Es ist höchste Zeit, Raubkunst zurückzugebenWährend der Kolonialzeit kamen viele Kunstwerke, religiöse und politische Objekte nach Europa.
Lange weigerten sich die Museen diese zurückzugeben. Forscher wie Bénédicte Savoy setzen sich
dafür ein – und werden angefeindet. Doch „die Zeit des Lügens und Mauerns ist vorbei“, sagt sie. |
Welche Bedeutung hat Kunst für Einzelne und Gesellschaften?
Zunächst zum Begriff Kunst: Er ist nicht auf alle Objekte anwendbar, die in der Kolonialzeit weggekommen sind. Darunter sind religiöse und politische Objekte, aber auch menschliche Schädel. Grundsätzlich ist es so, dass Objekte in der Regel nicht nur Gegenstände sind, wie wir in Europa oft denken, sondern sie haben in vielen Fällen Funktionen eines Subjekts. Sie ordnen die Gesellschaften um sie herum. Man macht etwas mit ihnen. In manchen Regionen spricht man zu ihnen. Wenn sie fehlen, fehlt ein Kristallisationspunkt für viele Handlungen. Ohne die königlichen Gegenstände etwa, die einem Hof weggenommen wurden, können bestimmte Handlungen – wie die Krönung – nicht mehr stattfinden. Oder es sind religiöse Objekte, die für bestimmte Rituale notwendig sind. Sie hinterlassen so etwas wie Phantomschmerzen, wenn sie nicht mehr da sind.
Welche Konsequenzen hat es, dass man sich weigerte, Objekte zurückzugeben?
Es ist ein zwischenmenschlicher Schaden entstanden. Indem man Objekte zurückbehält, verlängert man das koloniale Gehabe. Man setzt eine verachtende Art des Umgangs miteinander fort. Es ist eine Form der Arroganz, die gute zukünftige Beziehungen verhindert.
Kolonialbeamte, Wissenschaftler und das Militär brachten Objekte, die heute in Museen ausgestellt werden, nach Europa. Welche Rolle spielten die Missionare?
Diese Frage verdiente ein ganzes Buch als Antwort. Die Missionare hatten einen privilegierten Zugang zu der lokalen Bevölkerung, mit der sie lebten. Anders als Kolonialbeamte und Soldaten blieben sie oft lange vor Ort, lernten die Sprache, hatten eine besondere Nähe zu den Menschen. Viele Kraftfiguren übergaben die neuen Christen als Beweis ihrer erfolgreichen Bekehrung an den Missionar. Das ist das stereotype Bild, und tatsächlich muss es das so auch gegeben haben. Viel spannender aber ist etwas anderes.
Nämlich?
Dass die Missionare sehr bald von den Museen als Leute erkannt wurden, die Zugang zu tollen Sachen hatten. Die Museen benutzten die Missionare, damit diese sie mit wertvollen Objekten beliefern, und sie bezahlten sie auch.
Könnte die katholische Kirche in der Diskussion um Rückgabe von Objekten und Versöhnung einen Beitrag leisten?
Ja, absolut. Aber es muss ehrlich sein. Ich bin selber christlich erzogen und glaube an Grundsätze wie Nächstenliebe. Wenn mein Kollege Felwine Sarr und ich von einer neuen Ethik der Beziehungen sprechen, dann weisen wir genau auf einen solchen Punkt hin: Wie wollen wir in dieser Welt weiter miteinander umgehen? Und da hat die Kirche ganz bestimmt etwas zu sagen.
Geht sie denn mit gutem Beispiel voran? Der Vatikan hat ja selbst bedeutende Museen mit Objekten aus Übersee...
Er besitzt bestimmt eine der größten und reichsten Missionssammlungen, aber nein: Der Vatikan hat sich bisher komplett aus der Diskussion herausgehalten. Es wäre schön, wenn wir mehr über die Bestände dort wüssten. Aber es gibt keinen Katalog, keine Datenbank, nichts. Als wir begannen, uns mit Restitution (Rückgabe) von Raubkunst zu befassen, habe ich augenzwinkernd gesagt, dass wir auch mit dem Papst reden müssen.
Schon vor 40 Jahren wurde um die Rückgabe kolonialer Raubkunst heftig debattiert, wie Sie in Ihrem Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“ belegen. Sind die Chancen für eine Rückgabe heute besser?
In den 1970er- und 1980er-Jahren waren die Chancen auch nicht schlecht. Die öffentliche Meinung war damals schon sehr offen für Restitutionen. Aber die Museen hatten noch die Möglichkeit zu mauern, Informationen zurückzuhalten, sogar zu lügen – ohne Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Heute ist das anders. Wir finden Möglichkeiten, doch an die Informationen zu kommen.
Wird Deutschland in absehbarer Zeit Kunstwerke zurückgeben?
Ja! Wenn die Wahrheit rauskommt, dann ist es schwierig, nicht mehr zu reagieren. Über Jahre hat Berlin behauptet: Wir haben keine Rückforderungen aus Nigeria, aber es gibt sie seit 1972! Die Verhandlungen mit Nigeria sind gerade sehr beschleunigt worden. Die Treffen auf politischer Ebene, die kürzlich stattgefunden haben, zeigen, dass etwas passieren wird. Es ging im Übrigen nie um die Rückgabe aller Objekte, immer nur um paar wenige mit besonderer Bedeutung für die jeweilige Gemeinschaft.
Ist Deutschland damit Vorreiter?
Nein, der französische Präsident Emmanuel Macron war der Erste, der angekündigt hat, Rückgaben durchführen zu wollen. Danach kamen die Niederlande mit einer guten Handreichung und tatsächlichen Restitutionen. Sie waren unter den Ersten, die erfolgreiche Verhandlungen mit Indonesien geführt haben.
„Das Humboldt-Forum ist wie Tschernobyl. Wie unter einer Bleidecke lagert hier die kontaminierte Vergangenheit.“ Dies waren Ihre Worte 2017 nach dem Austritt aus dem Expertenbeirat des Forums. Welche Wirkung erzielten Sie damit?
Ich wurde massiv angefeindet. Aber es war mir egal, weil ich wusste, mein Kompass ist die historische Wahrheit. Es gibt nicht eine historische Wahrheit, aber es gibt belegte historische Fakten, und die liegen in Archiven. Ich kannte die Archive, und ich kenne sie jetzt noch besser.
Interview: Eva-Maria Werner; Fotos: Jens Büttner/dpa, Antje Berghäuser
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Zur Person
Bénédicte Savoy, 49, ist Professorin für Kunstgeschichte am Collège de France in Paris und an der Technischen Universität Berlin. Als Expertin für koloniale Raubkunst hat sie mit dem senegalesischen Sozialwissenschaftler Felwine Sarr für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine Studie zur möglichen Rückgabe von geraubten Objekten angefertigt.
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