Sterben für die Freiheit Tibets
Seit einem Jahr halten Selbstverbrennungen in Tibet die Weltöffentlichkeit in Atem. Bis Mitte März haben 30 Tibeter den freiwilligen Feuertod gesucht, um gegen die chinesische Unterdrückung zu protestieren; allein 18 seit Jahresbeginn.
Protest: Ein Tibeter demonstriert gegen China. © Jo Yong hak/Reuters
Die meisten von ihnen sind Mönche und Nonnen, darunter auch ein bekannter Geistlicher, der 40-jährige Sopa Rinpoche aus dem Kloster Nyamo im Nordosten Tibets. Sein Tod löste weit verbreitete Proteste aus. Aber auch Laien wählen diese Form des radikalen Protestes, so die 32-jährige Rinchen, eine Witwe und Mutter von vier Kindern. Ihr jüngstes Kind ist erst wenige Monate alt. Alle haben noch im Sterben Freiheit für Tibet sowie die Rückkehr des Dalai Lama gefordert. Den spärlichen Informationen zufolge sollen vier von ihnen die Selbstverbrennung schwer verletzt überlebt haben. Sie wurden von Sicherheitskräften an unbekannte Orte gebracht.
Die Proteste begannen am 16. März 2011, als sich der 19-jährige Mönch Phuntsok aus dem Kloster Kirti im Südosten öffentlich selbst verbrannte. Die chinesischen Behörden riegelten daraufhin das Kloster, das eines der Zentren des Aufstands von 2008 gewesen war, für Wochen von der Außenwelt ab und verschleppten 300 Mönche zu Umerziehungsmaßnahmen.
Peking versucht mit einer Doppelstrategie, die Situation unter Kontrolle zu bekommen: Auf der einen Seite soll die tibetische Bevölkerung durch wirtschaftliche Verlockungen gewonnen werden. Die Regierung pumpt enorme Devisen in die unfreiwillige Provinz. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der umfassenden Industrialisierung der städtischen Zentren. Gleichzeitig wird die traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweise der tibetischen Nomaden immer mehr zurückgedrängt. Tibet soll auch wirtschaftlich vollständig in die Volksrepublik integriert werden. Dem Weißbuch Tibet zufolge, in dem die offiziellen Entwicklungszahlen veröffentlicht werden, betrug das Jahreseinkommen der tibetischen Bauern und Hirten 2010 mehr als 4100 Yuan (500 Euro) und das Einkommen der Stadteinwohner knapp 15 000 Yuan (1800 Euro). Seit 2002 verzeichne das Einkommen jährlich zweistellige Wachstumsraten. Übersehen wird dabei allerdings, dass eine immer größere Zahl von Chinesen nach Tibet zieht. Die Hauptstadt Lhasa mit ihren etwa 500 000 Einwohnern ist schon jetzt eine weitgehend chinesische Stadt. Die Chinesen stellen über 80 Prozent der Bevölkerung. Im historischen Tibet, das größer ist als die von China anerkannte Autonome Region, leben neben sechs Millionen Tibetern vermutlich acht bis zehn Millionen Chinesen. Mit der Fertigstellung der Eisenbahnlinie von China im Jahr 2006 hat die interne Migrationsbewegung einen erheblichen Aufschwung genommen. Auch das ist ein wesentlicher Grund für die internen Spannungen, denn die Tibeter fühlen sich an den Rand gedrängt.
Klerus als Hort des Widerstandes
Auf der anderen Seite ist der Klerus extremer Repression unterworfen, denn er gilt als Hort des Widerstands. Mönche und Nonnen müssen im Zuge von Umerziehungsmaß- nahmen den Dalai Lama als „separatistische Schlange“ diffamieren, die das Ziel verfolge, das Vaterland zu spalten. Jede Weigerung wird mit Haft und Folter geahndet. Doch mit ihren Maßnahmen gelingt es der Regierung nicht, einen Keil zwischen Klerus und Laien zu treiben. Die Solidarität der Bevölkerung mit den Mönchen und Nonnen ist groß. Als das Kloster Kirti nach der ersten Selbstverbrennung von der Außenwelt abgeriegelt worden war, protestierten spontan hunderte Menschen bei der lokalen Polizei und erklärten: „Wenn die Mönche eingesperrt werden, dann werden wir sie beschützen, selbst wenn wir damit unser Leben riskieren.“ Um sie einzuschüchtern, erklärte der Polizeichef höhnisch, er lege eine Liste aus. Jeder, der sein Leben für die Mönche geben wolle, müsse sich dort eintragen. Als sich daraufhin eine unüberschaubare Menschenmenge einfand, um sich in die Liste einzutragen, zog die Polizei sie rasch zurück.
Radikales Tötungsverbot
Die ganze Tragik des Protestes wird auch dadurch deutlich, dass der Buddhismus Gewalt nicht einfach nur ablehnt. Es gibt kaum eine Religion, die ein so radikales Tötungsverbot kennt, wie die Lehre des Erleuchteten. Das schließt die eigene Person mit ein. Der Dalai Lama lehnt zum Beispiel schon einen Hungerstreik ab, weil er darin „Gewalt gegen sich selbst“ sieht. Der Buddhismus basiert auf der Karma-Lehre, der Lehre von Ursache und Wirkung. Somit sind es die Handlungen in der Gegenwart, die das zukünftige Schicksal bestimmen. Wer also Hand an sich legt, begeht nicht nur eine Sünde, die – nach christlichem Verständnis – durch Buße und die Gnade Gottes verziehen werden kann, sondern schafft selbst die Voraussetzung für eine leidvolle Zukunft, die unabwendbar ist, denn das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt immer und kann nicht übergangen werden.
Ende Februar äußerte sich mit Premierminister Wen Jiabao erstmals ein chinesischer Spitzenfunktionär zu den Selbstverbrennungen. Daran lässt sich ermessen, welche Bedeutung die Regierung den Protesten gibt. Wen erklärte, die Selbstverbrennungen gingen „auf eine kleine Gruppe von Mönchen zurück“. Verantwortlich sei der Dalai Lama. Er stifte die Menschen zu „Gewalt und getarntem Terrorismus“ an. Gleichzeitig hob der Premierminister hervor, die Regierung „respektiere und schütze die Umwelt, die traditionelle Kultur sowie die Religionsfreiheit in Tibet“. Tibet sei ein „untrennbarer Teil Chinas“ und die Regierung unternehme große Anstrengungen, das Land zu entwickeln. Und er betonte sogar: „Unsere tibetischen Landsleute sind ein wichtiger Teil der großen Familie der ethnischen Gruppen“. Gleichzeitig kündigten die chinesischen Behörden jedoch an, sie würden die patriotischen Umerziehungskampagnen in den Klöstern intensivieren. Damit gossen sie weiter Öl ins Feuer und eine Entspannung der Situation ist nicht in Sicht.
Die dramatischen Ereignisse beschäftigen inzwischen die internationale Politik. Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland hat die chinesische Regierung aufgefordert, „ihre Politik in den tibetischen Gebieten so zu gestalten, dass die bestehenden Spannungen abgebaut werden“. Dazu sei der Schutz der einzigartigen Kultur der Tibeter einschließlich ihrer religiösen Traditionen unabdingbar. Die Selbstverbrennungen betrachtet das Auswärtige Amt als „Ausdruck einer religiösen Verzweiflung und einer anhaltend tiefen Unzufriedenheit in Teilen der tibetischen Bevölkerung mit China." Auch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika äußerte sich ähnlich besorgt. Peking verwahrt sich jedoch gegen die „Einmischung in innere Angelegenheiten.“
Von Klemens Ludwig
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