Schlummernde Schätze
Allen Unkenrufen zum Trotz: Das Ehrenamt in Deutschland lebt und ist vielfältig. Millionen Menschen engagieren sich gerne – bei der freiwilligen Feuerwehr, den Tafeln, im Sportverein, in Chören oder der Kirche. Sie gestalten mit und bringen ihre Stärken ein, wenn man sie lässt. |
Text: Eva-Maria Werner
Fotos: KNA-Bild; picture alliance (2)
Die Vorgängerin von Elfriede Urmetzer hat fast ein biblisches Alter erreicht, als sie kurz vor ihrem 100. Geburtstag als Austrägerin von kontinente in der Gemeinde St. Mauritius in Mülheim-Kärlich ausscheidet. Sie hält der Zeitschrift die Treue wie die 7335 Menschen, die kontinente unters Volk bringen – meist bis ins hohe Alter. Und auch für Elfriede Urmetzer ist klar: „Ich mache weiter, solange ich kann. Es geht ja alles zurück, eine Schande“, sagt die 86-Jährige, die auch in der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands, im Rosenkranz-Gebetskreis und in vier Chören aktiv ist. Sie schiebt nach: „Keiner will die Zeitschrift mehr austragen, dabei ist es eine schöne Aufgabe. Ich freue mich über die Gespräche mit den Leuten, bleibe in Kontakt.“ Auch der 15-jährige Jakob Schmidt aus Meudt im Westerwald stellt fest, dass nur wenige Gleichaltrige Lust haben, sich wie er zu engagieren: als Messdiener, im Musikverein und in einer Gruppe, die Entwicklungsprojekte in Tansania unterstützt. „Ich bin durch meine Familie da hineingewachsen“, sagt er. „Es macht Spaß, ich kann meine Fähigkeiten einsetzen und Menschen mit ähnlichen Interessen treffen. Schade, dass man die Leute nur noch schwer überzeugen kann, mitzumachen.“
Der Eindruck über nachlassendes Engagement deckt sich jedoch nicht mit der Wirklichkeit. Im Gegenteil: In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl ehrenamtlich Engagierter in Deutschland gestiegen, von 30,9 auf 39,7 Prozent der Bevölkerung, wie der Freiwilligensurvey von 2019 zeigt. Alle fünf Jahre erhebt er Daten zum gesellschaftlichen Engagement. Demnach engagieren sich die meisten Deutschen ab 14 Jahren in Sportvereinen (13,5 Prozent), Kultur- und Musikeinrichtungen, im sozialen Bereich, in Schule und Kindergarten (8,2 Prozent) und im kirchlichen Bereich (6,8 Prozent). Der Einsatz für Umwelt, Tier- und Naturschutz liegt bei 4,1 Prozent, für die Politik bei 2,9 und für die freiwillige Feuerwehr bei 2,7 Prozent. Ohne gesellschaftliches Engagement in der Zivilgesellschaft wären viele Dienstleistungen schlicht nicht bezahlbar, die Gesellschaft sähe anders aus. Der Soziologe und Theologe Michael N. Ebertz erinnert an all die Länder, in denen es nicht möglich ist, sich zu engagieren, weil das Regime es nicht zulässt. Das nehme den Menschen die Chance, sich zubeteiligen und an Veränderungen mitzuwirken. „Je höher der Grad des Engagements in einer Gesellschaft, desto demokratischer ist sie“, sagt der Professor, der bis Ende 2022 an der Universität Freiburg gelehrt hat. Deutschland mit seinem großen Vereinswesen biete viele Möglichkeiten, mitzumachen.
Fragt man Menschen nach ihrer Motivation, sich einzubringen, sagen die meisten: „Es macht Spaß, ich will mitgestalten, Gemeinschaft erleben, Menschen kennen- und neue Fähigkeiten erlernen.“ Die Annahme, Menschen übten ein Ehrenamt vor allem für „Gotteslohn“ und völlig altruistisch aus, stimmt also nicht. Schon der Sozialphilosoph Oswald von Nell-Breuning sagte: „Wo wir anderen einen Dienst erweisen, tun wir das sehr oft nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern weil wir uns selbst etwas davon versprechen.“
„Die Organisation ist das Problem“
Ein „Ehrenamt“ ist laut Definition eine freiwillige, gemeinschaftsbezogene, unentgeltliche Tätigkeit im Rahmen einer Organisation. Wenn es dabei nicht um materiellen Gewinn geht, was ist dann der Lohn? „Zum Beispiel Wertschätzung und Anerkennung“, sagt Ebertz, „eine Bühne für die eigenen Fähigkeiten, die Möglichkeit, sein Netzwerk zu erweitern, neues Wissen zu erwerben, Geselligkeit zu erleben.“ Alle gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte – wie der Einsatz für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter, eine höhere Erwerbsarbeitsquote bei den Frauen, Digitalisierung, bessere Gesundheit im Alter und mehr Bildungschancen – hätten auch Auswirkungen auf das Ehrenamt. Rüstige Rentner etwa ließen den Anteil der älteren Ehrenamtlichen in den vergangenen Jahrzehnten steigen.
Besonders intensiv hat sich Ebertz mit dem Ehrenamt in der katholischen Kirche befasst und findet deutliche Worte: „Nicht die Ehrenamtlichen sind das Problem, sondern die Organisation“, sagt er. „Kirche muss attraktiver werden und sich fragen, was sie tun kann, um neue Menschen zu gewinnen.“ Zwar sehen die Zahlen in manchen Bereichen nicht so schlecht aus: So machen etwa 660 000 junge Menschen beim Bund der Deutschen Katholischen Jugend mit, 360 000 stehen als Messdiener am Altar und 31 350 kümmern sich um katholische öffentliche Büchereien. Aber: Die Gemeinden erreichen nur wenige gesellschaftliche Milieus.
Ebertz hat beobachtet: „Am liebsten will man, dass alles beim Alten bleibt. Man sucht junge Leute für alte Aufgaben, etwa Kuchenverkäufer beim Kirchenkaffee, und ist frustriert, wenn das nicht mehr funktioniert. Aber für neue Leute braucht man auch neue Aufgaben – und muss diese dann auch machen lassen, mit eigenem Budget, ohne ständige Kontrolle.“ Es sei dringend notwendig, von dem „merkwürdigen Gemeinschaftsgedöns“, das in Kirche vorherrsche, abzukommen und mehr in einem „Nebeneinander“ zu denken. „Durch eine Reproduktion von Gleichem durch Gleichgesinnte geschieht nichts Neues“, sagt Ebertz. Eine größere Offenheit für der Kirche fern stehende Milieus, Expertise von außen, attraktive Fortbildungsangebote, die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und eigene Ideen umzusetzen: Das seien Voraussetzungen, um jüngere und andere Zielgruppen zu gewinnen.
Wichtig: eine Kultur des Dankes
Bruder Michael Wies und das Team vom Franziskustreff in Frankfurt machen offenbar vieles richtig. „Wir werden von Ehrenamtlichen nur so überschwemmt“, sagt der Kapuziner. „Sie sehen in der Arbeit für Obdachlose, Wohnungslose und Menschen in Altersarmut einen Sinn, der ihr Leben bereichert. Außerdem erleben sie Wertschätzung und Vertrauen, können ihr Engagement zeitlich so einplanen, dass es in ihren Alltag passt und an Schulungen teilnehmen.“
Die Ehrenamtlichen im Franziskustreff kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Es sind Studenten darunter, aber auch Stewardessen, Staatsanwältinnen, Rentner und Unternehmer. Eine Kultur des Dankes ist bei der Arbeit selbstverständlich. Etwas, das Teilnehmer an Ebertz’ Ehrenamtsstudien im kirchlichen Bereich besonders häufig vermissten. „Ohne die Ehrenamtlichen könnten wir unsere Aufgaben nicht erfüllen“, sagt Bruder Michael. „Ich bin dankbar, welche Kontakte sie mir ermöglichen und was wir voneinander lernen.“
Ein Drittel der deutschen Bevölkerung ist noch nicht ehrenamtlich engagiert, zeigt sich aber auch nicht abgeneigt. „Es liegt so viel brach an Schätzen“, sagt Ebertz. „Die Organisationen haben den Auftrag, diese Schätze zu heben, indem sie die Menschen ansprechen und ihnen eine Plattform bieten, ihr Charisma zu zeigen und zur Entfaltung zu bringen.“ Er ist überzeugt: „Viele warten nur darauf, angesprochen zu werden.“
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