Den gewaltfreien Konflikt wagenUlrike Purrer leitet das Jugendzentrum Centro Afro in Tumaco, dem gefährlichsten Landkreis Kolumbiens.Sie teilt den Alltag der Menschen, die unter Gewalt und Perspektivlosigkeit leiden. Im kontinente-Interview spricht sie über wirksame Friedensarbeit und blickt kritisch auf die Rolle des kolumbianischen Klerus. |
Frau Purrer, in welchem Kontext arbeiten Sie?
Tumaco ist der Landkreis Kolumbiens mit der höchsten Mordrate, ein Hotspot von Drogenproduktion und Drogenhandel. Die Infrastruktur ist marode, 85 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. Es gibt keine Perspektiven für die Jugend. Zwar unterzeichnete die kolumbianische Regierung bereits 2016 einen Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla, doch hier in Tumaco und an der gesamten kolumbianischen Pazifikküste hat die Gewalt danach eher zugenommen, da nach Abzug der FARC ein Machtvakuum entstand, das der Staat nicht füllen konnte. Stattdessen sind neue bewaffnete Gruppen, FARC-Dissidenten und Drogenkartelle nachgerückt und haben vielerorts die militärische und soziale Kontrolle übernommen.
Schießereien sind bei uns ebenso an der Tagesordnung wie die „unsichtbaren Grenzen“ zwischen den verschiedenen Stadtvierteln, die von unterschiedlichen Gruppen kontrolliert werden und die Bewegungsfreiheit stark einschränken. Viele Menschen haben keine Chance, von der lokalen Land- und/oder Holzwirtschaft und Fischerei würdig zu leben. Deshalb setzen sehr viele Familien auf den Coca-Anbau und den Drogenhandel. Etwa Dreiviertel der Menschen in Tumaco sind Opfer des bewaffneten Konflikts, haben Verwandte ersten Grades durch Gewalt verloren, wurden von ihren Dörfern vertrieben, bedroht, erpresst oder sexuell misshandelt.
Sie führen eine kleine Gemeindebibliothek und einen Lebensmittelkiosk miteinander, um die Grundkosten des Zentrums selbst zu erwirtschaften. Unsere Arbeit lebt vom Ehrenamt und den Ergebnissen geduldiger, unaufdringlicher Ameisenarbeit direkt an der Basis mit den Menschen und ihren vielseitigen Potenzialen.
Mit wem arbeiten Sie zusammen?
Zu unserem Koordinationsteam gehören zwei wunderbare junge Frauen aus unserer Gemeinde. Zudem haben wir es mit den Jahren geschafft, ein größeres Leitungsgremium zu bilden, das aus zehn Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen besteht, die die verschiedenen Gruppen des Jugendzentrums vertreten. Ganz basisdemokratisch planen, organisieren und entscheiden wir miteinander. Das macht den Prozess unheimlich langsam, weil er jeden Tag aufs Neue miteinander definiert, verteidigt und bestritten wird. Aber gerade das macht ihn auch authentisch, glaubwürdig und nachhaltig. Da ich in einem Holzhäuschen direkt im Viertel lebe, bin ich keine Fremde mit definierten Arbeitszeiten, sondern rund um die Uhr vor Ort. Alles, was im „Centro Afro“ geschieht, ist letztlich pastorale Arbeit: missionarische Präsenz im gemeinsam gelebten Alltag.
Wofür steht das Centro Afro?
Das „Centro Afro“ ist ein Ort des Friedens und der Sicherheit für viele. Im Zentrum herrschen andere Spielregeln als auf der Straße. Unsere Überzeugungen sind klar: Nein zu den Waffen, zur Gewalt, zur Korruption, zum Machismus. Nein zu den Drogen. Ja zur Partizipation aller, zum friedlichen Widerstand, zur Mitbestimmung auch der Kleinsten und Schwächsten. Ja zu Frieden und sozialer Gerechtigkeit und zum Umweltschutz.
Das „Centro Afro“ wird als katholisch wahrgenommen und genießt auch deshalb Glaubwürdigkeit und Respekt. Motiviert vom Glauben und im Rahmen christlicher Traditionen können wir Zeichen setzen, wenn etwa eine Prozession am Patronatsfest die „unsichtbaren Grenzen“ bewusst durchkreuzt und somit zum friedlichen Protestmarsch wird. Wir bauen auch jedes Jahr unseren „Campo Santo“ auf, ein besonderer Friedhof bestehend aus fast 100 kleinen Holzkreuzen, die die Namen derjenigen aus unserem Viertel tragen, die ihr Leben durch die Gewalt verloren haben. Etliche solcher Symbolhandlungen prägen unser Kirchenjahr. Was nicht funktioniert: Aktionen oder Organisationen, die von außen kommen, ohne die lokale Bevölkerung einzubeziehen. Ich habe viele Projekte erlebt, die schnell und mit viel Geld aus dem Boden gestampft wurden, aber ebenso schnell auch wieder verschwanden.
Lassen die bewaffneten Gruppen Sie ungestört arbeiten?
Im Zusammenhang mit den Sakramenten finden Begegnungen mit den Mitgliedern der bewaffneten Gruppen statt, etwa beim Taufgespräch. Diese Gespräche unter den schützenden Händen der Kirche machen punktuelle Annäherungen möglich und können Reflexionsprozesse anstoßen. Unsere pastoralen Symbolhandlungen und Friedensaktionen finden nicht wirklich gegen die bewaffneten Akteure statt, sondern indirekt im Alltag mit ihnen. Sie nehmen natürlich nicht an unseren Aktionen teil, lassen sie aber in ihrem Hoheitsgebiet zu, denn sie sind ja keine Fremden, sondern häufig Verwandte von unseren Katechetinnen, Ehrenamtlichen und Jugendlichen aus dem „Centro Afro“. Dieses alltägliche „Miteinander“ scheint mir wichtig, obwohl sie natürlich wissen, dass wir ihre Geschäfte und Gewalt ablehnen und auch öffentlich denunzieren, aber im Alltag kann man sich langsam auch annähern, was auswärtigen Akteuren kaum gelingt. So suchen die UNO, ACNUR, Rotes Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen immer wieder den Kontakt zu uns, weil ihnen selbst diese direkte Beziehung zur Bevölkerung fehlt.
Die katholische Kirche als Ganze hat in Kolumbien eine schwierige Rolle. Da gibt es einerseits die beeindruckende pastorale Friedensarbeit in einigen wenigen Bistümern. Andererseits steht der kolumbianische Klerus nach wie vor allzu gern an der Seite der ökonomischen und politischen Elite, problemlos auch auf der Seite des Militärs. Im Vorfeld des Friedensplebiszits im Herbst 2016, bei dem die Wählerschaft dazu eingeladen war, das zwischen Regierung und FARC-Guerilla ausgehandelte Friedensabkommen anzunehmen oder abzulehnen, hat sich die Bischofskonferenz für eine scheinheilige „neutrale“ Position entschieden.
Die Mehrheit der Bischöfe war gegen diesen Frieden und hat in ihren Diözesen offen für das Nein mobilisiert. Aus meiner Sicht geradezu skandalös. Deshalb denke ich, dass die Kirche als Gesamtinstitution in Kolumbien leider und zurecht nicht den Ruf der Friedensstifterin genießt, aber eben doch viele Pfarreien, Ordensgemeinschaften, Jugendgruppen und auch einzelne Bischöfe gegen die Mehrheitshaltung des Klerus sehr mutige, prophetische Friedensarbeit leisten. Besonders zu erwähnen ist Erzbischof Monsalve aus Cali, der zu einem Friedenspakt aufgerufen hat. Den Titelsong zu dieser großen Kampagne haben die HipHopper aus dem „Centro Afro“ geschrieben.
Was ist die wichtigste Erfahrung, die Sie in Ihrer Friedensarbeit gemacht haben?
Es braucht Menschen, die sich von oben, also von der Regierung her, für den Frieden stark machen, aber ohne eine Akzeptanz des Friedens an der Basis im Alltag der Menschen wird es bei guten Absichten bleiben. Ich glaube fester denn je an langfristige, kleinteilige, integrale Friedensarbeit an der Basis, die – in unserem Fall – die Jugendlichen stark macht und ihnen Alternativen zu einem Leben mit Gewalt aufzeigt. Eine befreiende Theologie und Pädagogik müssen aber auch die Kraft und Ausdauer mitbringen, um Strukturen zu verändern und auf dem Weg dahin gewaltfreie Konflikte zu wagen und auszuhalten, statt sich mit einem billigen Frieden abzufinden, auch in der Kirche. Ich glaube, dass genau das Nachfolge Jesu meint.
Interview: Eva-Maria Werner; Fotos: privat
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Der Film erzählt von Schwester Marie Catherine im Niger, die zur Versöhnung von Muslimen und Christen im ärmsten Land der Welt beiträgt. |
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