Reisewarnung für KatarFußball, Geld und Menschenrechte: An der umstrittenen Weltmeisterschaft im Emirat Katar kommt
in der Vorweihnachtszeit kaum jemand vorbei. Zwischen Kicker-Fieber, Kritik und Boykott-Aufrufen gibt es Hinweise,
dass neben den Bauarbeitern besonders die Arbeitsmigrantinnen in Gefahr sind. |
Text: Jörg Nowak
Foto: picture alliance/EPA/Thekkayil
Etwas ist faul im Staate Katar, wenn Großbritannien und Deutschland offizielle Reisewarnungen für das Austragungsland der Fußball-Weltmeisterschaft aussprechen – besonders im Hinblick auf Frauen. Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland warnt Reisende davor, dass es im Extremfall „bei Anzeige einer Vergewaltigung zur strafrechtlichen Verfolgung des Opfers wegen ‚außerehelichen Geschlechtsverkehrs‘ kommen kann“.
Dabei schreckt die Justiz in Katar nicht davor zurück, sogar eine Mitarbeiterin des Organisationskomitees der Fußballweltmeisterschaft anzuklagen. Die gebürtige Mexikanerin Paola Schietekat hatte sich in Katar verzweifelt an die Polizei gewandt und berichtet, dass sie vergewaltigt wurde. Der Beschuldigte war schnell ausfindig gemacht und behauptete, sein Opfer hätte freiwillig gehandelt. Darauf wurde Schietekat im Frühjahr 2022 nach der Scharia, dem islamischen Recht, das in Katar Grundlage der Gesetzgebung ist, wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs angeklagt. Um der Strafe zu entgehen, empfahl der Anwalt der 28-Jährigen, sie solle den Vergewaltiger heiraten. Dann würde sie nicht ausgepeitscht und müsse nicht ins Gefängnis. Nur mit viel Glück und dank internationaler Proteste gelang es Schietekat schließlich, in ihre Heimat zurückzukehren. Mexikanische Medien berichteten zwar, die Anklage sei inzwischen fallengelassen worden. Die Signalwirkung des Falls aber ist fatal: Frauen, die Opfer von Missbrauch oder Vergewaltigung werden, geraten möglicherweise erneut in Gefahr, wenn sie diese Verbrechen anzeigen.
6500 tote Bauarbeiter
Seit der Vergabe der WM im Jahr 2010 steht Katar wegen Menschenrechtsverletzungen und lebensgefährlicher Arbeitsbedingungen auf den Stadion-Baustellen in der Kritik. Nach Angaben der britischen Zeitung „The Guardian“ sind in den vergangenen zehn Jahren in Katar 6500 Arbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka gestorben, die unter anderem für den Bau der Stadien eingesetzt wurden. Journalisten und Menschenrechtsorganisationen sehen bei offiziellen Todesursachen wie Herzversagen einen Zusammenhang mit den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen bei Temperaturen von bis zu 50 Grad.
Von lediglich 30 toten Arbeitern sprechen hingegen das WM-Komitee und der Präsident des internationalen Fußballverbands FIFA, Gianni Infantino. Er erklärt, dass diese Menschen bei „anderen Arbeiten gestorben sein könnten. Die FIFA ist nicht die Polizei der Welt“. Auch auf die Situation der Migranten hat er eine spezielle Sicht. „Wenn man jemandem Arbeit gibt, selbst unter schwierigen Bedingungen, gibt man ihm Stolz und Würde.“ Seine Eltern seien italienische Migranten in der Schweiz gewesen, so Infantino, der als Fußballfunktionär jährlich rund 2,7 Millionen Euro verdient.
Fußball-Geldmeisterschaft
In Katar ist jeder sechste Staatsbürger Millionär. Seit der Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren 1971 katapultierte sich der Wüstenstaat dank seiner Öl- und Gasvorkommen in den Club der reichen Länder. Katar hält Anteile an deutschen Unternehmen wie Volkswagen, Deutsche Bank oder Siemens. Mit großen Finanzspritzen mischt das Emirat auch bei europäischen Fußballvereinen mit. Nun leistet sich der islamische Staat die teuerste Weltmeisterschaft seit Erfindung des Lederballs. In Katar selber machen 130 deutsche Unternehmen wie der Baukonzern Hochtief oder der Softwarekonzonzern SAP gewinnbringende Geschäfte.
Außen vor bleiben 90 Prozent der Bevölkerung, die keinen katarischen Pass haben und aus wirtschaftsschwachen Ländern Südostasiens und Afrikas stammen. Sie werden für die niedrigeren Arbeiten angeheuert. Im kleinen Katar stehen rund 173 000 Haushaltshilfen inden Häusern der Reichen zu Diensten. So wie die 22-jährige Jeannie Dizon. Über 7000 Kilometer von Katar entfernt wuchs sie im Norden der Philippinen in einer Wellblechhütte auf. Mit 17 Jahren arbeitete sie als Köchin. Der karge Lohn reichte kaum zum Überleben.
Agenten heuern Migranten an
Dann tauchte in dem entlegenen Dorf, in dem sie lebte, der Agent einer privaten Arbeitsvermittlung aus der Hauptstadt Manila auf. Der Aufwand lohnt sich, denn für jeden Migranten, den sie vermitteln, kassieren die Agenturen hohe Summen.
„Ich unterschrieb einen Arbeitsvertrag für Katar, wo ich als Babysitterin das zweijährige Kind in einer Familie betreuen sollte“, sagt Jeannie Dizon. In Katar angekommen, musste sie sich um sechs Kinder kümmern. „Sogar die älteren Töchter und Söhne gaben mir Befehle.“ Dizon musste waschen, kochen und putzen. Ihre Nächte in einer fensterlosen Abstellkammer waren kurz, weil ihr Arbeitstag oft um 4 Uhr morgens begann.
Als Katar im Jahre 2020 aufgrund des internationalen Drucks eine Arbeitsmarktreform ankündigte, sprach die Internationale Arbeitsorganisationder Vereinten Nationen (ILO) von einem „historischen Schritt“ und lobte das Land für die Einführung eines „diskriminierungsfreien Mindestlohns“. Da Dizon an sieben Tagen pro Woche jeweils 15 Stunden arbeiten musste, nutzte ihr das wenig. Am Ende blieben ihr ein Euro pro Arbeitsstunde in einem Land, wo die Lebenshaltungskosten fast so hoch wie in Deutschland sind.
Sich gegen solche Missstände zur Wehr zu setzen, falle gerade den Migrantinnen schwer, erklärt Elisabeth Keilmann, Sportseelsorgerin der Deutschen Bischofskonferenz. „Problematisch ist insbesondere die Situation weiblicher Hausangestellter, die oft isoliert arbeiten und sich nur schwer gegen ihre Arbeitgeber durchsetzen können.“
Zum Schweigen gezwungen
Neben dem Hungerlohn litt die philippinische Hausangestelle Dizon auch darunter, wie hilflos und gefangen in dem Anwesen der Reichen sie war. An einem Samstagmorgen war sie gerade im Bad und wusch sich, als die Tür aufging. Der Hausherr stand vor ihr und starrte sie an. Dann griff er ihr fest in den Nacken. „Ich bin in der Falle. Alle sind aus dem Haus“, schoss es der Filipina durch den Kopf. Sie schrie, „wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte“, stieß ihn zur Seite und stürmte aus dem Bad.
„Nur weg von hier. Ich will nur noch nach Hause“, sagte sie, als sie im Büroder philippinischen Arbeitsvermittlung in der katarischen Hauptstadt Doha ankam. Dizon musste auf einem Blatt ihre Ausreise schriftlich begründen. Dann wurde sie gebeten, die folgenden Zeilen zu ergänzen: „Hiermit verpflichte ich mich, niemanden von den Vorfällen zu berichten und keine juristischen Forderungen zu stellen.“ Erst als sie diese Erklärung unterschrieben hatte, durfe sie Katar verlassen.

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Hilfe in der Heimat
Hilfe erhalten Frauen wie Jeannie Dizon vom St. John N eumann Migranten-Zentrum in Manila. Der erste Kontakt kommt zumeist über das Internet zustande, wenn bei dem katholischen Mitarbeiter Toby Marvic über Facebook und andere Kanäle Notrufe von Migrantinnen eingehen. Er hat Dizon, die in ihre Wellblechhütte in den Philippinen zurückgekehrt ist, als erster getroffen.
Marvic berichtet seiner Kollegin, Schwester Sophia Cinches: „Sie ist schwer traumatisiert, geht kaum aus dem Haus, weint oft und hat Albträume“. Schwester Sophia ist hier als Seelsorgerin gefragt. Die 72-jährige Steyler Missionarin ist eine gute Zuhörerin, vermittelt Gottvertrauen und Zuversicht. „Teilweise sind es mehr als 400 Frauen, die wir pro Jahr betreuen“, berichtet sie.
Einer der Treffpunkte ist der Gottesdienst für die Migrantinnen in Manila. Dann leisten Schwester Sophia und ihr Team Lebenshilfe bei den kleinen und großen Problemen des Alltags.
Wie heilsam die Begegnungen mit Schwester Sophia sind, hat Dyma Bespejo am eigenen Leib gespürt. „Ich hatte starke Schmerzen und Albträume“ berichtet sie. Als Haushaltshilfe arbeitete sie in mehreren Golfstaaten. Mehrfach wurde sie von ihrem Hausherrn in Saudi-Arabien vergewaltigt, jenem Land, das sich für die Austragung der übernächsten Fußballweltmeisterschaft bewerben will. In Katar entkam sie nur knapp einer verhängnisvollen Falle.
„Ich wurde von der Familie, bei der ich arbeitete, zu einem Arzt geschickt. Er behaupte, ich sei krank und müsse operiert werde. Durch einen Zufall hörte ich einige Tage später, dass der Bruder meines Hausherrn dringend eine Spenderniere benötigt“, berichtet Bespejo aufgelöst, als sie Schwester Sophia ihre fluchtartige Ausreise aus Katar erklärt.
Die Ordensfrau lässt die Gefühle zu. Das gehört zur Therapie. Tränen fließen, Schwester Sophia reicht ein Taschentuch. Nach einer Pause beginnen sie mit Atemübungen, Gebeten und Meditationen. Am Ende des Gesprächs erklärt Bespejo: „Ich spüre, wie die Schmerzen langsam weggehen.“ Sie verabschiedet sich voller Dankbarkeit. „Ich muss meinen Dienst antreten“, sagt sie. Die frühere Hausangestellte arbeitet jetzt bei einer Sicherheitsfirma in Manila und trägt Uniform und Pistole. Sie wirkt wie eine starke Frau.
Boykottaufrufe
Alle diese Menschenrechtsverletzungen sind der Grund, warum die WM in Katar das umstrittenste Turnier aller Zeiten ist. Boykott-Aufrufe gibt es viele, zum Beispiel von dem international renommierte Sportrasenhersteller Hendriks Graszoden. 2006 hatte das niederländische Unternehmen für die WM in Deutschland gearbeitet, aber für Katar liefert es keinen Rasen.
Ein Düsseldorfer Wirt hat an seinem Lokal ein Schild mit der Aufschrift „Kein Katar in meiner Kneipe“ angebracht. Hier werden keine WM -Spiele übertragen. Bierbrauereien, Politiker, Fußball- vereine stimmen mit ein in den Boykott gegen Katar. Ein Blick auf Umfragen unter der Bevölkerung zeigt: Die Mehrheit fordert einen Boykott, will jedoch selber die Fußball-Weltmeisterschaft verfolgen.
Hätte die FIFA nach den ersten Protesten entschieden, die WM von Katar zum Beispiel nach England zu verlegen, wäre das Schicksal der Migrantinnen und Migranten wohl schon längst in Vergessenheit geraten. Denn die Kritik der vergangenen Jahre hat Katar auch dazu gezwungen, Bedingungen zu verbessern, hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beobachtet. „Wir sehen insbesondere auf den direkten WM-Baustellen echte Verbesserungen“, erklärt M itarbeiterin Katja Müller-Fahlbusch. Zugleich jedoch weist sie darauf hin, dass die Arbeit dort nur einen Bruchteil der Arbeitsmigranten betreffe.
Dies lenkt wiederum den Blick auf die Situation der Frauen, denn die Fälle von sexuellen Übergriffen in Katar sind offenbar weit verbreitet, wie die philippinische Organisation Migrante berichtet. Sie habe eine Gruppe von 25 Frauen betreut, die alle von von sexuellen Belästigungen, Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen erzählten, so Connie Bragas-Regalado, die selber vor 30 Jahren als Migrantin in Hongkong ausgebeutet wurde. Insider befürchten, dass in Golfstaaten wie Katar neun von zehn Frauen betroffen sein könnten.
Frauenfeindliche Justiz
Hinzu kommt, dass diese „Rechtsprechung erschreckend frauenfeindlich ist“, kritisiert die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. „Es darf nicht sein, dass die Opfer von Vergewaltigungen vor Gericht gestellt werden und ihnen zynisch ‚außerehelicher Geschlechtsverkehr‘ vorgeworfen wird.“ Die philippinische Ordensfrau und missio-Projektpartnerin Schwester Mary John Mananzan, die sich seit Jahren für Frauenrechte und Migrantinnen engagiert, fordert daher: „Stoppt diese Rechtsprechung. Hebt dieses Gesetz auf.“
Wie realistisch ist dieser Appell in Zeiten der Fußball-Weltmeisterschaft? Bei der Frage, ob in Katar während der Fußball-WM Bier getrunken werden darf, hat das Emirat nach internationalem Druck eingelenkt. Jetzt muss sich zeigen, ob Frauen eine ebenso starke Lobby haben wie die Bierfreunde.
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