In sicherer Obhut: Mit Hilfe von Schwester Andrea versucht Helen einen Neubeginn in Deutschland. Foto: privat |
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„Hier habe ich keine Angst mehr“
Flucht aus Eritrea
Mit ihrer kleinen Tochter ist Helen die Flucht über Libyen und Lampedusa nach Deutschland gelungen: Ihren Mann und ihre beiden anderen Kinder musste sie in Eritrea zurücklassen. Unter der Bedingung, sie unerkannt zu lassen, hat sie kontinente ihre Fluchtgeschichte erzählt.
Die Luft ist stickig in der Asylbewerberunterkunft. Küchendunst mischt sich mit der Feuchtigkeit, die von den Wäscheständern in den Zimmern aufsteigt. Neun Bewohner aus fünf Nationen leben hier Tür an Tür und teilen sich Küche, Dusche und zwei Toiletten. Im Seitenflügel hat Schwester Andrea ihr Büro.
Auf dem Weg dorthin wird sie von den Bewohnern herzlich begrüßt. Manche wollen ihr Briefe zeigen – amtliche Schreiben, die sie nicht verstehen. Schwester Andrea muss sie vertrösten. Heute ist sie mit Helen verabredet. Die Afrikanerin sitzt auf dem Bett und hat ihre Tochter Lula auf dem Arm. Das fünf Monate alte Mädchen lächelt die Ordensfrau und den Übersetzer an. Ohne ihn wäre eine Verständigung nicht möglich. Helen spricht nur die Tigrinya-Sprache. Schwester Andrea vermittelte ihr einen Deutschkurs, aber die Vokabeln reichen noch nicht für ein Gespräch. Die junge Frau ist Mitte 20. Im August erreichte sie mit ihrer Tochter Deutschland und beantragte Asyl. Hier, im kargen Zimmer mit Bett, Tisch und Stuhl, endete ihre Flucht. „Ich möchte bleiben, eine Schule besuchen. Ich hoffe, dass mein Mann auch kommen kann“, lässt sie übersetzen. Eine vage Hoffnung, denn mit seinem Verschwinden fing alles an. Bis heute weiß Helen nicht, wo er ist – sie vermutet ihn im Gefängnis. Tochter und Sohn musste sie bei ihrer Mutter in Eritrea zurücklassen.
In dem Land oberhalb des Horns von Afrika herrscht eine brutale Diktatur. Vor gut 20 Jahren erkämpfte Eritrea die Unabhängigkeit von Äthiopien. Doch die Freiheit wich neuer Unterdrückung. Im Einparteienstaat werden Oppositionelle gefoltert, Kritiker und Journalisten eingesperrt. Amnesty International prangert das Regime wegen systematischer Unterdrückung seiner Bürger an. Zu Hunderttausenden fliehen sie. Einer der häufigsten Gründe ist der erzwungene, zeitlich unbegrenzte und brutale Militärdienst. Helens Mann war Student, als er sich seiner Einberufung entzog. „Die Soldaten durchsuchten mehrfach unser Haus, und ich hatte Angst, sie würden auch mich mitnehmen“, schildert Helen die Situation vor ihrer Flucht. Mit ihrer Tochter Lula schwanger, lief sie acht Tage lang zu Fuß bis in den Sudan. Von dort gelangte sie nach Libyen und musste zwischendurch immer wieder Geld bezahlen, um weiter zu kommen. In Ajdabiya schien ihre Flucht ein tragisches Ende zu nehmen. Sie landete mit Hunderten anderer Flüchtlinge im Gefängnis.
Glück im Unglück
Sechs Monate musste sie dort bleiben. „Es gab kaum etwas zu essen“, erinnert sich Helen. Die Menschenrechtsorganisa tion „Pro Asyl“ hat das „Haftregime“ in Libyen, wo die Gefangenen Folter und Willkür ausgesetzt sind, mehrfach angeprangert. Mit dem Ziel, die Einwanderung von Flüchtlingen zu unterbinden, nehme Europa Menschenrechtsverletzungen gegenüber in Libyen inhaftierten Flüchtlingen „billigend in Kauf“, meint „Pro Asyl“. Helen hat relatives Glück. Als die Geburt näher kommt, bringt man sie nach Tripolis, wo sie ihr Kind zur Welt bringen soll. Lula wird als gesundes Mädchen geboren. Zwei Wochen später findet sich Helen auf einem der überfüllten Boote Richtung Lampedusa wieder, der rund 290 Kilometer vor dem libyschen Festland gelegenen italienischen Insel. Fünf Tage ist sie mit dem Baby auf dem Meer, als die Küstenwache die Flüchtlinge an Bord nimmt. Mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm geht es über Sizilien und Rom nach Deutschland.
„Ich wollte hierher“, sagt Helen. Eine entfernte Verwandte lebt in Frankfurt. Das Wichtigste für sie ist jetzt aber: „Ich fühle mich hier sicher und habe keine Angst mehr.“ Bald wird sie die Asylbewerberunterkunft verlassen und in eine Wohnung umziehen können. Zur Zeit fehlen ihr dafür aber noch Möbel. Schwester Andrea wird ihr bei der Suche helfen.
Von Michael Bodin
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