Entmenschlichung ist das Problem unserer ZeitErzbischof Ricardo Centellas Guzmán aus Sucre in Bolivien erlebt die Armut der Bergbauleute und
ihrer Familien. Im Interview spricht er über ihre Probleme, Hilfsangebote der Kirche,
Menschenrechte und das Verhältnis von Kirche und Politik in seinem Land. |
Monsignore Centellas, Bolivien ist reich an Bodenschätzen. Kommen diese auch der Bevölkerung zugute?
Die große Mehrheit der Bolivianer hat nichts von den Bodenschätzen, selbst wenn sie im Bergbau arbeiten. Nehmen wir als Beispiel nur einmal den Cerro Rico in Potosí. Dort arbeiten rund 20.000 Bergleute, 17.000 davon auf eigene Rechnung, also ohne jegliche soziale Absicherung und für einen mageren Lohn.
Daran hat auch die sozialistische Regierung von Evo Morales (2006-2019) nichts geändert?
Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) spricht zwar von sozialer Gerechtigkeit, aber in der Realität hat sich wenig verbessert. Es wurden Straßen und Stromtrassen gebaut, aber die Armut besonders auf dem Land besteht weiter, und die soziale Bresche hat sich vertieft. Einige wenige bekommen umgerechnet 8000 Euro im Monat, während 25 Prozent der Bolivianer den Mindestlohn von umgerechnet 236 Euro verdienen, und die Mehrheit hat gar kein festes Einkommen, sondern lebt von den Tageseinnahmen im informellen Gewerbe. Die Landflucht hält an, weil es auf dem Land keine Überlebensmöglichkeiten gibt. 70% der Bolivianer leben mittlerweile in Städten und dort vor allem an der Peripherie, wo grundlegende Infrastruktur fehlt, also Strom und Wasser beispielsweise.
Erzbischof Ricardo Centellas |
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Sie waren ja auch lange in Potosí tätig, einer Stadt, die vom Bergbau geprägt ist. Wie funktioniert Ihre Pastoralarbeit dort?
Ein Schwerpunkt unserer Arbeit dort sind die Bergbau-Witwen und -Waisen. Sehr viele Minenarbeiter sterben früh. Ihren Frauen helfen wir, einen Job zu finden. Für ihre Kinder gibt es Suppenküchen und Schulen. Der zweite Schwerpunkt sind Menschenrechte. In Bolivien ist Kinderarbeit auch im Bergbau noch immer üblich, und dabei werden die Jugendlichen besonders oft über den Tisch gezogen. Wir bieten ihnen Fortbildungen an und beraten sie, damit sie ihre Rechte einfordern können, wieder zur Schule gehen oder sich beruflich umorientieren. |
Die Beziehungen zwischen der MAS und der Kirche waren unter Evo Morales angespannt. Was erwarten Sie sich vom neuen MAS-Präsidenten, Luis Arce?
Unter Morales wurde eine neue Verfassung verabschiedet, in der Bolivien sich zum laizistischen Staat erklärte. Auf Seiten der Regierung wurde das von manchen mit einer Kriegserklärung an die Religion verwechselt. Wir müssen eine neue Form der Koexistenz entwickeln, in der Staat und Kirche sich gegenseitig anerkennen und ergänzen und jeder seine Rolle ausfüllt. Ein entsprechendes Abkommen wurde unter Morales ausgehandelt, aber nicht mehr vor dem Regierungswechsel unterzeichnet. Wir hoffen, dass dies nun geschieht.
Was steht denn in dem Abkommen?
Darin erkennt der Staat die Kirche als Rechtspersönlichkeit an und als gemeinnützige Einrichtung, was aus steuerlichen Gründen wichtig ist für uns. Und geht es um die Zukunft der kirchlichen Schulen, die eine Partnerschaft mit dem Staat haben. Bei ihnen wollen wir sicherstellen, dass die Rektoren künftig katholisch sind. Derzeit ist das nicht immer der Fall, weil alleine der staatliche Auswahlwettbewerb für die Besetzung von Posten relevant ist. Wir wollen außerdem ein Vetorecht. Im Gesundheitssystem wollen wir, dass katholische Ärzte und Hospitäler das Recht haben, aus Gewissensgründen Abtreibungen abzulehnen. Außerdem fordern wir die Wiedereröffnung der katholischen Hochschule für Lehrer, die nach Verabschiedung der neuen Verfassung schließen musste, weil die Lehrerausbildung alleine in Händen des Staates lag. Heute fehlen deshalb im ganzen Land Religionslehrer.
Die Interimsregierung unter Jeanine Añez zog mit einer Bibel in den Präsidentenpalast ein. Das wurde in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Wie beurteilen Sie diese Geste?
Die Kirche gehorcht dem Wort Gottes, nicht den politischen Umständen. Wir sind daher kritisch gegenüber jeder Regierung. Ich habe kein Problem, wenn Politiker die Bibel in den Präsidentenpalast mitnehmen. Wichtiger ist aber, dass sie die Verfassung mitnehmen und in ihrem Geiste regieren. Denn wenn eines nicht passiert ist in den vergangenen 40 Jahren in Bolivien, dann der Respekt der Verfassung durch die jeweils Regierenden.
In jedem Dorf findet man mittlerweile evangelikale Kirchen. Welche Herausforderungen für die katholische Mission sehen Sie vor diesem Hintergrund?
Dieses Phänomen begann im Jahr 1950 und hat inzwischen zugenommen. Mittlerweile gibt es über 2000 dieser Kirchen, von denen etwa 500 anerkannt sind. Seit der Bischofskonferenz von Aparecida (2007) haben wir Jesus und sein Leben in den Mittelpunkt unserer Mission gestellt. Viele Gläubige kennen die Heiligen, die Feiertage und Traditionen, wissen aber wenig über die Essenz der katholischen Region, über die katholische Ethik oder das Engagement von Jesus Christus.
Welche Rolle spielt dabei der Synkretismus? Papst Franziskus sucht ja immer wieder die Nähe zur indigenen Welt.
Unser Papst liebt Symbole, aber das Wichtigste ist, dass wir den Menschen die im Humanismus verankerte christliche Ethik vermitteln. Die Entmenschlichung ist das große Problem unserer Zeit. Der Mensch respektiert seinen Mitmenschen nicht. Da ist es zweitrangig, wie die einen die Messe feiern, in welcher Sprache und mit welchen Tänzen. Die Annäherung an die Indigenen auf der Amazonassynode ist ein wichtiges Symbol, aber nun müssen wir auch mit ihnen gemeinsam diesen Weg weitergehen. 90 Prozent der Missionare am Amazonas sind evangelikal. Das zeigt uns klar, dass kein katholischer Priester es auf sich nehmen will, zu den Indigenen am Amazonas zu gehen.
Wie kann man das lösen, wo es doch in der Kirche einen Priestermangel gibt?
Wir haben auf der Synode deshalb die viri probati, die bewährten Männer, vorgeschlagen. Da gibt es keine schwierigen theologischen Probleme zu lösen, anders als bei Frauenberufungen oder Diakonissen. Aber dann schweifte die Diskussion just in diese Grundsatzfragen ab, und die praktische Lösung der viri probati geriet ins Hintertreffen. So drehten wir uns im Kreis, rund um unbedeutende Fragen, und haben eine Chance verpasst, auf die Nöte der Kirche in Amazonien einzugehen. Bei der Synode kamen viele Träume heraus, aber nichts Konkretes. Das ist ein Problem der Kirche im Allgemeinen, nicht des Papstes.
Vor welchen Herausforderungen steht Boliviens Kirche?
Wir müssen uns öffnen und die Mitmenschen aktiv suchen, statt uns einzuigeln. Dafür müssen wir uns anders aufstellen, die Gemeinde stärker einbeziehen in Entscheidungen und horizontaler und weniger zentralistisch agieren. Es geht darum, den Esprit des zweiten vatikanischen Konzils aufzugreifen, wie uns Papst Franziskus immer wieder ermahnt.
Interview: Sandra Weiss, Christina Brunner; Fotos: Florian Kopp
Zur Person
Erzbischof Ricardo Centellas Guzmán aus Sucre/Bolivien wurde 1962 geboren und ist derzeit Vorsitzender der bolivianischen Bischofskonferenz. Von 2010 bis 2020 war er Bischof von Potosí.
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