„Wir müssen wieder lernen, zufrieden zu sein"Unser Umgang mit Gefühlen ist gestört, mit Flüchtlingen machen wir falsch, was wir falsch machen können.
Es ist Christian Peter Dogs, 64, der dies sagt. Der Psychiater und Psychotherapeut kann auch erklären,
warum andere Völker glücklicher sind als wir. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um Seelenzustände
von Menschen geht. Nicht einmal Mutter Teresa ist dem „Rebell der Psychoszene“ heilig. |
Sie tragen keinen weißen Arztkittel. Ist das Zufall oder Prinzip?
Ich möchte die künstliche Unterscheidung zwischen Arzt und Patient nicht haben. Gerade in der Psychotherapie sind Ärzte nicht besser als die Patienten.
Sie gelten als Rebell in der Szene. Was machen Sie anders als andere Psychotherapeuten?
Alles! Ich habe die Verweildauer der Patienten in Kliniken erheblich verringert – nachweislich mit dem gleichen Ergebnis. Das hat mit der Methode zu tun. Jeder Patient soll jederzeit den Therapeuten wechseln können – umgekehrt übrigens auch. Die Chemie zwischen beiden muss stimmen, das ist die halbe Miete. Und schließlich bin ich weg von der Psychoanalyse. Aus der Vergangenheit lässt sich zwar die Gegenwart erklären. Aber das heilt nicht. Was mir weitergeholfen hat, ist die Erkenntnis: Du bist, wie du bist. Sieh zu, was du daraus machen kannst. Die Analyse neigt dazu, immer nur auf den negativen Teil einer Biografie zu schauen. Es kann aber nicht Sinn einer Therapie sein, den Patienten noch mehr zu stressen. Therapie soll Leben vereinfachen.
„Gefühle sind keine Krankheit“ heißt Ihr Buch. Wer behauptet , dass Gefühle doch eine Krankheit sind?
Abertausende Therapeuten. Die Patienten glauben es. In Deutschland sind Gefühle verboten. Jeder denkt, wenn er Angst hat oder traurig ist, ist er krank. Wir müssen lernen, dass Gefühle ein normaler Bestandteil des Lebens sind.
Gehen die Menschen denn zu schnell zum Therapeuten?
Viel zu schnell! Ich halte es mit Max Frisch: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Wir müssen Krisen durchmachen, weil sie die Persönlichkeit formen helfen.
Sind religiöse Menschen weniger anfällig für seelische Leiden?
Der Glaube ist etwas Geniales. Wer religiös gebunden ist, hat durch die Gemeinschaft eine hohe Sicherheit, aufgefangen zu werden. Aber die Kirche stellt teilweise Sittenregeln auf, die den Menschen unnötig Schuldgefühle macht. Ein anderer Gedanke in der Kirche lautet: Durch Leid kannst du glücklich werden. Das ist das Gegenteil dessen, was ich meinen Patienten beibringe.
Beide begleiten Seelen: Sind Seelsorger und Psychotherapeuten Konkurrenten?
Sie können sich gut ergänzen: Seelsorger sind für Menschen da, die Befindlichkeitsstörungen haben, aber nicht krank sind. Therapeuten sollten sich auf psychisch Kranke konzentrieren.
Wie würden Sie den Seelenzustand der Deutschen beschreiben?
Wir gehen extrem ungesund mit unseren Gefühlen um – ganz nach Kant: Wir tun unsere Pflicht, aber wir genießen nicht. Unser Gesundheitssystem verstärkt die Neigung. In Deutschland gibt es mehr psychosomatische Klinikbetten als im Rest der Welt. Wir nutzen dieses Angebot. Ein Drittel der Patienten hat keine Indikation für eine stationäre Therapie.
Aber es bleiben noch zwei Drittel übrig. Was macht sie krank?
Was wir Deutschen extrem falsch machen: Wir erholen uns nicht in der Freizeit. Der Mensch wird digitalisiert, aber nicht mehr emotionalisiert. Die Leute schalten nicht mehr ab. Sie sind immer online, sie „overloaden“ ihr Hirn. Durch ständige Reize können sie nicht mehr runterschalten. Das macht krank. Wenn wir uns aber gut regenerieren, dann können wir unheimlich viel aushalten.
Wie kann die Gesellschaft den seelischen Kolbenfresser verhindern?
Indem sie mit ihrem ständigen Streben nach Noch-Mehr-Haben-Wollen, Perfektionismus und Optimierung aufhört. Das sind Ansprüche, die zur Ausschüttung von Stresshormonen führen. Wir müssen unser Tempo drosseln und wieder lernen, zufrieden zu sein.
Sind andere Völker glücklicher?
Ja, das hat etwas mit der Sonne zu tun, weil die Menschen mehr draußen sind. Es hat etwas damit zu tun, dass familiäre Strukturen oft noch intakter sind. Und es hat etwas damit zu tun, dass Gehirne unterschiedlich verschaltet werden. Asiaten etwa lernen, das Gesicht zu wahren, keine Emotionen zu zeigen. Ein Italiener ist auf Komplimente verschaltet. Wir haben gelernt „Bescheidenheit ist eine Zier“. Jedes Hirn wird individuell verschaltet. Und so bleibt es ein Leben lang. Therapeuten können Verhaltensweisen überschreiben, aber die Persönlichkeitsprägung ist mit 20 Jahren weitgehend festgelegt und dann nur noch schwer veränderbar.
Ein Gefühl ist Angst: Woher kommt etwa die Angst vor Flüchtlingen?
Es ist die Angst vor dem Fremden, vor anderen Kulturen und Religionen, die wir nicht kennen. Diese Angst wird unterschätzt. Sie entwickelt sich krankhaft, weil die Politik sie nicht ernst nimmt. Wenn ich einen Patienten in seiner Angst nicht ernst nehme, steigert er sich hinein. Das kann bis zur Hysterie führen. Wenn wir Flüchtlinge kasernieren, machen wir alles falsch, was wir falsch machen können. Es ist ein Skandal, dass sie nicht einmal ihre sanitären Räume säubern dürfen. Wenn sie sinnvoll arbeiten könnten, wäre viel gewonnen.
Besonders groß ist die Angst vor kriminellen Flüchtlingen.
Menschen haben Angst vor allem, was kriminell ist, egal aus welchem Land es kommt. Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder ehemalige Kindersoldaten aus Sierra Leone leiden unter Traumata, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Die Lösung liegt nicht darin, dass wir keine Flüchtlinge mehr aufnehmen: Wir müssen nur anders mit ihnen umgehen. Flüchtlinge, die hier strafbar werden, gehören genauso wie Deutsche nach dem Strafrecht verurteilt – oder ausgewiesen.
Was haben Sie damit gemeint, als sie sagten, Mutter Teresa habe mit ihrer Aufopferung vor allem für ihre
eigenen Endorphine gesorgt?
Es ist schön, was Mutter Teresa getan hat und was alle ehrenamtlichen Helfer tun. Ich möchte sie nur nicht heilig sprechen. Es ist unromantisch, das zu sagen: Aber sie tun es, um sich selbst, um ihren biochemischen Haushalt zu stabilisieren. Über das Helfen schütten sie Glückshormone aus. Wir alle brauchen diese Anerkennung. Abends sagen zu können, ich habe so vielen Menschen geholfen, das tut gut.
Interview: Franz Jussen
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