Radikale Gottsucher
Das eremitische Leben gehört zu den ältesten Formen der Nachfolge Christi. Seit einiger Zeit erfährt diese radikale Lebensform eine Wiederbelebung. Doch der Rückzug in die Stille ist keine Abwendung von der Welt – ganz im Gegenteil.
Einsiedler: Immer mehr Menschen widmen ihr Leben ganz der Gottsuche und dem Gebet für die Welt. © Schwarzbach/argus
Eigentlich wollte Schwester Veronika Henkel in die Mission. Sie hatte große Pläne, mitanzupacken, wo die Not am größten ist und den Menschen von Gott zu erzählen. Doch schon in der Vorbereitungsphase auf ihren ersten Einsatz fühlte sie, dass ihre Berufung im Gebetsleben lag. „Ich spürte, dass Gott mich anzog, mich ganz für sich forderte“, erinnert sie sich. „Das war eine regelrechte Berufskrise. Ich wollte doch zu den Menschen.“ Schließlich wechselte sie von den Steyler Missionarinnen in den kontemplativen Karmelorden. „Man kommt dort in ein sehr tiefes Gebetsleben hinein, fällt in die Hände Gottes“, erklärt sie. „Das ist eine ganz intime und ausschließliche Beziehung zu Gott.“ 27 Jahre verbrachte Schwester Veronika bei den Karmelitinnen, doch spürte sie, dass ihr Weg noch tiefer in die Stille und die Einsamkeit führen sollte. Vorübergehend konnte sie das eremitische Leben im Konvent praktizieren. Danach musste sie entscheiden, dauerhaft in die Gemeinschaft zurückzukehren oder die Sicherheit des Klosters zu verlassen, um ihrer Berufung nachkommen zu können. Die Karmelschwester wählte Letzteres, suchte sich eine Unterkunft und Heimarbeit.
Neue Blüte einer alten Lebensform
Dies erforderte viel Mut und Kraft. Bis sie ihre Eremitage im alten Pfarrhaus von Kronenburg beziehen konnte und 2003 im Aachener Dom zur Diözesaneremitin geweiht wurde, galt es unzählige Hürden zu überwinden. Obwohl die 71-Jährige eine kleine Rente bezieht, ist es für sie wie für die meisten Eremiten eine ständige Herausforderung, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zeitweise half sie als Spülkraft in einem Gasthof aus. „Ich muss hier um jede Scheibe Brot ringen, immer aufs Neue.“
In der römisch-katholischen Kirche unterscheidet man zwischen Ordens- und Diözesaneremiten. Prinzipiell ist jedem freigestellt, auch ohne kirchliche Bindung ein eremitisches Leben zu führen. Im Gegensatz zu Ordenseremiten, die ihrer Gemeinschaft angeschlossen bleiben, sind Diözesaneremiten finanziell völlig auf sich gestellt. Die Palette mit dem strengen Gebetsleben vereinbarer Berufe ist begrenzt. Manche Einsiedler verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verzieren von Kerzen, der Herstellung von Devotionalien, mit schriftstellerischer Tätigkeit oder der Pflege von Pilgerstätten. Ihre Einsiedeleien richten sie an den verschiedensten Orten ein. Neben der typischen Klause im Wald oder auf dem Berg, dienen abgelegene Gehöfte, Wallfahrtsstätten, aber auch ungewöhnlichere Unterkünfte, wie ein Bauwagen oder eine Mietwohnung inmitten einer Großstadt, als Eremitagen.
Eremiten gibt es in fast allen Religionen. Bereits im dritten Jahrhundert nach Christus führten frühchristliche Mönche einzeln oder in kleinen Gruppen in den Wüsten Ägyptens und Palästinas ein zurückgezogenes, von Gebet, Askese und Arbeit geprägtes Dasein. Über die Jahrhunderte verschwand diese Lebensform fast völlig, um dann plötzlich wieder aufzublühen. Seit den 1970er-Jahren zeichnet sich auch in Deutschland eine solche Wiederbelebung ab. Diese wird teils auf das Zweite Vatikanische Konzil und eine Revision des Kirchenrechts zurückgeführt. Canon 603 erkennt die eremitische Daseinsform außerhalb eines Ordens, unter der Leitung des Ortsbischofs, an. Diözesaneremiten weihen „ihr Leben dem Lob Gottes und dem Heil der Welt“ durch eine strenge „Trennung von der Welt, in der Stille der Einsamkeit, durch ständiges Beten und Büßen“. Zu diesem Zweck erstellen sie in Absprache mit dem Bischof eine Lebensregel, die ihrer persönlichen Berufung entspricht. Wahlweise können zusätzlich die Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams abgelegt werden.
Radikale Hinwendung zu Christus
Zurzeit leben in Deutschland schätzungsweise 80 Eremiten, davon sind ungefähr 30 Prozent Männer und 70 Prozent Frauen im Alter von 38 bis 76 Jahren. Genaue Zahlen gibt es nicht. Es handelt sich um Diözesan- und Ordenseremiten und einige wenige, nicht institutionell gebundene Einsiedler. Die Renaissance des Einsiedlertums wird als Signal verstanden, dass das geistliche Leben zu verflachen droht und die kirchlichen Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen. „In Zugeständnissen an den Zeitgeist und an die Wünsche einer oft fehlgeleiteten Mehrheit, auch im Ordensleben, sehe ich den eigentlichen Grund, warum heute das Eremitentum weltweit wieder aufblüht“, deutet Schwester Veronika die Lage. „Der Heilige Geist treibt immer mehr Menschen an, das Zeugnis einer radikalen Hinwendung zu Christus zu gehen. Das geht vornehmlich durch das Zeugnis des Einzelnen. Die Gemeinschaften schaffen das heute nicht mehr“, fährt sie fort. „Es ist brennend notwendig, dass solche Menschen existieren und den Glauben wieder fassbar und realisierbar machen. Und das müssen sie als Einzelne exemplarisch vorführen.“
Das Einsiedlerleben mag idyllisch erscheinen, doch ist der eremitische Weg oft beschwerlich, voller Rückschläge und Prüfungen. Eine strenge Gebetsdisziplin bestimmt den Alltag. Das Stundengebet und die Heilige Messe bilden das Rückgrat, komplementiert durch das eigene stille Gebet. Impulse geben die Heilige Schrift und geistliche Literatur. Eremiten suchen Gott ganz radikal und tun dies auch stellvertretend für andere. Sie beten für jene, die dies selber noch nicht oder nicht mehr vermögen, tragen die Nöte ihrer Mitmenschen, der Welt und der Kirche vor Gott. Durch ihre gewählte Lebensform wollen sie Zeugnis ablegen und weniger durch ihr Tun als vielmehr durch ihr Seinwirken. Grundvoraussetzungen für ein eremitisches Leben sind eine starke Gottesbeziehung und ausgeprägte Liebe zum Gebet und zur Stille. Körperliche und seelische Gesundheit sind unabdingbar, um sich der Intensität der Einsamkeit und der ständigen Gottessuche sowie aller damit verbundenen Entbehrungen dauerhaft aussetzen zu können.
„Gott redet dauernd“
Nicht selten müssen sich Einsiedler dem Vorurteil stellen, weltfremd oder menschenscheu zu sein. „Ich erlebe immer wieder, dass Eremiten unterstellt wird, den Schwierigkeiten der Welt auszuweichen und sich einfach in eine fromme Ecke zurückzuziehen“, berichtet Schwester Veronika. Gerne ist sie bereit, anderen vom Gebetsleben zu erzählen. Dieses Angebot wird jedoch kaum wahrgenommen. „Viele können sich nicht vorstellen, dass ein Mensch sich nur dem Gebet und Gott widmet. Das zu erklären, ist eine Mammutarbeit.“ Obwohl das Eremitentum Vorläufer des Ordenslebens ist, sehen sich Gemeinschaften häufig nicht in der Lage, der Berufung Einzelner, eremitisch zu leben, entgegenzukommen. Ordensstrukturen und Nachwuchsprobleme erlauben dies nicht. Die Koexistenz eremitischer und zönobitischer, in Gemeinschaft lebender, Ordensberufungen wird häufig als schwierig wahrgenommen. Der Wunsch nach einer Einsiedlerexistenz wird schnell als Hochmut oder fehlende Anpassungsfähigkeit ausgelegt. Anders bei den Schönstattpatres, deren Gründer, Pater Josef Kentenich, das Potenzial des Eremitentums erkannte und Einsiedeleien ausdrücklich wünschte. Pater Wolfgang Götz bewohnt seit 1988 eine im Wald versteckte Einsiedelei auf dem Schönstattgelände in Vallendar. Trotz der Zurückgezogenheit besteht die Anbindung an die Gemeinschaft fort. Seinen Mitbrüdern steht er als spiritueller Berater zur Seite und nimmt an der Liturgie sowie an Gruppenstunden teil. „Es ist wichtig, eine Rückbindung zu haben“, erklärt der 65-Jährige, „so vermeidet man es, ein Eigenbrödler zu werden, bleibt in lebendigem Kontakt mit der Gemeinschaft und mit der Zeit.“ Als wichtigen Aspekt des reklusen Lebens erachtet er es, die übernatürliche Wirklichkeit, die durch die Welt verborgen wird, wach zu halten. „Es ist ja nicht, dass Gott nicht redet. Gott redet dauernd,wir hören ihn nur nicht.“
Von Marion Weißkirchen
Lesen Sie mehr zum Thema: Eremiten heute - Laieneremit Rolf Zech und Ordenseremit Pater Wolfgang Götz
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