in Deutschland zunimmt, die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgeht.
Warum geschieht nichts dagegen?
Ich glaube, dass viele Entscheidungsträger in Berlin so weit weg von der Realität der Menschen sind, die Hartz IV bekommen, dass sie nicht verstehen, was es bedeutet, mit 449 Euro leben zu müssen. Dass es einen ohnmächtig macht, wenn man sich keine Brille leisten kann, weil ab dem 18. Lebensjahr Brillen nur noch in seltenen Fällen von der Krankenkasse bezahlt werden. Man könnte, wenn man wollte, doch es wird nicht gegengesteuert.
Was müsste getan werden?
Ich wünsche mir – und sage das ganz bewusst – mal schwere Waffen zur Armutsbekämpfung. Also Bürgerversicherungen, Vermögenssteuern, Umverteilung von oben nach unten, Rezeptgebühren-befreiung, einen Hartz IV-Satz, der um 200 Euro erhöht ist. Arm zu sein bedeutet in diesem Land, früher zu sterben: Frauen 4,4, Männer 8,6 Jahre früher.
Ist die soziale Ungerechtigkeit auch eine Gefahr für die Demokratie?
Ja. Wenn immer mehr Menschen sich abgehängt fühlen und sehen, dass sie nicht ausreichend unterstützt werden, verlieren sie den Glauben an die Demokratie und gehen nicht mehr zur Wahl.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Rassisten, Faschisten und die rechte Szene dieses Thema instrumentalisieren. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft wird kaum gesehen. Das ist so gefährlich!
Demokratie muss nicht nur von innen, sondern auch nach außen verteidigt werden, wie das Beispiel der Ukraine zeigt. Sie waren mal erklärter Pazifist ...
Meine Erfahrungen in Krisenregionen der Erde haben mir gezeigt, dass manchmal ein Aggressor nur mit Waffengewalt zurückgehalten werden kann. Auch, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Ja, man muss die Ukraine jetzt mit Waffen unterstützen. Aber das darf nicht ins Uferlose gehen. Keine Eskalation! Die Diplomatie muss wieder die Oberhand gewinnen.
Ausdrücke wie „sozial Schwache“ mögen Sie nicht. Weshalb?
Weil darin eine Schuldzuweisung enthalten ist und eine Individualisierung des Problems. Die Menschen sind doch nicht sozial schwach! Viele Alleinerziehende haben eine hohe soziale Kompetenz. Sozial schwach ist der Unternehmer, der unter Umgehung der Mindestlöhne in Bangladesch produzieren lässt.Wir sprechen besser von sozial Benachteiligten. Außerdem: Kein Mensch ist illegal. Das gibt es nicht. Das Gesellschaftssystem illegalisiert Menschen.
Trotz vieler Hilfsangebote fallen so viele Menschen durchs Raster, wieso?
Das ist komplex. Oft informieren die Krankenkassen, Jobzentren oder Sozialämter nicht kompetent und rechtskonform. Dann kommen Menschen zu uns in die „Medizinische Ambulanz ohne Grenzen“, die glauben, nicht mehr krankenversichert zu sein. Unsere Mitarbeiter schauen dann: Ist das wirklich so oder gibt es einen Weg zurück in die Versicherung? Bei den meisten Menschen ist doch noch Versicherungsschutz da oder in anderen Tarifen möglich. Auch die Formulare der Behörden sind – vieleicht gewollt? – sprachlich so kompliziert, dass viele daran scheitern. Wichtig wäre, dass die Behörden proaktiv unterstützen, nicht direkt Säumniszuschlag einfordern, falls jemand einen Beitrag nicht geleistet hat.
Wie verändert es Sie, Menschen in Not und Krisensituationen zu begegnen?
Ich fühle mich beschenkt durch Begegnungen. Mit Menschen, die von Armut betroffen sind, gibt es in der Regel einen sehr authentischen, intensiven Kontakt. Es ist ein Geben und Bekommen. Aber ich bin auch frustriert, dass sich so wenig verändert für diese Menschen.
Erhebt die Kirche laut genug ihre Stimme für Arme und Benachteiligte?
Sie muss viel lauter und engagierter sein und Gerechtigkeit einfordern. Das ist doch ein urchristliches Thema. Soziale Verantwortung hat nichts mit Sozialismus zu tun, sondern mit einem gelebten christlichen Selbstverständnis.
Sind Sie Christ?
Ich versuche, einer zu sein und fundamentale Nächstenliebe zu leben.
Was trägt Sie angesichts der Not?
Die wertvollen Begegnungen, Gespräche mit mir Nahestehenden, das Laufen in der Natur – ich war ja mal Leistungssportler: All das sind für mich Kraftquellen. Das Leben kann so schön sein, wenn man das Schöne zulässt. Es tut auch gut, Fürsorge zu erleben: Etwa, wenn ich schon seit Stunden im Arztmobil stehe und müde bin, und auf einmal klopft es, und eine afghanische Familie steht mit Tee und Gebäck vor der Tür und sagt: „Doktor, du brauchst mal eine Pause!“
Sie lernen Kulturen kennen, deren Werte und Frauenbild sich von unserem unterscheiden. Wie gehen Sie damit um?
Ich war mal in Indien, da haben mich die Männer begrüßt, in der Küche waren die Frauen beim Kochen. Ich habe darum gebeten, auch die Hausherrin kennenlernen zu dürfen, denn in meiner Kultur ist es so, dass man auch die Frau begrüßt. Ich versuche, nicht besserwisserisch zu sein oder im Sinn einer Kolonialisierung unser Wertesystem zu übertragen, aber schon zu zeigen, was für mich richtig ist. Und dass ich dann bei bestimmten Dingen nicht mitgehen kann. Manchmal ist es eine Gratwanderung.
Wer oder was hat Sie auf die Spur gesetzt, sich für Benachteiligte stark zu machen?
Ich bin als Privilegierter in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mein Vater war Erzieher dort. Schnell habe ich gemerkt, dass es meinen Spielkameraden nicht so gut ging wie mir. Die Ungleichheit und auch die daraus entstehende Verantwortung, die ich gespürt habe, haben mich geprägt. Wenn ich als Privilegierter aufhöre, Solidarität einzufordern, wer soll es sonst machen? Die Betroffenen selbst sind zu erschöpft und resigniert.
Das Interview führte Eva-Maria Werner
Foto: Christof Mattes
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