Abenteuer ExerzitienAbstand zum Alltag gewinnen, das eigene Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten betrachten,
die Beziehung zu Gott reflektieren: Geistliche Übungen machen dies möglich.
Sie sind nicht nur für Priester und Ordensleute eine Bereicherung. |
Von Eva-Maria Werner
Den Schalter umzulegen ist nicht ganz ein- fach. Anfangs liefert das Kopfkino noch in schneller Abfolge Gedankensplitter, Bilder und Wortfetzen. Sind die Kinder versorgt? Lässt sich der Konflikt am Arbeitsplatz gut lösen? Die defekte Waschmaschine muss ausgetauscht werden. Und, und, und... Zu der Freude über die geplante Auszeit mischen sich leichte Bedenken: Auf was habe ich mich da eingelassen? Wie es wohl wird?
Doch schon nach wenigen Stunden Gehen im Schweigen wird es im Kopf ruhiger. „Ich laufe mich frei“, sagt ein Mann, der schon häufiger an Wander-Exerzitien teilgenommen hat. Das Gehen fordert den Körper, aber beruhigt den Geist. Exerzitien sind zwar eine Auszeit, aber kein Urlaub. Die geistlichen Übungen sollen dabei helfen, in einer geschützten Umgebung das eigene Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten in Ruhe zu betrachten und die Beziehung zu Gott zu reflektieren. Sie können dabei helfen, Antworten auf zentrale Lebensfragen zu finden und zu einer neuen Tiefe in der Beziehung zu Gott zu kommen. Das kann anstrengend sein.
Denn häufig kommen ungelöste Probleme oder Verletzungen nach oben, die im Alltag verdrängt werden. Entscheidungen, die schon lange verschoben wurden, melden sich mit neuer Dringlichkeit. Hinschauen statt Verdrängen, Verantwortung übernehmen statt Probleme wegschieben – dazu ermuntern Exerzitien. Die Teilnehmer wer- den dabei nicht alleingelassen. Geistliche Begleiter unterstützen sie im Gespräch, teilen ihre Erfahrungen und helfen bei der Deutung von Gedanken und Gefühlen.
Im Gebirge und in der Großstadt
Ein strukturierter Tagesablauf hilft bei der Reise nach innen. Festgelegte Gebets-, Meditations- und Schweigezeiten geben dem Tag seine äußere Form. Die klassischen ignatianischen Einzelexerzitien, die auf den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491-1556) zurückgehen, sind Grundlage vieler Exerzitienformen. Auf der Basis von Schweigen, Gebet und Bibelmeditation sind im Laufe der vergangenen Jahre jedoch eine Vielzahl neuer Formen entstanden. Von Film-, Vortrags-, Wander-, Sport- über Kunst-, Berg- und Online-Exerzitien bis hin zu Straßenexerzitien und Exerzitien für Atheisten, Andersgläubige und Suchende reicht das Spektrum. Auch die Dauer variiert: Von Schnupperkursen für Neueinsteiger, die nur wenige Tage dauern, bis hin zu vier Wochen. Fast allen Exerzitienformen gemeinsam sind längere Schweigezeiten. Die Teilnehmer empfinden das Schweigen in der Regel jedoch nicht als Redeverbot, sondern als willkommene Erlaubnis, sich für eine gewisse Zeit zurückziehen zu können. Es hilft ihnen, die „Antennen auszufahren“, feinfühliger und aufmerksamer zu werden. Das gelingt umso besser, je mehr auf Ablenkung durch Handy, Lektüre und Fernsehen verzichtet wird.
In Ausrichtung und Ziel stehen Exerzitien für viele im Gegensatz zu den Inhalten des persönlichen und gesellschaftlichen Alltags. Denn es geht nicht darum, etwas zu machen oder zu leisten. „Machen“ kann man Gotteserfahrungen nicht. Aber man kann sich öffnen, still werden, hören, aufmerksam werden. Und sich so darin üben, „Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden“, wie Ignatius von Loyola es formuliert hat.
Manchen gelingt das besonders gut beim Unterwegssein in der Natur. Anderen im Gespräch mit dem geistlichen Begleiter. Wieder anderen beim Musizieren oder Joggen. Ausgehend von der Überzeugung, dass Gott vor allem bei den Ausgestoßenen, Hungrigen, Fremden und Kranken zu finden sei, hat Jesuit Christian Herwartz die „Straßenexerzitien“ entwickelt. Unterwegs in der Großstadt begegnen die Teilnehmer dabei Orten, Situationen und Menschen, die ihnen fremd sind, die sie änstigen, herausfordern oder neugierig machen. Die Auswertung der Erfahrungen fragt schließlich, was all das mit dem eigenen Leben zu tun hat.
Ein guter Draht nach oben
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussieht: Exerzitien sind ein Abenteuer. Und man braucht von Berufs wegen keinen besonderen „Draht zu Gott“, um sich darauf einzulassen. Nicht nur für Priester und Ordensleute sind sie eine Bereicherung, sondern auch für all jene, die gerne tiefer in Kontakt zum eigenen Leben und zu Gott treten möchten. Manch einer hat dadurch sogar (wieder) zum Glauben gefunden.
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