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Das Schwei­gen der Män­ner

Nicht nur Min­der­jäh­ri­ge wer­den von Pries­tern und Bi­sc­hö­fen se­xu­ell miss­braucht – auch Or­dens­frau­en. Wie­der sind die Ver­b­re­chen der Kir­che seit Jahr­zehn­ten be­kannt, und wie­der hat sie ge­schwie­gen.
Stim­men zu ei­nem Skan­dal, der erst lang­sam ans Licht kommt.

Text: Bea­trix Gram­lich
Fo­to: Khan/Get­ty Ima­ges


Es geht um ei­nes der best­ge­hü­te­ten Ge­heim­nis­se im Va­ti­kan: den Miss­brauch von Or­dens­frau­en. Auf dem Rück­flug von Abu Dha­bi im Fe­bruar räum­te Papst Fran­zis­kus ein, dass sich Geist­li­che an Schwes­tern ver­gin­gen. Sein Ein­ge­ständ­nis war ein Ta­bu­bruch – ähn­lich wie 2010, als der Je­suit und Lei­ter des Ber­li­ner Ca­ni­si­us Kol­legs, Klaus Mer­tes, den Miss­brauch von Min­der­jäh­ri­gen in der Kir­che öf­f­ent­lich mach­te. Auch der neue Skan­dal, um den es hier geht, ist in Rom lan­ge be­kannt: Schon in den 1990er-Jah­ren mach­ten die Be­ne­dik­ti­ne­rin Es­ther Fang­man, Ma­rie Mc­Do­nald von den Mis­si­ons­schwes­tern Un­se­rer Lie­ben Frau von Afri­ka (Wei­ße Schwes­tern) und Schwes­ter Mau­ra O’Do­no­hue von den Me­di­cal Mis­sio­na­ries of Ma­ry dar­auf auf­merk­sam, was sich hin­ter Klos­ter- und Kir­chen­mau­ern ab­spiel­te. Die Ärz­tin hat­te wäh­rend ih­rer Ar­beit in afri­ka­ni­schen Län­dern im­mer wie­der er­lebt, dass Or­dens­frau­en von Pries­tern miss­braucht wor­den wa­ren.

Wie un­längst der Ar­te-Film „Got­tes miss­brauch­te Die­ne­rin­nen“ do­ku­men­tier­te, ver­an­lass­te das Aus­maß und die Schwe­re der Ver­b­re­chen sie, Fak­ten zu sam­meln und dem Va­ti­kan 1995 ei­ne um­fang­rei­che Stu­die vor­zu­le­gen. Auch die bei­den an­de­ren Or­dens­frau­en in­for­mier­ten den da­ma­li­gen Vor­sit­zen­den der Kon­g­re­ga­ti­on für die In­sti­tu­te des ge­weih­ten Le­bens, Edu­ar­do Mar­tí­nez So­ma­lo, aus­führ­lich über das Pro­b­lem. Ih­re Be­rich­te schil­dern kei­nes­wegs nur die Ta­ten Ein­zel­ner, viel­mehr be­sch­rei­ben sie ei­nen „weit­ver­b­rei­te­ten Miss­brauch” von Or­dens­schwes­tern durch Pries­ter.

Da ist die Re­de von Seel­sor­gern, die fürch­ten, sich bei an­de­ren Frau­en mit dem HI-Vi­rus zu in­fi­zie­ren, und Or­dens­frau­en als si­che­re Al­ter­na­ti­ve be­trach­ten. Von Pries­tern, die se­xu­el­le Ge­fäl­lig­kei­ten als Ge­gen­leis­tung für Emp­feh­lungs­sch­rei­ben er­zwin­gen, die die Or­den drin­gend be­nö­t­i­gen. Von ei­ner Ge­mein­schaft in Mala­wi, in der 29 Schwes­tern von Diözes­an­pries­tern schwan­ger ge­wor­den sei­en. Auf die Be­schwer­de der Obe­rin rea­gier­te der Orts­bi­schof promt – mit de­ren Ab­set­zung. Die Tä­ter in­des hat­ten nicht viel zu be­fürch­ten: In den meis­ten Fäl­len wur­den sie le­dig­lich er­mahnt oder ver­setzt, wäh­rend die schwan­ge­ren Or­dens­frau­en ab­t­rei­ben oder ih­re Ge­mein­schaf­ten ver­las­sen muss­ten und als mit­tel­lo­se Müt­ter oft in exis­ten­zi­el­le Not­la­gen ge­rie­ten. Die Be­rich­te be­nen­nen Vor­fäl­le in 23 Län­dern – nicht nur in Afri­ka, son­dern un­ter an­de­rem auch in den USA, Bra­si­li­en, In­di­en, Ir­land und Ita­li­en.

Erst als 2001 der US-ame­ri­ka­ni­sche Na­tio­nal Ca­tho­lic Re­por­ter und die New York Ti­mes das The­ma pu­bik mach­ten, rea­gier­te der Va­ti­kan. Über sei­nen da­ma­li­gen Pres­se­sp­re­cher Jo­aquín Na­var­ro-Valls ließ er er­klä­ren, das Pro­b­lem be­schrän­ke sich auf ei­nen klei­nen geo­gra­phi­schen Raum. Man ar­bei­te an der Auf­klär­ung der Vor­fäl­le und wol­le die Aus­bil­dung vor Ort ver­bes­sern. Doch Miss­brauch be­schränkt sich nicht auf se­xu­el­le Hand­lun­gen. Er be­ginnt viel früh­er: Da, wo die Wür­de und das Selbst­be­stim­mungs­recht des an­de­ren igno­riert wer­den, um die ei­ge­nen Be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen. Wo der an­de­re nicht als eben­bür­ti­ger Mensch be­trach­tet wird, son­dern als Ob­jekt. Auch das ist für Or­dens­frau­en nichts Un­be­kann­tes. Vie­le gut aus­ge­bil­de­te Schwes­tern ver­rich­ten bei Pries­tern, Bi­sc­hö­fen und Kar­di­nä­len nie­de­re Di­ens­te. Sie ko­chen, put­zen, wa­schen, bü­geln – häu­fig oh­ne ge­re­gel­te Ar­beits­zeit und oh­ne Be­zah­lung. Wer glaubt, sol­che Ver­hält­nis­se fän­den sich nur in Afri­ka, Asi­en oder Latei­na­me­ri­ka, der irrt. Auch in Ita­li­en sind sie gang und gä­be. „Ich ha­be Schwes­tern ken­nen­ge­lernt, die in Theo­lo­gie pro­mo­viert wa­ren und von heu­te auf mor­gen aus­ge­sandt wur­den, um zu ko­chen oder Ge­schirr zu spü­l­en“, be­rich­tet ei­ne Or­dens­frau im Os­ser­va­to­re Ro­ma­no. „Man­che Or­dens­frau­en wer­den als Eh­renamt­li­che be­trach­tet, über die man nach Be­lie­ben ver­fü­gen kan­n“, sagt ei­ne an­de­re. Da­hin­ter ste­he häu­fig ein fal­sches Ver­ständ­nis von die­nen.

„Das Heil der See­len muss in der Kir­che im­mer obers­tes Ge­setz sein“, heißt es im kirch­li­chen Ge­setz­buch. Wie passt da­zu, dass Bi­sc­hö­fe und Kar­di­nä­le se­xu­el­len Miss­brauch jah­re­lang ver­tuscht und ver­schwie­gen, dass sie die Tä­ter und nicht die Op­fer ge­schützt ha­ben? Zwar gibt es in un­se­rem Rechts­sys­tem kei­ne Pf­licht, Straf­ta­ten an­zu­zei­gen. Doch se­xu­el­le Nö­t­i­gung und Ver­ge­wal­ti­gung sind kei­ne Ba­ga­tell­de­lik­te. Es sind Ver­b­re­chen, die in Deut­sch­land mit ei­nem Frei­heits­ent­zug von sechs Mo­na­ten bis zu zehn Jah­ren be­straft wer­den. Wie konn­te die Kir­che sol­che Ver­ge­hen de­cken?

Es scheint, die Sor­ge um das An­se­hen der In­sti­tu­ti­on gilt vie­len Amts­trä­gern im­mer noch mehr als das Wohl des Ein­zel­nen. Doch wenn Kir­che sich von die­sem Den­ken nicht löst, ge­nügt sie ih­ren ei­ge­nen An­sprüchen nicht und ver­rät die Nächs­ten­lie­be. Der Miss­brauch von Or­dens­schwes­tern und der Um­gang da­mit wirft nicht zu­letzt ein Licht auf Macht, Ab­hän­gig­kei­ten und die Rol­le der Frau in der Kir­che.

„Die Zeit ist reif für Ve­r­än­de­rung“, sagt Schwes­ter Ruth Sc­hö­nen­ber­ger, Prio­rin der Mis­si­ons-Be­ne­dik­ti­ne­rin­nen von Tut­zing ge­gen­über kon­ti­nen­te. „Was jetzt ans Licht kam, sp­rengt mein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen völ­lig. Da hel­fen nicht nur klei­ne Ve­r­än­de­run­gen, wir müs­sen die
Pro­b­le­me an der Wur­zel pa­cken. Am wich­tigs­ten er­scheint mir, dass wir das Got­tes- und Men­schen(Frau­en)-Bild von al­lem rei­ni­gen, was nicht dem von Je­sus Chris­tus ent­spricht. Es gilt, die Hal­tung des Die­nens wir­k­lich zu le­ben.“


Schwes­ter Car­men Sam­mut, 67,
Vor­sit­zen­de der In­ter­na­tio­na­len Ve­r­ei­ni­gung der Ge­ne­ra­l­obe­r­in­nen (UISG) so­wie Ge­ne­ra­l­obe­rin der Mis­si­ons­schwes­tern Un­se­rer Lie­ben Frau von Afri­ka, Wei­ße Schwes­tern.

Fo­to: pri­vat

Sch­reck­li­che Ver­b­re­chen
Ge­ne­ra­l­obe­r­in­nen wol­len Ta­bu bre­chen

Die Ge­ne­ra­l­obe­r­in­nen der Or­den sind sich sehr wohl be­wusst, dass Miss­brauch auf viel­fäl­ti­ge Art und Wei­se statt­fin­det. Wir sind em­pört und ma­chen uns gro­ße Sor­gen über die Miss­brauchs­struk­tu­ren, die heu­te in Kir­che und Ge­sell­schaft ver­b­rei­tet sind. Wir sind ge­gen je­de Form von Miss­brauch, ob se­xu­el­ler, ver­ba­ler, kör­per­li­cher, emo­tio­na­ler oder geis­ti­ger Art . Dies ha­ben wir in ei­ner ge­mein­sa­men Er­klär­ung mit den Ge­ne­ral-obe­ren be­kräf­tigt.
Se­xu­el­ler Miss­brauch ist ein sch­reck­li­ches Ver­b­re­chen, das das Le­ben ei­nes Men­schen rui­niert. Wenn dies durch ei­nen Pries­ter oder Geist­li­chen ge­schieht, hat es noch viel grö­ße­re Aus­wir­kun­gen auf die Psy­che, weil das Op­fer ein qua­si un­er­schüt­ter­li­ches Ver­trau­en in die­se Per­son hat­te, die er oder sie als ei­ne Ver­t­re­tung Got­tes ge­se­hen hat. Die Ver­let­zung ist um­so grö­ß­er.

Wir ha­ben 2018 un­se­re 1900 Or­den welt­weit er­mu­tigt, uns Fäl­le von Miss­brauch zu mel­den, ein­sch­ließ­lich des Miss­brauchs von Schwes­tern. Bis­lang ha­ben wir we­ni­ge Ant­wor­ten er­hal­ten. Wir wis­sen nicht ge­nau, warum. Wahr­schein­lich ist es in vie­len Kul­tu­ren im­mer noch ein gro­ßes Ta­bu, über se­xu­el­len Miss­brauch zu sp­re­chen, vor al­lem, wenn es sich um Miss­brauch han­delt, der von be­son­ders ge­ach­te­ten Per­so­nen ver­übt wur­de. Ich selbst weiß aber von vie­len Fäl­len der Be­läs­t­i­gung von Or­dens­frau­en durch den Kle­rus. Oft nut­zen Pries­ter, Se­mi­na­ris­ten oder Brü­der da­bei ih­re Macht und ei­ne ge­wis­se Nai­vi­tät, oft auch die fi­nan­zi­el­le Ab­hän­gig­keit ih­rer Op­fer aus, um sie zu kö­d­ern.
Um Miss­brauch zu ver­mei­den, müs­sen wir un­se­re Aus­bil­dung­s­pro­gram­me über­prü­fen und
si­cher­s­tel­len, dass Män­ner und Frau­en ei­ne gu­te Aus­bil­dung er­hal­ten. An­ge­sichts ei­ner kle­ri­kal-
hier­ar­chi­schen Struk­tur müs­sen wir da­für sor­gen, dass Frau­en gleich­be­rech­tigt an den
Ent­schei­dun­gen in den Ge­mein­den und Ge­mein­schaf­ten teil­neh­men. Wir le­ben in die­ser Hoff­nung.


Do­ris Rei­sin­ger, geb. Wag­ner, 36 ist stu­dier­te Theo­lo­gin und Phi­lo­so­phin. Sie er­litt spi­ri­tu­el­len und se­xu­el­len Miss­brauch in der „Geist­li­chen Fa­mi­lie Das Wer­k“.

Fo­to: pri­vat

Kom­p­let­te Selbst­auf­ga­be
Struk­tu­ren, die Men­schen zu Op­fern ma­chen

Warum sind Sie zum Op­fer ge­wor­den? Wel­che Struk­tu­ren ha­ben dies be­güns­tigt?
Es gibt im Kir­chen­recht - und spe­zi­ell im Or­dens­recht - ei­ni­ge sehr ver­nünf­ti­ge Prin­zi­pi­en, die Or­dens­leu­ten Rechts­si­cher­heit ge­ben und ih­re per­sön­li­che Frei­heit und Selbst­be­stim­mung schüt­zen. Da­zu ge­hört bei­spiels­wei­se das Recht auf die freie Wahl des Beicht­va­ters und ganz ge­ne­rell die Frei­heit in Be­zug auf das Bußsa­kra­ment und die geist­li­che Be­g­lei­tung. Da­zu ge­hört auch ei­ne an­ge­mes­se­ne Aus­bil­dung und an­ge­mes­se­ner Raum für Er­ho­lung. Lei­der wer­den die­se Prin­zi­pi­en in vie­len Ge­mein­schaf­ten ver­letzt. Für mich und mei­ne Mit­schwes­tern war die Obe­rin, No­vi­zen­meis­te­rin und geist­li­che Be­g­lei­te­rin ein und dies­sel­be Per­son. Zu­g­leich war sie die ers­te Rat­ge­be­rin der Ge­ne­ra­l­obe­rin, die ih­re Tan­te war - wäh­rend der leib­li­che Bru­der un­se­rer Obe­rin un­ser Beicht­va­ter war. Da­zu kam ein Kon­zept des ge­weih­ten Le­bens, das In­di­vi­dua­li­tät, per­sön­li­che Wün­sche und Be­ga­bun­gen sys­te­ma­tisch ab­ge­wer­tet hat. Schwes­tern, die sehr in­tel­li­gent und viel­fach be­gabt wa­ren, muss­ten be­reit sein, ger­ne ihr Le­ben lang zu put­zen und Ge­schirr zu spü­len. Dass ei­ne Schwes­ter Wün­sche äu­ßert oder Gren­zen setzt und Selbst­be­stim­mung oder Frei­zeit ein­for­dert, war ab­so­lut un­denk­bar. Auch der evan­ge­li­sche Rat der Ehe­lo­sig­keit wur­de stark ideo­lo­gisch über­höht. Selbst Freund­schaf­ten un­ter Mit­schwes­tern wa­ren ver­bo­ten. Da­hin­ter stand die Vor­stel­lung, dass je­de Art von „men­sch­li­cher Zu­nei­gung“ als Kon­kur­renz oder Ge­fahr für die Lie­be zu Je­sus be­trach­tet wur­de. Wer so lebt, wird sehr leicht zum Op­fer, denn al­les das, was ei­nen vor se­xu­el­len Über­grif­fen schüt­zen könn­te - Selbst­be­wusst­sein, Selbst­be­stim­mungs­rech­te und tra­gen­de Be­zie­hun­gen zu Men­schen, de­nen man et­was be­deu­tet - fehlt.

Warum ha­ben Sie so lan­ge ge­schwie­gen?
Zwei Jah­re nach­dem ich ver­ge­wal­tigt wor­den bin, ha­be ich mei­ner Obe­rin da­von er­zählt. Die meis­ten Be­trof­fe­nen, die ich in­zwi­schen ken­nen­ge­lernt ha­be, brau­chen sehr viel län­ger. Als ich mei­ner Obe­rin da­von er­zählt ha­be, hat sie al­ler­dings nicht gut rea­giert: Sie hat mich mi­nu­ten­lang an­ge­schri­en. Dann hat sie mir "ver­ge­ben" und das Ge­spräch be­en­det. Die Ge­ne­ra­l­obe­rin hat ein we­nig ge­weint und ge­sagt, dass sie von mir ent­täuscht wä­re. Der Ge­ne­ra­l­obe­re der Män­ner wie­der­um hat sich bei mir ent­schul­digt und ge­sagt, ich sol­le jetzt nicht mehr da­ran den­ken, er wür­de für den Mit­bru­der, der mich ver­ge­wal­tigt hat­te, be­ten. Das schi­en ihm zu ge­nü­gen. Ich ha­be dann noch ein Jahr ge­braucht be­vor ich aus­ge­t­re­ten bin. Nach dem Au­s­tritt ha­be ich, ge­mein­sam mit vier an­de­ren Ex-Mit­g­lie­dern die­ser Ge­mein­schaft, und mit Hil­fe ei­ner Kir­chen­recht­le­rin, nach Rom ge­schrie­ben. Dar­auf­hin gab es re­la­tiv sch­nell ei­ne Päpst­li­che Vi­si­ta­ti­on. Se­xu­el­le Über­grif­fe wa­ren al­ler­dings aus­drück­lich nicht Teil der Un­ter­su­chung, wes­halb weiß ich nicht. Und nach der Vi­si­ta­ti­on gab es nie ein of­fi­zi­el­les Sta­te­ment aus Rom. Mit uns Ex-Mit­g­lie­dern hat nie­mand aus Rom, ab­ge­se­hen vom Vi­si­ta­tor, je­mals Kon­takt auf­ge­nom­men. Weil ich dach­te: Wenn Rom nichts macht, bin ich in der Pf­licht, an­de­re jun­ge Men­schen zu war­nen, bin ich an die Öf­f­ent­lich­keit ge­gan­gen. Mitt­ler­wei­le ha­ben mei­ne Tä­ter sich ei­nen teu­ren An­walt ge­nom­men ha­ben, um Jour­na­lis­ten zu ver­kla­gen, die mich in­ter­viewt ha­ben.

Was müss­te pas­sie­ren, da­mit Fäl­le se­xu­el­len Miss­brauchs nicht mehr vor­kom­men?
Ers­tens müss­ten die Be­stim­mun­gen im Kir­chen­recht, die die in­ne­re Frei­heit, die Rechts­si­cher­heit und Selbst­be­stim­mung von Or­dens­leu­ten schüt­zen, ernst­ge­nom­men wer­den. Zwei­tens müss­te auch aus Rom Sor­ge ge­tra­gen wer­den, dass Idea­le des ge­weih­ten Le­bens, die auf ei­ne kom­p­let­te Selbst­auf­ga­be hin­aus­lau­fen, nicht wei­ter pro­pa­giert wer­den.
Sch­ließ­lich muss end­lich über se­xu­el­len Miss­brauch von Er­wach­se­nen im All­ge­mei­nen und Or­dens­leu­ten im Be­son­de­ren auf­ge­klärt wer­den. Ich ha­be im ver­gan­ge­nen Jahr in den Stim­men der Zeit ei­nen Ar­ti­kel da­zu ge­schrie­ben, nach­dem ich mo­na­te­lang re­cher­chiert hat­te. Der Be­fund ist un­ge­heu­er er­sch­re­ckend. Es bräuch­te ei­ne gut auf­ge­s­tell­te Task For­ce, die die­ses Pro­b­lem in sei­ner gan­zen Kom­ple­xi­tät und Brei­te an­geht, ju­ris­tisch, kir­chen­recht­lich, or­ga­ni­sa­ti­ons­theo­re­tisch, psy­cho­lo­gisch und theo­lo­gisch. Sch­ließ­lich braucht es auch ei­ne Ver­fol­gung der be­kann­ten Straf­ta­ten und ei­ne an­ge­mes­se­ne Ent­schä­d­i­gung für Op­fer.

In­ter­view: Eva-Ma­ria Wer­ner


Pa­ter Lu­do­vic La­do, 48
Je­suit, So­zial­wis­sen­schaft­ler, und Di­rek­tor des In­sti­tuts für Aus­bil­dung und Ent­wick­lung CE­FOD in N’Dja­me­na, Tschad

Fo­to: pri­vat

Se­xua­li­tät ist ein Ta­bu
De­fi­zi­te in der Aus­bil­dung von Pries­tern

Die enor­me Me­di­en­prä­senz auf se­xu­el­len Miss­brauch durch ka­tho­li­sche Pries­ter lässt auch die ka­tho­li­sche Kir­che in Afri­ka nicht gleich­gül­tig, aus zwei Grün­den:
Zum ei­nen ist sie ge­n­au­so be­sorgt wie al­le an­de­ren Kir­chen, zum an­de­ren führt die­ser Skan­dal zu De­bat­ten inn­er­halb und au­ßer­halb der Kir­che über die Se­xua­li­tät von Pries­tern und über die Mit­tel und We­ge, sol­che Miss­brauchs­fäl­le zu­künf­tig zu ver­hin­dern.

Die Kir­che in Afri­ka ist dar­über be­sorgt, denn per­ver­se Pries­ter trifft man übe­rall, selbst wenn der Um­fang des Phä­no­mens nicht übe­rall der­sel­be ist. Of­fen­sicht­lich gibt es aber Bi­sc­hö­fe, die ri­go­ro­ser mit dem The­ma um­ge­hen als an­de­re. Ge­schich­ten über den Aus­tausch se­xu­el­ler Ge­fäl­lig­kei­ten zwi­schen Pries­tern und Frau­en, sei­en es ju­gend­li­che oder er­wach­se­ne Frau­en, Or­dens­frau­en oder Lai­en, sind in un­se­ren Ge­mein­den und Diöze­sen kei­ne Sel­ten­heit und bie­ten inn­er­halb wie au­ßer­halb der Kir­che Ge­sprächs­stoff. In die­sen Zu­sam­men­hang muss man die se­xu­el­len Miss­brauchs­fäl­le ein­ord­nen und da­bei be­den­ken, dass die Un­ter­schei­dung zwi­schen Miss­brauch und ein­ver­nehm­li­chem Sex zwi­schen Er­wach­se­nen oft schwer ist. So­lan­ge sich die Op­fer nicht be­schwe­ren – und das tun sie sel­ten – ist es schwie­rig dar­aus ei­nen Fall zu ma­chen. Und wenn es we­ni­ge Be­schwer­den gibt, liegt das häu­fig da­ran, dass die Op­fer nicht si­cher sind, ob sie bei den kirch­li­chen Au­to­ri­tä­ten ein of­fe­nes Ohr fin­den. Es stimmt, dass es kei­ne zu­ver­läs­si­gen Sta­tis­ti­ken über das Aus­maß se­xu­el­len Miss­brauchs in der afri­ka­ni­schen Kir­che gibt, denn De­lik­te von Pries­tern wer­den un­durch­sich­tig und in­tran­s­pa­rent be­han­delt. In den meis­ten Fäl­len aber liegt die Wur­zel des Pro­b­lems in der wirt­schaft­li­chen Ab­hän­gig­keit der Op­fer – sei­en sie min­der­jäh­rig oder er­wach­sen – ge­gen­über Pries­tern.

Ich wür­de drei Be­rei­che iden­ti­fi­zie­ren, um nach Lö­sun­gen zu su­chen: Zu­erst stellt sich die Fra­ge der emo­tio­na­len Rei­fe der Pries­ter, die sehr schwer zu be­ant­wor­ten ist. Aus Er­fah­rung kann ich sa­gen, dass nichts in der Pries­ter­aus­bil­dung dar­auf vor­be­rei­tet, wie man mit sei­nem se­xu­el­lem Trieb im Zö­li­bat um­ge­hen kann. Was macht ein Pries­ter, wenn er sei­nen Trieb nicht be­herr­schen kann? Das ist ein Ta­bu. Da­mit muss je­der al­lei­ne klar­kom­men. Und das kann per­ver­se For­men an­neh­men. Er wird sich mit der Ent­my­s­ti­fi­zie­rung au­s­ein­an­der set­zen müs­sen, da­mit er sei­ne Men­sch­lich­keit an­neh­men kann, und das be­in­hal­tet auch den se­xu­el­len Be­reich. Ein Pries­ter tä­te gut da­ran, den My­thos um ihn als Geist­li­chen auf­zu­ge­ben, da­mit er sei­ne Men­sch­lich­keit an­neh­men kann – und das be­in­hal­tet auch den se­xu­el­len Be­reich. Ein Pries­ter ist kein „Über-Men­sch“. Zwei­tens ist das Pro­b­lem struk­tu­rell: die hier­ar­chi­sche Kir­che muss sich än­dern, um ei­ne Kul­tur des Mit­ge­fühls an­zu­neh­men. Es braucht Tran­s­pa­renz und Ge­rech­tig­keit in der Au­f­ar­bei­tung von Straf­ta­ten, die von Pries­tern be­gan­gen wur­den –nicht nur von se­xu­el­len De­lik­ten. Für den spe­zi­el­len Fall von Or­dens­frau­en muss man da­ran ar­bei­ten, dass sie wirt­schaft­lich un­ab­hän­gi­ger wer­den, aber vor al­lem muss man Räu­me schaf­fen, in de­nen miss­brauch­te Or­dens­frau­en ein of­fe­nes Ohr für ihr Leid fin­den.

Prälat Klaus Krämer, Präsident von missio Aachen. Foto: missio

Klaus Krä­m­er, 55
Prä­si­dent des
Päpst­li­chen Mis­si­ons­werks mis­sio in Aa­chen

Fo­to: pri­vat

Präv­en­ti­on durch Bil­dung
Op­fern hel­fen, Pries­ter­aus­bil­dung ver­bes­sern

Als ka­tho­li­sches Hilfs­werk mis­sio Aa­chen sind wir Pro­jekt- und Aus­bil­dung­s­part­ner der Orts­kir­chen und Or­den in Afri­ka, Asi­en und Ozea­ni­en. An­ge­sichts des sch­reck­li­chen Miss­brauchs von Or­dens­frau­en durch Kle­ri­ker ha­ben und brau­chen un­se­re Part­ner in be­son­de­rer Wei­se un­se­re emo­tio­na­le So­li­da­ri­tät und pro­fes­sio­nel­le Hil­fe. Das gilt zu­erst für die Op­fer se­xua­li­sier­ter Ge­walt. Hier un­ter­stüt­zen wir Ein­rich­tun­gen, die be­trof­fe­ne Or­dens­frau­en the­ra­peu­tisch be­g­lei­ten. Gleich­zei­tig för­dern wir die Aus­bil­dung von Fach­per­so­nal für die­se Ar­beit. Da­bei ar­bei­ten wir et­wa mit In­sti­tu­ten in Ni­ge­ria, Tan­sa­nia, den Phi­l­ip­pi­nen, In­di­en, Chi­na oder Ka­na­da zu­sam­men.

Ein wich­ti­ger Bau­stein für die Präv­en­ti­on des Miss­brauchs von Or­dens­frau­en ist de­ren Aus- und Wei­ter­bil­dung, ei­ner un­se­rer För­der­schwer­punk­te. In der Or­dens­aus­bil­dung hal­fen wir, The­men wie Ag­gres­si­on, Mob­bing, Ge­sch­lech­t­ers­te­reo­ty­pen, pa­tri­ar­cha­li­sche Struk­tu­ren, se­xu­el­le Ge­walt und Miss­brauch zu ver­an­kern. So kön­nen Or­dens­schwes­tern als Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren für al­le Frau­en ei­nen Be­wusst­s­eins­wan­del in ih­ren Ge­sell­schaf­ten und Orts­kir­chen vor­an­brin­gen. Künf­tig wer­den wir zu­sätz­lich ih­re ju­ris­ti­schen Kom­pe­ten­zen in die­sem Be­reich för­dern. Das Mis­si­ons­wis­sen­schaft­li­che In­sti­tut (MWI) mis­sio un­ter­stützt Or­dens­frau­en, die Kir­chen­recht stu­die­ren, um so die Rech­te der Or­dens­frau­en in den Diöze­sen bes­ser ver­t­re­ten zu kön­nen. Nicht zu­letzt muss die Pries­ter­aus­bil­dung in un­se­ren Part­ner­län­dern ver­bes­sert wer­den. Zwar kön­nen wir nicht un­mit­tel­bar auf das Han­deln der Ver­ant­wort­li­chen vor Ort ein­wir­ken, aber in der Zu­sam­men­ar­beit mit Diöze­sen und Pries­ter­se­mi­na­ren die Ver­ant­wort­li­chen sen­si­bi­li­sie­ren, The­men wie Se­xua­li­tät, Kle­ri­ka­lis­mus, Macht­miss­brauch oder pa­tri­ar­cha­le Struk­tu­ren in den Aus­bil­dungs­plan auf­zu­neh­men. Hier ar­bei­ten wir sehr eng mit dem Zen­trum für Kin­des­schutz an der Uni­ver­si­tät Gre­go­ria­na in Rom zu­sam­men, das von dem deut­schen Je­sui­ten, Pa­ter Hans Zoll­ner ge­lei­tet wird.


Pa­ter Hans Zoll­ner, 53, ist Je­suit, Psy­cho­the­ra­peut und Lei­ter des Zen­trums für Kin­der­schutz CCP in Rom

Fo­to: pri­vat

Das The­ma "Se­xu­el­ler Miss­brauch" ist übe­rall an­ge­kom­men

Was er­le­ben Sie auf Ih­ren Rei­sen welt­weit?
Das The­ma ist mitt­ler­wei­le übe­rall an­ge­kom­men, in­zwi­schen wer­de ich auch in Län­der wie Pa­pua-Neu­gui­nea oder Mala­wi ein­ge­la­den, wo bis vor ein, zwei Jah­ren we­der in der Kir­che noch in der Ge­sell­schaft über Se­xua­li­tät, se­xu­el­les Fehl­ver­hal­ten und se­xu­el­len Kin­des­miss­brauch ge­spro­chen wur­de. Es be­steht oft ein gro­ßer Be­darf an In­for­ma­ti­on und Be­fähi­gung, über das schwie­ri­ge The­ma an­ge­mes­sen zu re­den, um ent­sp­re­chend agie­ren zu kön­nen: im Blick auf Be­trof­fe­ne, in der Kon­fron­ta­ti­on der Tä­ter, in der Schu­lung von In­ter­ven­ti­on und von Präv­en­ti­on von Miss­brauch. Das weckt In­ter­es­se an den Pro­gram­men un­se­res Cent­re for Child Pro­tec­ti­on CCP – we­ni­ge Men­schen welt­weit sind kom­pe­tent ge­nug in all dem, was mit „sa­fe­guar­ding“ ge­meint ist.

Gibt es Welt­ge­gen­den, in de­nen Miss­brauch be­son­ders häu­fig ist?
Se­xu­el­ler Miss­brauch kommt übe­rall auf der Welt vor und das in ei­nem Aus­maß, das über un­se­re Vor­stel­lung hin­aus­geht. UNICEF sagt, dass et­wa im Mitt­le­ren Os­ten und in Nord­afri­ka – in groß­t­eils mus­li­mi­schen Län­dern – 84 Mil­lio­nen (!), das heißt 85 Pro­zent Pro­zent al­ler Kin­der und Ju­gend­li­chen un­ter täg­li­cher Ge­walt lei­den, dar­un­ter auch un­ter se­xua­li­sier­ter Ge­walt. Das zu­zu­ge­ben und dar­auf zu rea­gie­ren, ist in vie­len Län­dern noch nicht wir­k­lich mög­lich.

Gibt es ana­log zur Päpst­li­chen Kom­mis­si­on für den Schutz von Min­der­jäh­ri­gen auch ei­ne Kom­mis­si­on, die den Miss­brauch von Or­dens­schwes­tern in den Blick nimmt? Warum wur­de das The­ma so lan­ge tot­ge­schwie­gen?
Bis­her gibt es mei­nes Wis­sens kei­ne sol­che Kom­mis­si­on. Das The­ma kam schon im Jahr 2000 auf, doch da­mals in­ter­es­sier­te sich we­der die kirch­li­che noch die außer­kirch­li­che Öf­f­ent­lich­keit da­für. Of­fen­sicht­lich ist es so – das ha­ben wir in Deut­sch­land in 2010 beim se­xu­el­len Miss­brauch von Min­der­jäh­ri­gen ge­se­hen, das ge­schieht der­zeit in Po­len und in Spa­ni­en –, dass Ta­bu-The­men ir­gend­wann nicht mehr un­ter der De­cke ge­hal­ten wer­den. Der Miss­brauch liegt oft 70, 50, 30 Jah­re zu­rück – warum hat da­mals nie­mand auf­ge­schri­en? Aus heu­ti­ger Sicht ist das nicht nach­voll­zieh­bar.

Wie be­ur­tei­len Sie den An­ti-Miss­brauchs­gip­fel, der im Va­ti­kan statt­ge­fun­den hat?
Das Tref­fen der Bi­sc­hö­fe und Ge­ne­ra­l­obe­ren hat zu­min­dest dies er­reicht: Al­le Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer sind mit ei­nem ver­tief­ten Be­wusst­sein über die Dring­lich­keit des The­mas und die Not­wen­dig­keit, in ih­ren Län­dern et­was zu ve­r­än­dern, nach Hau­se ge­fah­ren. Es gibt kon­k­re­te Maß­nah­men, die von Bi­schofs­kon­fe­ren­zen, Or­den und auch vom Va­ti­kan an­ge­kün­digt und zum Teil schon um­ge­setzt wur­den wie zum Bei­spiel Leit­li­ni­en für den Va­ti­kan-Staat, ei­ne Hand­lungs­an­lei­tung für Bi­sc­hö­fe im Fall von An­schul­di­gun­gen, ei­ne Klär­ung der Re­chen­schaftspf­licht von Bi­sc­hö­fen und Or­dens­obe­ren im Fall von Ver­tu­schung und Nicht-Aus­füh­ren der kirch­li­chen Nor­men.

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