Vom Zauber des Anfangs
Weihnachten erinnert daran, dass am Anfang des Christentums eine Geburt steht. Engagierte Theologinnen arbeiten seit einigen Jahren daran, das Ereignis des Geboren-Werdens und die Erfahrungen von Frauen damit stärker in das Blickfeld der Theologie zu rücken. Sie sind überzeugt: Das Geburtsgeschehen ermöglicht eine Begegnung mit dem Heiligen.
Foto: Fritz Stark
So unterschiedlich ein menschliches Leben auch verlaufen mag, zwei existenzielle Ereignisse umschließen die Lebensspanne, kein Wesen kann sich ihnen entziehen: Geburt und Tod. Der Eintritt in das Leben und der Abschied davon sind nicht nur für jeden einzelnen Menschen bedeutsam, sondern auch für sein direktes Umfeld, für die Gesellschaft und für die Religionen. Traditionelle Bräuche und Riten markieren die Bedeutung dieser menschlichen Grenzerfahrungen, die je nach Kultur, Weltanschauung und Religion unterschiedliches Gewicht bekommen.
Jahrhundertelang hat das christliche Abendland den Fokus stärker auf Tod und Sterben gerichtet, die Erfahrungen rund um die Geburt eher ausgeklammert, aus einer männlichen oder körperfeindlichen Perspektive beschrieben. Noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden Frauen vor dem ersten Messgang nach der Geburt „ausgesegnet“, ein „öffentliches Reinigungsritual“ in der Kirche, das viele Frauen als demütigend empfanden. Dabei hat schon Hildegard von Bingen die Geburt als Schöpfung gewürdigt: „Aus mütterlichem Schoße wird das ganze Menschengeschlecht geboren.“ Die mittelalterliche Mystikerin sieht Gottes Geist und den Körper der Frau gemeinsam am Werk, wenn die Geburt beginnt. Erst in den vergangenen zehn Jahren haben Theologinnen wieder damit begonnen, die Perspektive auf Schwangerschaft und Geburt aus Frauensicht in den Blick zu nehmen und für die Philosophie und Theologie fruchtbar zu machen.
Sie wollen den Fokus stärker auf das Geboren-Sein lenken und weniger die Sterblichkeit des Menschen in den Vordergrund stellen. Das Bild der Mutter alles Lebendigen soll die Vorstellung von der schwachen, sündigen Frau ablösen. Dazu gehört, die Geburtshilfe gegen- über einer medizinisch abgesicherten Geburt zu stärken. Das sind, zusammengefasst, die Hauptanliegen der engagierten Theologinnen. Sie interpretieren die Geburt als Begegnung mit dem Heiligen, als Erfahrung des Göttlichen, als spirituelles Ereignis und philosophische Erkenntnisquelle.
In guten Händen: Hebammen begleiten die gebärdenden Frauen oft sehr einfühlsam. Foto: Nissen/laif
Ich kann das Wunder selbst erleben
„Ja“, bestätigt Nicole Stockschlaeder, Pastoralreferentin im Bistum Trier, „die Erfahrung einer Geburt ist für Frauen eine außerordentliche Grenzerfahrung. Das Wunder der Menschwerdung wird dabei greifbar. Als Gebärende kann ich das Wunder selbst erleben. Ich kann zwar, wie bei der Spontangeburt meiner Tochter, selbst etwas dazu beitragen, erlebe den ganzen Vorgang aber trotzdem als sehr zerbrechliche Angelegenheit, bei der auch noch ganz entscheidend ein anderer mitwirkt.“ Sich selbst schöpferisch am Entstehen eines neuen Lebens zu beteiligen und sich trotzdem ganz hingeben müssen, ohne zu wissen, welchen Ausgang die Geburt nimmt – denn es ist immer ein Ereignis an der Schwelle zwischen Leben und Tod –, das sind Erfahrungen, die das ganze Leben bereichern können. Die Pastorin und Autorin Hanna Strack, die viele Interviews mit Müttern und Hebammen ausgewertet hat, schreibt, dass die Frau im „Kraftakt Geburt“ eine bis dahin nie gekannte Stärke in sich entdecken und eine Energie erleben kann, die über die eigene Person hinausreicht. „Eine Erfahrung allerdings, die mir bei der Kaiserschnitt-Geburt unseres Sohnes gefehlt hat“, sagt Nicole Stockschlaeder. „Da konnte ich selbst nicht mitwirken, habe mich ganz in die OP-Hände geben müssen.“ Ob eine Geburt tatsächlich als ein spirituelles Ereignis erlebt werden kann, hängt also ganz entscheidend von äußeren Faktoren ab. Prekäre, lebensbedrohliche Geburten in Entwicklungsländern oder hoch technisierte in Industrieländern können positive Geburtserlebnisse verhindern. „Vor 30 Jahren hatten wir nur bei fünf Prozent aller Geburten Kaiserschnitte, heute schon bei 30 Prozent“, sagt Stani Faber, leitende Hebamme im Klinikum „Marienhof“ in Koblenz. „Die Tendenz, spontan zu entbinden, geht zurück. Grund ist eine übergroße Vorsicht beim medizinischen Fachpersonal. Ich bedauere das sehr.“
Die Beteiligten an einer Geburt wissen nur zu gut um die Gefahren, Enttäuschungen und auch Schicksalsschläge, die damit verbunden sein können, schließlich kann sich im Körper der Frau nicht nur Leben, sondern auch Sterben ereignen. Sie sind deshalb weit davon entfernt, die Geburt verklären zu wollen. Trotzdem hat der Geburtsschmerz in den vergangenen Jahren eine neue Deutung erfahren.
Behütet: Neugeborenes in Bangladesch. Foto: mauritius images
Schmerzen zum Leben hin
Der alten Vorstellung, wonach die sündige Frau als Strafe unter Schmerzen gebären muss, setzte die bekannte Theologin Dorothee Sölle eine neue Deutung gegenüber: Sie versteht die Geburtsschmerzen als Schmerzen zum Leben hin. Darin können Kraft und Energie erfahren werden, sie bekommen Sinn, wenn die Frau sie als „Zeichen der Gegenwart Gottes“ erleben kann. Nicole Stockschlaeder sagt: „Der Geburtsschmerz, der plötzlich umschlägt in Euphorie und dabei Adrenalin freisetzt, ist kaum zu fassen und zu beschreiben, wenn man ihn nicht selbst erlebt hat.“ Doch auch, wer eine Geburt nicht am eigenen Leib erfahren habe, kann verstehen, dass sich dabei etwas ganz Besonderes ereigne. Für viele Männer ist das Miterleben der Geburt der intensivste Moment ihres Lebens. Jeder Mensch, der ein neugeborenes Kind in den Händen hält, spürt die Veränderung, die dies in ihm auslöst. „Wir erleben den Schmerz, sind angespannt, später auch erleichtert. Denn jedes Leben ist so kostbar, das wollen wir nicht verlieren“, sagt die missionsärztliche Schwester Walburga Küppers, die viele Jahre als Hebamme in Äthiopien gearbeitet hat. Auch Stani Faber, die schon mehr als 4000 Kinder „auf die Welt gebracht“ hat, sagt, dass sie sich während der Arbeit im Kreißsaal „ganz nah dran am Leben fühlt“. „Eigene Probleme oder Dinge, die vorher extrem wichtig erschienen, relativieren sich angesichts des Geburtsgeschehens mit all seinen Höhen und Tiefen.“ Und der katholische Theologe Burkhard R. Knipping, Vater von vier Kindern, formuliert seine Empfindungen so: „Ich konnte als Vater dazu beitragen, dass das Leben vier neue Gestalten bekam. Als Mensch habe ich ein winziges Quentchen teilgehabt am Schaffen und Werden eines Lebens. Diese Entdeckung ist erschütternd und ergreifend.“
Geburt spiegelt ein Grundmuster des Lebens: Beziehung. Nicht nur, was zwischen Mutter und Kind geschieht, ist dabei bedeutsam: Väter, Hebammen und andere wichtige Bezugspersonen können eine Geburt als Schicksals-Gemeinschaft erleben, die Ängste und Freude teilt, sich gegenseitig stärkt und trägt. „Meine Hebamme hat mich regelrecht durch die Geburt gecoacht. Alles war stimmig, ich konnte ihr vertrauen. Sie hat mich unheimlich motiviert“, sagt Nicole Stockschlaeder. Stani Faber möchte als Hebamme nicht nur unter dem Dienstleistungsaspekt gesehen werden. „Den Erfolg unserer Arbeit nur an der Geburtenzahl festzumachen, greift zu kurz“, sagt sie. „Wir leisten wichtige Beziehungsarbeit, begleiten die Frauen in einem umfassenden körperlichen und seelischen Prozess. Unsere Hände empfangen das Neugeborene zuerst, wir sind selbst emotional am Geschehen beteiligt, schaffen eine Atmosphäre, in der die tiefsten Gefühle überhaupt erlebt werden können.“ Häufig sei sie auch als Gesprächspartnerin gefragt, denn die Ausnahmesituation Geburt schaffe eine große Verbundenheit zwischen Hebamme und gebärender Frau. An der Grenzsituation des Lebens käme sehr Persönliches zur Sprache. „Ich erfahre viel über das Leben der Frauen: Beziehungsprobleme, ihr Verhältnis zu den eigenen Eltern, über die Gedanken hinsichtlich des Kindes, das sich gerade seinen Weg in die Welt bahnt.“ Hebamme sein bedeute also auch enge Begleiterin, Vertraute, ja sogar manchmal Seelsorgerin sein.
Zeichen der Hoffnung: Suline Lenon bringt kurz nach dem Erdbeben in Haiti ein Mädchen zur Welt. Foto: Matthew Mc Dermott/laif
Jedes Kind ist ein Weltenkind
Für die Kirche und die Theologie ist es eine Bereicherung, wenn all diese Aspekte des Geburtsgeschehens benannt, gewürdigt und integriert werden, zeigt sich die Theologin Hanna Strack überzeugt. Schließlich stehe am Anfang der Geschichte von Gottes Sohn mit den Menschen eine Geburt! Der Neuanfang und die Hoffnung, die Jesu Geburt an Weihnachten mit sich bringt, sei mit jeder Geburt neu gegeben, meint Strack.
Jede Mutter wiederhole mit jeder Geburt das Urmysterium der Schöpfung. Insofern könne die Frau „Mit-Schöpferin“ genannt werden, wenn Schöpfung nicht als einmaliger Akt, sondern immerwährende Neuschöpfung verstanden werde. Gott habe seinen Sohn durch eine Frau auf die Welt kommen lassen, das gebe der Frau und dem Geburtsgeschehen eine ganz eigene Würde. Mit der Geburtsgeschichte Jesu wird jedes Ankommen eines Kindes in der Welt immer neu zu einem Ort für Gottes Handeln, wo Gott Frauen und Männer an seinem Schöpfungshandeln teilhaben lässt. „Jedes Kind“, so drückt es Hebamme Walburga Küpper aus, „wird nicht nur in seine Familie hineingeboren. Es ist ein Weltenkind. Im Kreißsaal des Krankenhauses in Attat, Äthiopien, hing ein Spruch: Jede Geburt ist ein Zeichen dafür, dass Gott die Lust am Menschen noch nicht verloren hat.“ Im Kind offenbart sich göttliches Handeln. Umgekehrt erfährt das Neugeborene durch die Zärtlichkeit und Zuwendung der Mutter etwas von der Liebe Gottes. „Ich denke, die Mutter ist ein Medium für Gott, um seine mütterliche Liebe zu zeigen“, sagt die Missionsärztliche Schwester.
Es gibt in der Bibel Passagen, in denen Gott im Bild der Hebamme (Ps 22,10), im Bild einer Gebärenden (Jes, 42,14) oder als Mutter (Jes 66,13) beschrieben wird. Es ist das Verdienst der feministischen Theologie, dass sie diese Gottesbilder wieder entdeckt und ins Gespräch gebracht hat. Frauen können sich mit ihren Lebenserfahrungen darin wiederfinden. Sie, die durch ihre Geburtserlebnisse eine neue Dimension des Heiligen kennengelernt haben: Das Heilige ist da, wo Leben ist. Wo tiefer Schmerz und größte Freude aufeinandertreffen. Das Heilige ist etwas Besonderes, etwas zu Behütendes. Und es ist universell erfahrbar: in der ärmsten Hütte ebenso wie im modernsten Kreißsaal.
Von Eva-Maria Werner
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