Zerreißprobe WanderarbeitIn China ziehen Millionen Menschen vom Land in die großen Städte.
Dort finden sie Ausbildung, Arbeit und neue Perspektiven. In den Dörfern
bleiben die alten Menschen zurück und kümmern sich um die Enkel. |
Von Jobst Rüthers (Text) und Kathrin Harms (Foto)
Noch einmal auf den Arm von Opa, bitte sofort! Verschüchtert blickt der vierjährige Jakob auf die Besucher aus Deutschland und sehnt sich in die Sicherheit seines Großvaters Josef zurück. Der kleine Jakob und der starke Josef sitzen im Schatten der katholischen Kirche von Kongxiaoying, fast jeden Tag führt sie der gemeinsame Spaziergang hier vorbei.
Seine Eltern hat Jakob lange nicht gesehen. Sie sind sogenannte Wanderarbeiter und leben rund 400 Kilometer entfernt von ihrem Kind und kommen nur alle sechs Monate nach Hause, um ihren Sohn und die eigenen Eltern zu besuchen. Sein Sohn sei Bauarbeiter, erzählt Josef. Die Mutter von Jakob bleibe an der Seite ihres Mannes, die Ortswechsel des Mannes zwingen auch sie zu ständig wechselnden Jobs.
Zurück bleibt der Kleine, der mit den Großeltern auf dem Familien-Hof lebt. Josef ist Bauer; obwohl erst 52 Jahre alt, arbeitet er seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren nur noch eingeschränkt. Umso dankbarer ist Josef, sich um seinen Enkel kümmern und damit den Sohn unterstützen zu können. „Mein Sohn kennt nichts anderes als das Leben eines Wanderarbeiters. Seit seinem 17. Lebensjahr zieht er von Baustelle zu Baustelle.“ Das monatliche Gehalt sei mit umgerechnet 500 Euro ausreichend, trotzdem wolle die Frau ebenfalls arbeiten, für gerade mal 250 Euro im Monat. Geheiratet wurde, als er 26 und sie 21 Jahre alt waren. Wenig später wurde Jakob geboren, und als der seinen ersten Geburtstag feierte, haben die Eltern neue Arbeit in der Fremde angenommen. Weil der Bauarbeiter-Sohn nur eine Woche Ferien im Jahr hat, kommen die Eltern zweimal im Jahr für je drei Tage nach Hause. Alle sechs Monate drei Tage, um den Sohn zu sehen und Elternliebe zu zeigen. „Jakob kennt seine Eltern eigentlich nicht richtig, er fragt auch nie nach ihnen“, beschreibt der Großvater die schwierige Eltern-Kind-Beziehung.
Ortswechsel, raus aus dem Dorf Kongxiaoying in die Drei-Millionenstadt Shijiazhuang. Hochhaus reiht sich an Hochhaus, wer den Himmel sehen will, muss den Kopf weit heben. Die Stadt ist in den zurückliegenden Jahrzehnten schnell gewachsen: Zuerst wurden auf politisches Geheiß die Wohntürme errichtet und Infrastruktur geschaffen, mit den Baustellen kamen die Bauarbeiter, und nach den Bauarbeitern kamen die Menschen, die nun in Shijiazhuang leben und arbeiten. Die Bauarbeiter sind mittlerweile weitergezogen, um die nächste Millionenstadt zu errichten.
Der Bauernstaat wird zur Handelsmacht
China, das bevölkerungsreichste Land der Erde, hat eine konkrete Vorstellung davon, wie es 1,4 Milliarden Menschen ernähren und beschäftigen will. Der ehemalige Bauernstaat, der bis vor 30 Jahren noch periodisch Hungersnöte kannte, hat sich zum Ziel gesetzt, eine führende Industrie- und Handelsnation zu werden und den Menschen Arbeit, Lohn und Wohnung in jungen Städten zu geben. In einem atemlosen Modernisierungsprogramm wurden innerhalb weniger Jahrzehnte Millionenstädte errichtet, Verkehrsadern gelegt, Kraftwerke gebaut und Arbeitsplätze geschaffen. Jetzt zählt China zu den größten Wirtschaftsmächten der Welt. Eine Folge des Umbaus von der Agrar- zur Industrienation: Heute leben rund 270 Millionen Menschen aus den ländlichen Regionen als Wanderarbeiter in den Städten, das ist immerhin ein Fünftel der Bevölkerung. Das Durchschnittseinkommen der Wanderarbeiter ist viermal so hoch wie das eines Landarbeiters, und auch darüber hinaus bietet das Leben in der Stadt viele Verlockungen. Der schnelle Wandel birgt auch zahlreiche Probleme und große Herausforderungen.
Priester John Baptist Zhang Shijiang vom katholischen Medienzentrum Faith Press und dem Sozialzentrum Jinde Charities in Shijiazhuang meint: „Die Menschen ziehen massenhaft aus den Dörfern in die Städte. Heute gibt es in China mehr Stadtbewohner als Landbevölkerung. Und das hat zur Folge, dass die Großfamilie ausstirbt“, beschreibt der Priester die soziale Verwerfung. „Die Jungen gehen weg, in den Dörfern bleiben die Alten zurück und kümmern sich um ihre Enkel. Aber es ist keiner da, der sich um die Alten sorgt.“ Die Veränderungen stellen auch die Kirche vor große Herausforderungen, so John Zhang: „Die Dorf-Pfarreien sterben aus, dafür wachsen die christlichen Gemeinden in den Städten. Dort suchen die Menschen soziale Kontakte und sinnvolle Inhalte neben ihrem Arbeitsleben.“ So berichtet der Priester, dass vielerorts kleine Gruppen entstanden sind, in denen Arbeitsmigranten und Wanderarbeiter sich treffen, ihre Einsamkeit durchbrechen, Freundschaften schließen, sich sozial engagieren und ihren Glauben teilen.
Ning Tian ist Leiter einer solchen Gruppe in Shijiazhuang. Die erfolgreiche Arbeit als Unternehmer und Gemüsehändler hat ihn aus dem Süden in den Norden Chinas geführt. Ning Tian ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. In seiner Herkunftsfamilie – seine Eltern sind Analphabeten – wurde er religiös erzogen, später jedoch hatte er nur seine Karriere und den persönlichen Vorteil im Sinn. „Über meine Frau habe ich in die Kirche zurückgefunden. Gemeinsam haben wir eine christliche Gemeinschaft gegründet, zu der auch viele Wanderarbeiter gehören. Unsere Gruppe gibt Heimat und will sich sozial engagieren.“
Entbehrungsreiche Jahre in der Fremde
Zum Kreis um Ning Tian gehört der 62-jährige Wu Weishu. Er stammt aus einem Dorf in den Bergen, die Eltern waren arm und sind früh gestorben. Wu Weishu heiratet in jungen Jahren und bekommt mit seiner Frau drei Kinder. Gemeinsam beschließen sie, dass er alleine in die Stadt zieht, um dort nach Arbeit und neuen Perspektiven für die ganze Familie zu suchen. Schnell findet er eine Stelle als Koch in einem Restaurant, wenig später kommt seine Frau nach, allerdings ohne Kinder. Die bleiben auf dem Land, um dort die Schule zu besuchen. Es folgen entbehrungsreiche Jahre, die Familie leidet unter der Trennung, der Mann verliert zuerst seine Arbeitsstelle, später dann die gemietete Wohnung. Zerrinnt der kleine Wohlstand, den das Ehepaar sich unter Mühen und dem Verzicht der Kindererziehung erarbeitet hat, haben sie die falschen Prioritäten gesetzt?
Das Ehepaar wagt einen Neuanfang in der Stadt. Sie eröffnen einen Imbissstand, haben Erfolg und kaufen sich eine eigene Wohnung. Sie kommen in Kontakt mit Christen und beginnen, sich für religiöse Fragen zu interessieren. Das Ehepaar lässt sich und die Kinder katholisch taufen. „Ich bin sehr dankbar für das, was passiert ist“, zieht Wu Weishu eine positive Lebensbilanz.
Zufrieden mit seinem Leben ist auch Wang Wei. Er und seine Frau Bai Jie haben sich in Shijiazhuang kennen- und liebengelernt. 14 Jahre ist das her, es folgte die Hochzeit und vor zehn Jahren wurde die Tochter geboren. „Ich komme aus einem abgelegenen Dorf, dort hatte ich keine Perspektive. Deshalb bin ich in diese Stadt gegangen und habe Arbeit bei einer Baufirma gefunden“, erzählt Wang Wei. Später dann habe er an der Seite seiner Frau ein neues Leben entdeckt. Jie habe ihn zum Glauben geführt. „Sie hat mich mit in ihre Gemeinde genommen, irgendwann sind wir in eine Gruppe von katholischen Ehepaaren eingetreten. Heute leite ich eine solche Gruppe, weil wir so gemeinsam die Beziehungen von Paaren und Neuankömmlingen in der Großstadt stärken können.“ Gerade junge Leute seien in der großen Stadt mit ihren vielen Reizen und der Anonymität überfordert, viele fänden keine Kontakte und blieben einsam, sagt Jie. Wang Wei sagt, ihm habe die Entdeckung der christlichen Lehre sehr entsprochen – „sie ist ganzheitlich“. Beruflich hat sich Wang Wei mittlerweile verändert, er arbeitet als selbstständiger Trainer und Coach für Firmen.
In sein Heimatdorf, rund 1500 Kilometer entfernt, fährt er zwei- bis dreimal im Jahr, besucht die betagten Eltern und seine ältere Schwester. Er lächelt: „Dadurch, dass ich in die Stadt gegangen bin, bin ich zu Wohlstand, Glaube und meiner Frau gekommen.“ Wang Wei hat es nach eigener Einschätzung zu gutem Einkommen und sozialer Absicherung gebracht. Damit haben er und seine Frau erreicht, was viele Frauen und Männer, die vom Land in die Stadt gehen, nicht schaffen. Denn viele Wanderarbeiter verdingen sich ohne Anstellungsvertrag und ohne Anmeldung bei Krankenkasse und Sozialversicherung.
Konflikte, weil Arbeitsrechte verletzt werden
Die Arbeiterhilfsorganisation „Kleiner Vogel“, die vor allem Wanderarbeiter berät, schätzt, dass bis zu 100 Millionen Arbeiter in Fertigungsbetrieben nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Sozialleistungen erhalten. Immer öfter wird in chinesischen Medien über Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern berichtet, über Proteste und Streiks, weil die sozialen Mindeststandards nicht eingehalten werden. Viele Arbeitsmigranten klagen zudem über schlechte Unterbringung und mangelnde Versorgung. Die überwiegende Zahl der Wanderarbeiter gilt als ungelernt. Ohne Ausbildungsnachweise und Arbeitszeugnisse ziehen sie vom Land in die Stadt und werden dort an Fabriken und Baustellen vermittelt. Die wenigsten haben den Mut und die Sachkenntnis, vom Arbeitgeber einen schriftlichen Vertrag und die Anmeldung bei den Sozialkassen zu fordern. Oft bemerken Wanderarbeiter erst, wenn sie ihren Job wechseln wollen, dass ihre Arbeitgeber nicht in die Sozialkasse eingezahlt haben. Später werden ihnen diese Beiträge zur Rentenversicherung fehlen.
Die katholische Zeitung Xinde – zu Deutsch Glaube – und ihr Leiter John Baptist Zhang Shijiang haben die Auswirkungen der Wanderbewegung aus den Dörfern in die großen Städte erforscht, haben Migrationsströme studiert und dafür viele Interviews geführt. Dabei wurde deutlich, dass es seit der Errichtung der Volksrepublik China im Jahr 1949 zahlreiche große Völkerwanderungen gegeben hat, die vom Staat initiiert wurden, um den Bau von Staudämmen und Kraftwerken für die Energieversorgung des Landes zu ermöglichen. Oder um die Menschen vor wiederkehrenden Naturkatastrophen durch Wasser oder Gebirgsschlag zu schützen. Der Staat unterstützte zudem Menschen, die aus armen und unwirtschaftlichen Regionen wegziehen wollten. Ganze Landstriche wurden menschenleer, weil der Staat die Versorgung seiner Bewohner als aussichtslos ansah. Immer mehr Menschen gingen vom unwirtlichen und gebirgigen Westen in den Osten Chinas. Dort entstanden die Millionenstädte und die Arbeitsplätze. Mit der Migration haben sich soziale Strukturen in den Dörfern aufgelöst – der Zusammenhalt von Alt und Jung, von gesunden und kranken Menschen ist vielerorts nicht mehr gesichert, sagt John Zhang.
Einer, der auch gerne vom Land in die große Stadt gegangen wäre, ist Wang Guanghui. Der 37-Jährige lebt auf der elterlichen Hofanlage in Xingtai. Bis vor wenigen Jahren hat er dort den dementen Vater gepflegt. Heute gilt seine ganze Fürsorge dem neun Jahre jüngeren Bruder. Wang Xuhui ist vom Hals abwärts gelähmt, seit er bei der Arbeit von einem Dach gefallen ist. Jetzt ist er ans Bett gefesselt und hat seit dem Unfall das Haus nicht verlassen.
Konfuzius sagt: Verehre die alten Menschen
Wang Guanghui sieht es als selbstverständlich an, den Bruder zu versorgen. Leicht ist das nicht. So kann er nur selten Besorgungen machen, der Bruder hält das Alleinsein nicht aus. Nach dem Tod der Eltern sind die beiden Brüder auf sich allein gestellt. Ab und zu kann Wang Guanghui einen Gelegenheitsjob annehmen, ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis und die damit verbundene Abwesenheit ist angesichts der Ängste und Pflegebedürftigkeit des Bruders nicht denkbar. Wang Guanghui war verheiratet, aber seine Ehe hat die Fürsorge für den Bruder nicht überlebt.
Die Brüder sind dankbar, wenn Tan Zhongbo zu Besuch kommt. Der Teehändler leitet einen kirchlichen Besuchsdienst, der einsame, alte, kranke und behinderte Menschen in ihren Wohnungen aufsucht. Zumeist haben sie eine Kleinigkeit dabei: Kleidung, Lebensmittel, vielleicht ein paar Eier. Vor allem aber bringen sie Zeit mit und erzählen von der Welt draußen. Sie ersetzen die Kinder und Angehörige, die die Familie verlassen haben, um in den Städten ihr Glück zu suchen.
In China werden die Kinder gelehrt, die Eltern und die Alten zu verehren, so sagt es Konfuzius. Weil immer mehr junge Menschen fern der Familie leben, ist seit 2013 erwachsenen Kindern vorgeschrieben, die Eltern regelmäßig zu besuchen. Eine Verpflichtung, dass Eltern ihre zurückgelassenen Kinder besuchen müssen, gibt es noch nicht.